Auf Dschungelpfaden
Einleitung
Es war ein schmales, in blaues Leinen gebundenes Büchlein, das mir Helge Malchow, seit 2002 Verleger von Kiepenheuer & Witsch, mit auf den Weg gegeben hatte. Der Band war anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Verlages herausgekommen. Er enthielt einen chronologischen Abriss der Verlagsgeschichte und ein Gesamtverzeichnis der anfangs unter dem Namen Verlag Gustav Kiepenheuer und ab 1951 unter Kiepenheuer & Witsch erschienenen Bücher. Ich begann zu blättern. Eine auf den ersten Blick schwer zu überblickende Fülle. Namen, die mir vertraut waren: Joseph Roth, Vicki Baum, Heinrich Böll, Nathalie Sarraute, Fritz René Allemann, René König, Wolfgang Leonhard; andere, die mir wenig oder gar nichts sagten: Kay Cicellis, Vittorio G. Rossi, Hal Koch, Kurt Blaukopf, Leopold Zahn. Eine Gruppe von Nachkriegsautoren, die ich zu finden erwartet hatte, fehlte dagegen: Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Günter Grass, Uwe Johnson, Peter Handke, Martin Walser oder auch die rheinischen Sprachartisten Albrecht Fabri und Jürgen Becker. Warum hatte Witsch sie nicht in seinen Verlag locken können?
Wer in den Dschungel geht, greift zur Machete, um sich seinen Weg zu bahnen. Wer erstmals den literarischen Dschungel eines Verlages durchstreift, bedient sich meist feinerer Werkzeuge. Ich erstellte drei Listen, grob unterteilt nach »Belletristik«, »Fachbüchern« und »Sachbüchern«, und bekam eine erste Ahnung davon, dass ich dem ansteigenden Dschungelpfad wohl folgen musste, um irgendwann eine Anhöhe zu erreichen und von dort klarere Strukturen erkennen zu können: Witschs Bücherland.
Die Belletristik. Ein Machetenhieb trennt Deutschsprachiges von Fremdsprachigem. Vielleicht etwas brachial, weil dadurch auch gemeinsame Traditionen, Motive und Stilmerkmale getrennt werden, aus Gründen der Übersichtlichkeit aber hilfreich. Witsch hat gezielt nach fremdsprachiger Literatur, die während des Nationalsozialismus kaum verfügbar war, gesucht, nach US-Amerikanern, Franzosen, Italienern, Osteuropäern, am Ende sogar nach Lateinamerikanern, als andere deutsche Verleger in deren üppig wuchernder Fantasie noch eher das Investitionsrisiko als eine Chance sehen mochten.
Ebenso wie der fremdsprachigen Literatur galt Witschs Interesse der Literatur der deutschsprachigen Exilanten, deren Bücher daheim gebrannt hatten. Der 1939 mit nicht einmal 45 Jahren in Paris gestorbene Joseph Roth steht hier ganz oben, desgleichen Erich Maria Remarque. Die Rezeptionsgeschichte ihrer Werke macht deutlich, wie stark nationale wenn nicht nationalsozialistische Überzeugungen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in der zur Demokratie gezwungenen ehemaligen »Volksgemeinschaft« noch präsent waren. Witsch zensierte Remarques Roman »Zeit zu leben und Zeit zu sterben« und leugnete die Eingriffe stur und wider besseres Wissen, nachdem man im Ausland darauf aufmerksam geworden war. Und Remarque? Warum hat er die Verfälschung seines Romans hingenommen? Bemerkenswert: Reinhold Neven Du Mont, Witschs Schwiegersohn und nach dessen Tod sein Nachfolger als Verlagsleiter, ließ die politisch motivierten Eingriffe später revidieren.
Eine besondere Sympathie Witschs genossen ein Autor und eine Autorin, die der sogenannten Inneren Emigration zuzurechnen sind. Als »liebsten Andersdenkenden« schätzte Witsch Erich Kästner, eine Anspielung auf die politischen Differenzen zwischen dem eher links orientierten Autor, der mit den Wiederaufrüstungsgegnern sympathisierte, und dem in Adenauers Fahrwasser schippernden Verleger. Erheblich geringer war dagegen die politische Distanz zwischen Witsch und der von ihm hoch verehrten Ricarda Huch. Witsch mühte sich über Jahrzehnte darum, das Werk der Historikerin und Dichterin nach dem Krieg wieder verfügbar zu machen. Als sich der Erfolg seiner Bemühungen schließlich abzeichnete, hatten sich die Texte der Grande Dame längst überlebt und Witsch selbst blieb bloß noch kurze Zeit zu leben. Der erste Band einer umfangreichen Gesamtausgabe erschien 1966, im Jahr vor seinem Tod.
Lässt man den Blick auf der Suche nach jüngeren Autoren der deutschsprachigen Literatur weiter kreisen, muss man lange suchen. Sie springen nicht unmittelbar ins Auge – mit einer Ausnahme: Heinrich Böll. Witsch hat es bedauert, den Kölner nicht als Erster entdeckt zu haben. Aber als er auf ihn aufmerksam gemacht wurde und Böll einen neuen Verlag suchte, ergriff er die Gelegenheit. Eine Freundschaft sei daraus entstanden, so Witsch. Doch es war wohl eher ein Zweckbündnis zum beiderseitigen Nutzen.
Und außer Böll? Der »grantige« Gerhard Zwerenz wird von Witsch nach seiner Flucht aus der DDR an den Verlag gebunden und intensiv betreut. Gedankt hat er es seinem Verleger nicht. Von Heinz von Cramers kurzer Liaison mit dem Verlag blieben zwei wenig bedeutende Bücher zurück. Außerdem aber ein bemerkenswerter Briefwechsel und ein Novum der Literaturgeschichte Nachkriegsdeutschlands: Der Verleger distanzierte sich auf der Umschlagklappe vom Buch seines Autors. Danach war auch von Cramer weg.
Um noch weitere jungdeutsche Hoffnungsträger im Programm von Kiepenheuer & Witsch auszumachen, muss man jetzt schon sehr weit schauen. Der Blick gleitet über den Dschungel hinaus, lässt Böll hinter sich und findet schließlich erneut Halt in einer Naturlandschaft, der der Vulkanismus seinen Stempel aufgedrückt hat. Im äußersten Westen der Republik, in der Eifel, sitzen an einem warmen Sommertag im Juni 1964 mehr als ein Dutzend junge Dichter im Rund eines idyllisch anmutenden Innenhofes; unter ihnen Rudolf Jürgen Bartsch, Rolf Dieter Brinkmann, Tankred Dorst, Günter Herburger, Dieter Kühn, Hermann Moers, Renate Rasp, Günter Seuren. Einer liest vor, die anderen lauschen gespannt oder dösen apathisch in der Sonne. Der Verleger Witsch ist zugegen, seine Lektorin für fremdsprachige Literatur Alexandra von Miquel, der Werbeleiter und spätere März-Verleger Jörg Schröder und auch Heinrich Böll. Organisiert hatte das Treffen Dieter Wellershoff, dem der Verleger nach seiner Anstellung als Wissenschaftslektor kurze Zeit später noch das Lektorat für die junge deutsche Literatur anvertraut hatte. Und Wellershoff erwies sich als kluger Systematiker und Stratege, gewann neue Autoren und weckte unter dem Label »Kölner Schule des Neuen Realismus« das Interesse der Feuilletons. Irritierend: Diejenigen, die durch die am französischen Nouveau Roman orientierte Schule der Wirklichkeit auf den Grund gehen wollten, zelebrierten ihre Suche nach dieser Wirklichkeit ausgerechnet in einem Anwesen, in dem sich ein Vierteljahrhundert zuvor noch Goebbels, Göring und Himmler die Klinke in die Hand gegeben hatten.
Zu halten vermochte der Verlag die hoffnungsvolle Autorenschar nicht. Als Wellershoff begann, eigenen literarischen Ambitionen nachzugehen, und sich damit zum Konkurrenten im gemeinsamen Verlag entwickelte, suchten sie ihr Glück anderswo. Und damit war es für längere Zeit vorbei mit dem kurzen Aufschwung der jüngeren deutschen Literatur im Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Die wissenschaftliche Fachliteratur. Mehr, als man heute denken mag, gab es davon im Programm von Kiepenheuer & Witsch. Sie grob zu sortieren, war bei der Sichtung von der Anhöhe aus ganz einfach. Da gab es einen Bereich mit Wissenschaftstexten, die vor dem Einstieg Dieter Wellershoffs als wissenschaftlicher Lektor Ende der 1950er Jahre ins Programm gekommen waren. Und es gab ein wesentlich ausgedehnteres Gebiet, in dem sich Bücher stapelten, die unter Wellershoffs Leitung erschienen waren. Anfangs hatte sich Witsch bemüht, renommierte Professoren als Betreuer eigener Reihen zu gewinnen, unter ihnen René König, Dolf Sternberger und Alexander Rüstow. Doch die Professoren hatten sich als überbeschäftigte und allzu unstete Kandidaten für herausgeberische Arbeiten erwiesen. Wellershoff dagegen hatte auf jüngere Wissenschaftler gesetzt, die erst am Beginn ihrer Laufbahn standen. Er gewann Jürgen Habermas, Hans-Ulrich Wehler, Gérard Gäfgen, Carl Friedrich Graumann sowie Eberhard Lämmert als Betreuer eigener Fachbereiche und brachte unter ihrer Herausgeberschaft einen neuen Buchtyp auf den Markt der Republik, der seine Wurzeln in den Hochschulen der USA hatte: den Wissenschaftsreader. Viele dieser Bücher wurden außerordentlich erfolgreich – bis schließlich die Verbreitung von Fotokopierern in den 1970er Jahren das Ende des Wissenschaftsbooms bei Kiepenheuer & Witsch einläutete.
Das Sachbuchprogramm. Sein Umfang ist mehr als doppelt so groß wie der des Wissenschaftsprogramms. Es entsprach Witschs Bildungsverständnis, seiner Leserschaft naturwissenschaftliches, philologisches, philosophisches, anthropologisches, medizinisches und psychologisches Basiswissen über die Welt und über den Menschen zur Verfügung zu stellen. Über die Erfolge einzelner Titel kann man heute nur staunen. Nicht nur »Mathematik für alle«, ein mehr als 700 Seiten starker Wälzer des Briten Lancelot Hogben, avancierte bei Kiepenheuer & Witsch zum Bestseller.
Klare und fortschrittliche Konturen erhielt der politische Teil des Sachbuchprogramms ab Beginn der 1960er Jahre durch Carola Stern. Die für den zu Bertelsmann abgewanderten Deutschbalten Berend von Nottbeck als Lektorin angeheuerte ehemalige Kommunistin vollzog einen Bruch mit der antikommunistischen Entlarvungsliteratur der 1950er Jahre, ohne dabei allerdings ost-west-politische Fragestellungen zu vernachlässigen. Bücher, die unter ihrem Lektorat erschienen und Autoren wie Fritz René Allemann, Arnulf Baring, Gerd Ruge, Günther Nollau, Zbigniew K....