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Die hohe Kunst des Alterns

Kleine Philosophie des guten Lebens

AutorOtfried Höffe
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783406727481
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Altern will gelernt sein, sagt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe. Umfassend behandelt er auch die ökonomischen, medizinischen, juristischen und sozialen Aspekte des Themas und fragt sehr konkret nach den Voraussetzungen, um in Würde glücklich altern zu können. Das Buch richtet sich unmittelbar an die Betroffenen und behandelt auch die Themen Sterben und Tod. «Was du als Kind nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Älteren zu!» Mit dieser Goldenen Regel formuliert Otfried Höffe eine ebenso einfache wie überzeugende Sozialethik des Alters. Er wendet sich gegen die Übermacht der Ökonomie und die Dominanz negativer Altersbilder. Auf die Drohkulisse der «alternden Gesellschaft» antwortet er mit der Perspektive der «gewonnenen Jahre» und gibt auch praktische Ratschläge wie «die vier L»: Laufen, Lernen, Lieben und Lachen arbeiten der Altersschwäche entgegen und verhelfen nicht nur zu Wohlbefinden, sondern auch zu einem beträchtlichen körperlichen, geistigen, sozialen und emotionalen Kapital. Denn was die Erfahrung lehrt, das hat die Forschung längst bestätigt: dass man die dem Alter entgegenwirkenden Kräfte zu einem erheblichen Teil bei sich und in sich selbst findet.

Otfried Höffe lehrte u. a. in Freiburg/Schweiz, Zürich, Sankt Gallen und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: «Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen» (2016) und «Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne» (2015).

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Leseprobe

1. Erste Annäherung


Das Thema wiedergewinnen


Zu jedem Lebewesen gehört das Altern, das schließlich ins Sterben mündet. Menschen machen hier keine Ausnahme, trotzdem nehmen sie in der Natur eine Sonderstellung ein. Denn sie wissen um das Altern, erleben es in der Jugend an Eltern, Lehrern und Großeltern, später an sich selbst, weshalb sie früher oder später darüber nachdenken.

Altern und Alter sind also für den Menschen biologische Phänomene, die zugleich erlebt und erlitten, bald beschleunigt, bald auch gebremst werden und in jedem Fall ein existentielles Gewicht haben. Da sie die Berufs- und Arbeitswelt mitbetreffen, haben sie ebenso eine wirtschaftliche, weil sie das Gesundheitswesen beeinflussen, sowohl eine politische als auch eine medizinische, pharmazeutische und medizintechnische Seite. Weil ältere Menschen altersgerecht wohnen und barrierefrei in Gebäude und Wohnungen gelangen wollen, hat das Thema zudem eine Architekturseite, schließlich, weil es den Menschen in seinen gesellschaftlichen Beziehungen beeinflusst, eine soziale Seite.

Für all diese Facetten ist eine hohe Kunst des Alters und Alterns, folglich auch eine Theorie der Alterskunst gefordert. Dabei meint «Kunst» keine künstlerische Tätigkeit, sondern ein Können, ein Know-how, das ein Kennen und Wissen, ein Know-that, einbezieht und sowohl rechtliche als auch moralische Verbindlichkeiten nicht ausschließt. Hier wie andernorts beansprucht die Philosophie keine Sonderfähigkeit. Denn jedem Bürger zugänglich, ist sie ihrem Wesen nach ein demokratisches Unterfangen, das sich der allen Menschen gemeinsamen Vernunft bedient und auf eine ebenfalls allen zugängliche Erfahrung zurückgreift. Freilich bringt die Philosophie außer ihrer Fähigkeit zu methodischem Vorgehen auch die Kenntnisse einer an Begriffen, Argumenten und Problembewusstsein reichen Tradition mit. Gegenüber dem Alter reicht diese von Platon und Aristoteles über die Stoa, Cicero und die europäische Moralistik etwa mit Bacon und Schopenhauer bis zu modernen Autoren wie Ernst Bloch.

Es genügt freilich nicht, nur philosophische Zeugnisse zu Rate zu ziehen. Ebenso wichtig sind Texte der Medizingeschichte und Hinweise der religiösen und der säkularen Lebensweisheit. Schließlich darf man weder die bildende Kunst noch die große Literatur vergessen: Die einschlägige Tradition ist weit.

Gegen die Übermacht der Ökonomie


Die zu erneuernde philosophische Alterskunst beginnt mit dem Veto gegen eine heute drohende Engführung: Gesellschaft und Politik überlegen, wie man die Älteren möglichst wirksam zunächst in die Berufs- und Sozialwelt, später in die Welt von Alten- und Pflegeheimen integriert. Oft stillschweigend, nicht selten ausdrücklich nehmen sie dann Nutzen-Kosten-Analysen vor, gerichtet auf die Berufswelt, das Gesundheitswesen, nicht zuletzt die Rentenversicherung. Auf diese Weise wird das Themenfeld nur in funktionaler Hinsicht, zudem nicht selten in ökonomistischer Verkürzung erörtert: Wie bleiben die Menschen möglichst lange in das Erwerbsleben eingebunden? Und: Wie lassen sich die Kosten einer späteren Betreuung minimieren?

Der Einspruch gegen diese thematische Verkürzung setzt bei der Beobachtung eines zunehmend ökonomischen Denkens an, das sich auf eine sogar vierdimensionale Ökonomisierung beläuft:

Als erstes breiten sich ökonomische Absolventen in Tätigkeitsfelder aus, die bislang von Juristen oder einschlägigen Fachleuten geleitet wurden. Und in der Leitung von Pflegeheimen und Krankenhäusern erhalten kaufmännische Direktoren mehr und mehr Gewicht.

Weiterhin wächst die Macht der von Gefühlen entleerten ökonomischen Sprache, deren schlechtes Deutsch ihre Herkunft aus der anglophonen Management-Sprache verrät. Der Ausdruck «Effizienzpakt» steht schönfärberisch für «Kostenstopp» und «redundant machen» für «kündigen». Altersheime und Krankenhäuser gelten als Betriebe, die es nicht mehr mit Heimbewohnern oder Patienten, sondern mit Kunden zu tun haben. Die Angestellten schließlich zählen nicht mehr als (unentbehrliche) Mitarbeiter, sondern als ein so weit wie möglich einzusparender Kostenfaktor.

Noch gravierender als die, polemisch zugespitzt, «ökonomievergiftete» Sprache ist die zugrunde liegende Zunahme der BWL-Mentalität. Sie beginnt bei der Fragmentierung komplexer Aufgaben, setzt sich im Diktat des Rotstifts fort und endet nicht bei der Forderung, «genug Geld einzuspielen» und die «Bettenrendite» zu erhöhen. Am zynischsten manifestiert sich diese Denkweise in der Rede vom «sozialverträglichen Frühableben». Die Folge war vorhersehbar: Der allgegenwärtige Spardruck verschlechtert, was in der Altersheilkunst, der Geriatrie, und in Altersheimen besonders wichtig ist: die persönliche Zuwendung.

Nicht zuletzt wird, viertens, eine so sensible Aufgabe wie die Betreuung von Pflegebedürftigen öffentlich ausgeschrieben, als ob es sich um ein Gewerk für den Bau einer Straße oder eines Bürogebäudes handle.

Diese Beobachtungen sollen keinesfalls Fragen der Wirtschaftlichkeit für belanglos erklären. In seiner meisterhaften Erzählung «Die Nase» lässt zwar der russische Schriftsteller Nikolai Wassiljewitsch Gogol einen Arzt mit Entrüstung sagen, er habe keine finanziellen Interessen. Richtig ist, dass dem Wesen ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit, dem Helfen und Heilen, die dem Geld unterworfene Wirtschaftlichkeit fremd ist. Trotzdem kann sich nur, wer geerbt oder glücklich spekuliert hat, die von Gogol erzählte Entrüstung leisten. Die gewöhnlichen Ärzte und Heimleitungen müssen ein Auskommen suchen; weder die geriatrische Abteilung einer Klinik noch ein Seniorenstift können sich auf Dauer rote Zahlen erlauben.

Schließlich dürfen die Gesamtkosten des Gesundheitswesens nicht beliebig steigen, so dass man eine Knappheit finanzieller und personeller Mittel nie ausschließen kann. Dass deshalb selbst in einem relativ großzügigen Gesundheitswesen wie dem von West- und Nordeuropa etliche Wünsche offen bleiben, erkennt eine philosophische Alterskunst schon wegen des anthropologischen Gesetzes der Knappheit – während die letzte Vorgabe aller Wirtschaft, die Erde, begrenzt ist, sind die menschlichen Begehrlichkeiten unbegrenzt – als unvermeidlich an:

Patienten wünschen sich sofortige Hilfe, müssen in Wirklichkeit aber warten: in der Sprechstunde, auf den Notarzt, auf ein Spenderorgan oder den Operationstermin. Und wenn ein Patient an der Reihe ist, drängt der nächste nach: Die Zuwendungszeit von Ärzten und Pflegepersonal ist in der Regel kürzer, als es sich der Patient, zumal der hochbetagte, wünscht.

Dass Fragen der Wirtschaftlichkeit notwendig sind, rechtfertigt aber nicht deren Übermacht. Gegen die skizzierte Ökonomisierung braucht es eine Gegenmacht, gegen die Kultur der Rentabilität eine Gegenkultur, die dem wirtschaftlichen Denken das Recht auf den Vorrang abstreitet.

Drei philosophische Altersdiskurse


Unsere Gesellschaft gibt ihren Mitgliedern das Recht, in allen Phasen ihrer Biographie, folglich auch im Alter, sich zu entfalten und dabei ein gelungen-glückliches Leben zu suchen. Für dessen notfalls einklagbaren Rahmen hat sie sich sogar auf die Grund- und Menschenrechte und als deren Leitgedanken auf die Menschenwürde verpflichtet. Deshalb braucht man funktionale Betrachtungen – sie mögen im Fall einer gründlichen Erörterung «funktionale Altersdiskurse» heißen – nicht aufzugeben, vor allem nicht, wenn man deren Verkürzung auf das Erwerbsleben entkommt. Allerdings nehmen funktionale Altersdiskurse einen den Betroffenen weithin fremden Blick ein, den man genau deshalb, als Fremdblick, zu relativieren hat. Öffnet man sich daher der Innenansicht der Betroffenen, dem Blickwinkel der Älteren selbst, so treten seitens der Philosophie normative Fragen in den Vordergrund, weshalb philosophische Altersdiskurse vornehmlich zur Ethik gehören.

Für sie hat die Philosophie im Lauf ihrer reichen Geschichte vier Grundmodelle entwickelt: eine Ethik des glücklich-gelungenen Lebens, eine Ethik moralischer Anforderungen, eine Ethik «kollektiven Wohls», nicht zuletzt die Moralkritik. Für jedes dieser Modelle gibt es eine herausragende Gestalt: Für das erste Muster, den Eudaimonismus («Glück» heißt im Griechischen «Eudaimonia»), ist Aristoteles mit seiner Nikomachischen Ethik maßgeblich. Für das zweite Modell, die Pflichtenethik, oft Deontologie, nämlich «Lehre des Schicklichen und Gesollten», genannt, gibt Immanuel Kant mit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das Vorbild ab. Für die Ethik...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch188
Über den Autor188
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Vorwort11
1. Erste Annäherung15
Das Thema wiedergewinnen15
Gegen die Übermacht der Ökonomie16
Drei philosophische Altersdiskurse19
Arist-o-crates: Zur Kooperation von Philosophie und Medizin22
Der Ruf nach medizinischer Ethik25
Zur Gliederung28
2. Wider die Macht negativer Altersbilder31
Bilder statt Stereotype31
Zwei Pole: Alterslob und Altersschelte33
Frühgeschichte35
Griechische Medizin42
Von Francis Bacon zu Pablo Casals43
Ein Blick in die Fremde46
3. «Alternde Gesellschaft» oder «gewonnene Jahre»?51
Zunehmende Lebenserwartung53
Kalendarische Altersgrenzen sind fragwürdig57
Bleibende Frische59
Altersfreundliche Diskurse62
4. Gesellschaftspolitische Aufgaben65
Das sozialethische Leitgebot65
Die Berufswelt ändern66
Eine neue Bildungswelt71
Altersfreundliche Lebensräume71
5. Vorbilder für eine Alterskunst75
Cicero: Eine frühe Altersstudie75
Zwischenspiel: Shakespeare, Goethe und Hegel79
Arthur Schopenhauer: Heiterkeit – in Grau80
Jacob Grimm: Vom Glück des Älterwerdens85
Ernst Bloch: Zeit der Ernte87
Authentisch: Auch im Alter «Ich selbst sein»89
6. In Würde glücklich altern93
Altern will gelernt sein93
Ratschläge der Lebensklugheit: «Die vier L»95
Sozialethische Gebote100
Die Goldene Regel der Altersethik106
Weitere gerontologische Gebote108
Muster eines Lernprozesses109
7. Hochbetagt: Alterskunst in der Geriatrie115
Selbstachtung, Selbstbestimmung und kreatives Altern115
Facettenreiche Hilfe118
Das Alter ist keine Krankheit, die Altersheilkunde eine Disziplin des Lebens119
Wirtschaftlichkeit kontra Ethik122
Ausbildung und Forschung124
Krankenversorgung126
Ein Nachwort zur Demenz129
8. Wenn es zum Sterben kommt 1: Das Lebensende planen?135
Die Sterblichkeit nicht verdrängen135
Zum Beispiel Boëthius' Trost der Philosophie137
Systematische Überlegungen139
Sieben Strategien141
Grundmuster des Sterbens145
Der plötzliche Tod145
Der angekündigte Tod146
Der befürchtete und der zu erwartende Tod150
Zwei abschließende Bemerkungen151
9. Wenn es zum Sterben kommt 2: Um eine Kultur des Abschiednehmens bitten153
Die soziale Aufgabe153
Vier Dimensionen155
Medizin und mehr158
Ein Blick auf die Religionen159
Alterssuizid: Dürfen, sollen Ärzte helfen?162
Sterben lassen168
10. Demokratische Aspekte der Lebens- und Alterskunst173
Literatur179
Personenregister185

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