BILANZ
Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!
Annette von Droste Hülshoff, Am Turme
Feministisches Possenspiel
Noch heute kommt die Bezeichnung «Feministin» einer Beschimpfung gleich; oft ist sie sogar Ausdruck tiefer Verachtung. Wird eine Politikerin oder eine andere bekannte Prominente gefragt, ob sie wohl eine Feministin sei, kommt die Antwort mit einer derartigen Heftigkeit, dass man meinen könnte, die betreffende Person sei von einer Tarantel gestochen worden. «Um Gottes willen, wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee!» «Mit Feminismus habe ich nichts zu tun», so lauten dann die Antworten und sie werden wie Schüsse aus der Pistole abgefeuert.
Inzwischen ist unter dem Deckmantel des «Feminismus» einiges unterwegs. Bizarres, Schrilles und Vertracktes tummeln sich auf der Je-ka-mi-Bühne, klar, jede kann da mitmachen. Die einst klar umrissen formulierten feministischen Parameter, die da lauten: Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und finanzielle Unabhängigkeit sind beinahe verdunstet oder von exotisch anmutenden Düften vernebelt. Wir haben es mit eigenartigen Bewegungen zu tun, deren Credo zusammengefasst lautet: «Ich mache, was ich will.» Das reicht bis hin zu abenteuerlichen Bemühungen, selbst Frontalangriffe auf die Würde der Frau im Windschatten politischen Kalküls als besonders frauenfreundlich zu postulieren. Da will zum Beispiel eine Kampagne Prostitution als «Beruf wie jeder andere» etablieren – was vor allem die Freier erfreuen dürfte. Auch bei geringem Nachdenken sollte der schwerwiegende Irrtum zu erkennen sein. Wenn eine Frau, die sich über Jahre beruflich dem horizontalen Gewerbe gewidmet hat, die Zeit des Anschaffens strategisch zu nutzen wusste, sich eine Eigentumswohnung anzuschaffen, sie zudem in der Lage war, in eine lukrative Versicherungsrente einzuzahlen, damit sie dann, in die Jahre gekommen, den wohlverdienten Ruhestand genießen kann, könnte die körperliche Ausbeutung wenigstens auf der finanziellen Seite als Gewinn verbucht werden. Aber das Gegenteil ist doch der Fall. Demütigungen und Entwürdigung hinterlassen Spuren – auch in der Seele. Am Ende der beruflichen Laufbahn stehen dann der Gang zum Sozialamt und das Dasein als Dauerpatientin. Die feministische Forderung nach finanzieller Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist damit in keiner Weise erfüllt.
Ein weiteres Beispiel ist der «Verhüllungs-Feminismus», der das Recht auf das Tragen eines Kopftuchs als Recht auf Selbstbestimmung und Schutz beschönigt und vor allem von politisch links stehenden Frauen unterstützt wird. Bis jetzt ist es im westlichen Kulturraum noch keiner Frau mit Kopftuch gelungen, eine politische oder wirtschaftliche Machtposition zu erobern. Obwohl hinlänglich bekannt ist und auch von muslimischer Seite darauf hingewiesen wird, dass das Kopftuch kein Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam, sondern ein Bekenntnis zur patriarchalen Gesellschaftsordnung ist, wird hartnäckig daran festgehalten. Besonders bedauerlich ist, dass sich zukunftsorientierte Frauen freiwillig am rückwärtsgewandten Bild der unterdrückten Frau des 19. Jahrhunderts orientieren. Das mühsam Errungene leichtfertig wieder aufzugeben, mehr noch, die Zeichen der Unterdrückung zu rechtfertigen, ist ein Schlag ins Gesicht der Solidarität. Schließlich geht es um alle Frauen, unabhängig von Nation und Glaubenszugehörigkeit.
Einige aus der intellektuellen Jung-Szene bekämpfen ausgerechnet jene Frau, die am meisten für sie getan hat, mehr noch, sie distanzieren sich von ihr: Alice Schwarzer. Lauthals verkünden sie, die alten Themen seien endgültig passé. Die alten Feministinnen sollen endlich die Klappe halten und abtreten, um den jungen Platz zu machen. Schließlich sei der neue Feminismus ganz anders und verfolge andere Ziele. In der größten Schweizer Sonntagszeitung[12] war in einem Interview mit Anne-Sophie Keller, die als Aushängeschild des neuen Schweizer Feminismus gilt, zu erfahren, um was es geht: Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, finanzielle Unabhängigkeit. Wie bitte? Klingt irgendwie bekannt.
Sich von den Wurzeln abzukoppeln führt in der Regel ins Aus. Familienunternehmen etwa fahren mit schöner Regelmäßigkeit gegen die Wand, wenn es der jungen Generation nicht gelingt, das von den Altvorderen Geleistete in den weiteren Auf- und Ausbau einzubringen. Wir hätten guten Grund, uns auf Alice Schwarzer zu berufen, mehr noch, wir könnten gar stolz darauf sein, dass sich eine Frau über Jahrzehnte mutig für die Rechte der Frau starkgemacht und sich dabei vielen Angriffen ausgesetzt und beherzt die Stirn geboten hat. Als sie bereits auf die Barrikaden stieg, trippelte ich noch in High Heels und aufgeklebten Wimpern herum und hoffte auf männliche Resonanz. Ich verstand ihre Botschaft nicht, hielt mich damals für frei und unabhängig und ging davon aus, die Welt stünde mir offen. Den Rest hat das Leben erledigt. Und erst allmählich dämmerte mir, wie patriarchale Strukturen dafür gesorgt haben, dass weibliche Stärken in beinahe allen Bereichen durch einen systematischen Entwertungsprozess ihre ursprüngliche Kraft eingebüßt haben oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden sind. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen, dass sich auf dieser Basis kein kraftvolles Selbstbewusstsein entwickeln kann.
Die Bildung eines gesunden Selbstbewusstseins hängt weitgehend von der Fähigkeit ab, ein Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Selbstwert entwickeln zu können. Dabei spielt das Umfeld eine große Rolle. Ein Kind erlebt sich und seinen Wert im Spiegel der Resonanz seiner ersten Bezugspersonen. Diese Erfahrungen bilden die Basis. Durch die Reaktion seines erweiterten sozialen Umfeldes lernt es im Lauf des Heranwachsens mehr über seinen Wert. In unserer vorwiegend von Männern dominierten Welt wird Weiblichkeit instrumentalisiert oder funktionalisiert. Das zeigt sich vor allem auch daran, dass weibliches Verhalten nach wie vor damit identifiziert wird, sich möglichst attraktiv zurechtzumachen. Dies wirkt wie eine Gehirnwäsche und führt dazu, dass sich ein heranwachsendes Mädchen als grundsätzlich unwert und nicht richtig fühlt – es sei denn, sie erfülle die in den Medien propagierten Vorgaben.
Wir verfügen noch immer nicht über ein breites Spektrum weiblicher Rollen, in denen sich weibliche Fähigkeiten im vollen Umfang zum Ausdruck bringen lassen. Es fehlt an geeigneten Vorbildern, die einem Mädchen zeigen, wie sich eine Frau ihren eigenen Neigungen und besonderen Begabungen gemäß entwickeln und ausbilden kann. Nach wie vor gibt es zwei als sicher geltende Wege, um es als Frau zu etwas zu bringen: entweder sexuell stimulierend zu agieren oder versorgerische, pflegerische und dienende Funktionen zu übernehmen. Doch damit bleibt der weibliche Lebensentwurf in altbewährten Traditionen und den damit verbundenen Einengungen und Beschneidungen stecken.
Wer also unter mangelndem Selbstbewusstsein oder überdimensioniertem Streben nach Perfektion leidet, ist nicht etwa «falsch gewickelt» oder gar krank. Im Gegenteil: Die betreffende Frau stellt ein hohes Maß an psychischer Gesundheit unter Beweis, indem sie auf krank machende Umstände, die ihr häufig gar nicht die Wahl lassen, auf diese Weise reagiert. Sie hält an ihrem gespürten Selbstwert so gut fest, wie es ihr unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist, statt einfach hinzunehmen, ihren kostbarsten Besitz durch Geringschätzung entwerten zu lassen. Somit sollte das Leiden an mangelndem Selbstbewusstsein als ein durch und durch gesunder Impuls verstanden werden, über den wir uns sogar freuen könnten.
Wenn eine Kaffeemühle nur rattert und keine Bohnen mahlt, lesen wir die Gebrauchsanweisung. Wenn der Computer streikt, holen wir den Informatiker. Wenn wir aber psychisch in Bedrängnis geraten und es uns beinahe nicht mehr möglich ist, unser Leben auch nur einigermaßen zufriedenstellend zu gestalten, gehen wir möglicherweise davon aus, dass es sich um einen individuellen Defekt handelt, der aufgrund unserer schlechten Disposition nicht zu beheben sei.
Ein typisch weibliches Verhaltensmuster ist Selbstbezichtigung. Ohne nachzusehen, ob sich die Messer überhaupt bewegen lassen, machen wir uns den Vorwurf zu eigen, dass keine Bohnen gemahlen werden. Und sollten wir später feststellen, dass die Messer stumpf, blockiert oder womöglich überhaupt...