1. Einblicke
Eine Welt und viele Bilder
Es gibt Wörter, die jeder benutzt und zu verstehen scheint und die deshalb kaum einer Erläuterung bedürfen. Wer hat nicht schon von der oder einer «Welt» gesprochen – von der Welt im Kopf ebenso wie von der Welt im Kochtopf –, ohne sich dabei besondere Gedanken darüber zu machen, was das Wort in diesem wie in jenem Fall bedeutet? Und wer fragt sich noch, was ein Bild ist, wo man doch tagtäglich von einer Flut – vor allem unzähliger zappelnder Fernsehbilder – überschwemmt wird und nach statistischen Schätzungen heute während eines Fußballspiels in einem vollen Stadion mehr Bilder aufgenommen werden als während des ganzen 19. Jahrhunderts? Wobei vermutlich ein einziges Bild aus der alten Zeit mehr Betrachter gefunden hat als die Millionen von heute.
Wer mit dem Begriff der Welt und dem Betrachten von Bildern vertraut ist, dem fällt darüber hinaus die Rede von einem «Weltbild» leicht. Wir können uns Weltbilder sogar in bunter Vielfalt denken und dann munter miteinander vergleichen. Jeder wird mühelos verstehen, was das mechanische Weltbild der Physik mit den dazugehörigen Gesetzen für die Bewegungen von materiellen Körpern meint, und sich wundern, wenn zu erfahren ist, dass dieses Bild angeblich zerstört worden ist. Auch wird jeder unmittelbar erfassen, was Zeitungen in diesen Tagen meinen, wenn sie Terroristen unterstellen, ein «rechtsextremistisches Weltbild» zu propagieren, das Hass auf unschuldige Menschen mit sich bringt. Und jeder Leser begreift sofort, was Patrick Süskind vor Augen oder anderen Sinnesorganen hat, wenn er in seinem Roman «Das Parfum» einen Dufthersteller erleichtert feststellen lässt, dass sein «parfümistisches Weltbild» wieder in Ordnung ist, nachdem er verstanden hat, wie eine wohlgefällige Duftnote zustande gekommen ist. Ein Weltbild zu haben kann einfach eine Sicht der Dinge meinen, die einem allgemein passt oder an besonderer Stelle gelegen kommt, und niemand wird Mühe haben, das eigene Weltbild einmal daraufhin zu prüfen.
Wenn auch jedem das Trio aus den beiden Einsilbern «Welt» und «Bild» und dem Kompositum «Weltbild» schon mehrfach untergekommen ist, so soll hier dennoch der Versuch unternommen werden, die Begriffe etwas genauer zu fassen und sie knapp zu explizieren, ohne sie ausführlich definieren zu wollen. Der Versuch einer Definition wäre eher kontraproduktiv, denn in dem Wort «Definition» steckt das lateinische «finis», also das Ende, wobei damit das Ende des Erkundens gemeint ist, das zu einer abschließenden Festlegung führen soll. Diese zieht tatsächlich eine künstliche Grenze, hinter der nichts weiter von Belang erwartet wird, weshalb sie – außer zur Warnung – gar nicht erst in Betracht kommen soll.
Was die «Welt» angeht, so meint das Wort zum Beispiel den Gegenstand einer Wissenschaft namens Kosmologie, die exotische Objekte wie Schwarze Löcher oder Rote Riesen findet. Es kann aber auch die Erde und die Menschen erfassen, die auf ihr leben, und das kurze Wort kann darüber hinaus ganz allgemein die Gesamtheit der physischen Wirklichkeit benennen, wobei derjenige, der von dieser Welt spricht, keine besondere Einstellung ihr gegenüber vertreten muss.
Was das «Bild» angeht, so fällt sofort auf, dass es zum einen innere und äußere Bilder gibt – man kann sich schließlich sowohl etwas einbilden und vorstellen als auch Fotografien oder Gemälde betrachten – und dass es sich zum Zweiten lohnt, Bilder, die jemand Punkt für Punkt und Strich für Strich auf einer Leinwand zustande gebracht hat, von denen zu unterscheiden, die jemand mit einer Kamera und einem einzigen Druck auf den Auslöser aufgenommen hat. Bilder werden – wie die Welt selbst – mit Augen betrachtet, wobei seit der Romantik bekannt ist, dass es neben den äußeren Sehorganen im Kopf auch ein inneres Augenpaar gibt, mit dem sich das Eigentliche erkennen lässt, das unter der Oberfläche der Erscheinung oder hinter dem Horizont des Sichtbaren steckt und nur in einer Einbildung offengelegt – oder sogar offenbart – werden kann. Das ergibt insgesamt drei Dopplungen, und wahrscheinlich finden sich noch mehr, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit den Bildern zuwenden.
Wichtig ist der Hinweis, dass ein Bild im Normalfall etwas zeigt, was es selbst nicht ist. Das Bild einer Pfeife ist bekanntlich selbst keine Pfeife, wobei Betrachter immer wieder schmunzeln werden, wenn sie das berühmte Bild von René Magritte aus dem Jahre 1929 anschauen, auf dem eine Pfeife zu sehen ist, unter der geschrieben steht: «Dies ist keine Pfeife.» Magritte wird von der Kunstgeschichte als Surrealist gehandelt, was ausdrücken soll, dass die in seinen Bildern gemalten Sachverhalte jenseits der Wirklichkeit anzutreffen sind oder über sie hinausgehen, ohne völlig von der Realität abgelöst zu sein. Übrigens: Das Bild mit der Pfeife trägt den Titel «Der Verrat der Bilder», wobei sich der Autor dieser Zeilen im Scherz die Frage erlaubt, was ihm denn die Bilder verraten. Sie verraten ihm vor allem eines, nämlich dass Wirklichkeit nicht als einfaches Konzept zu verstehen ist, sondern mehr als etwas daherkommt, das ein Forellenkleid trägt und sich dem Betrachter im wechselnden Licht immer wieder anders darstellt.
«Der Verrat der Bilder» von René Magritte, gemalt 1928/29, als die Physik verstanden hatte, dass Atome kein Aussehen haben und Menschen sich kein Bild von ihnen machen können. Wer immer ein Atom malt, muss darunterschreiben: «Das ist kein Atom.» Das Bild von Magritte ist ja auch keine Pfeife, sondern besteht aus Ölfarben auf einer Leinwand (die wiederum aus Atomen besteht). Ebenso gilt für jedes Weltbild: «Das ist nicht die Welt» – sondern nur ein Bild von ihr, das wir selbst erschaffen haben.
Was nun das Kompositum «Weltbild» betrifft, so möchte ich dem Philosophen Martin Heidegger auf seinen keineswegs in die Irre gehenden «Holzwegen» folgen, bei deren Abschreiten und Erwandern er sich im Jahre 1938 nicht zuletzt Gedanken über «Die Zeit des Weltbildes» macht – wobei man meinen könnte, er habe Einsteins Buch «Mein Weltbild» aus dem Jahre 1934 gekannt. Heidegger charakterisiert bei den ersten Schritten auf seinem Weg durch den dichten Wald die Wissenschaft mit dem Hinweis, sie gehöre «zu den wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit». Unter dieser zugleich erfreulichen und großmütigen Vorgabe fragt er «nach dem neuzeitlichen Weltbild», ohne zu verraten, welche naturwissenschaftlichen Einsichten er im Auge hat. Die Chemie etwa lernte damals, radioaktive Elemente herzustellen, und näherte sich durch die Analyse von Vitaminen den Lebensvorgängen. Unabhängig davon beginnen Heideggers philosophische Überlegungen zur Freude mindestens eines Lesers höchst einfach, unmittelbar nachvollziehbar und zudem äußerst sympathisch: «Was ist das – ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt hier Welt? Was meint da Bild? Welt steht hier als Benennung des Seienden im Ganzen. Der Name ist nicht eingeschränkt auf den Kosmos, die Natur. Zur Welt gehört auch die Geschichte.» Im Anschluss fängt der Philosoph an, tiefer zu graben. Er spricht über die «Wechseldurchdringung» von Natur und Geschichte und führt sogar einen «Weltgrund» an, der in «Beziehung zur Welt gedacht wird».[4]
Bevor der Philosoph jetzt allzu sehr ins Grübeln kommt, soll der Gedanke ernst genommen werden, zur Welt gehöre «auch die Geschichte». In diesem Fall haben Weltbilder ebenfalls eine Geschichte, und möglicherweise zeigen Weltbilder die ganze Geschichte, allein schon deshalb, weil die Welt nie etwas anderes getan hat, als sich zu ändern und immer wieder in einem neuen Licht zu zeigen. Das Seiende im Ganzen ist ein dauerhaftes Werden ihrer Teile, wie die neuzeitliche Wissenschaft immer besser zu sagen weiß, weshalb ein Weltbild auch eher als ein Prozess, als ein fortgesetztes Geschehen, als eine unendliche Geschichte zu verstehen ist, eben als eine «Weltbildung». Mit diesem Wort meint man eine Welt und zugleich das fortgesetzte Arbeiten an ihrer Erscheinung.
Zurück zu Heideggers Worten. Er erklärt das Weltbild als «ein Gemälde vom Seienden im Ganzen», was für ihn konkret bedeutet, dass wir damit «die Welt selbst meinen». Diese Wendung gilt es zu beachten: «Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen.» Die Möglichkeit, die Welt als ein Bild zu begreifen, zeichnet die Neuzeit aus. Ihr philosophisches Wesen besteht nämlich darin, «dass überhaupt die Welt zum Bild wird», und damit zeigt in diesem Fall das Bild, was es selbst ist, nämlich die Welt, was einen selbst ins Grübeln bringen kann.[5]
An dieser Stelle erlaubt sich der Verfasser dieser Zeilen, auf einen Gedanken hinzuweisen, der in den 1920er Jahren in der Physik aufgekommen ist, als deren Vertreter dabei waren, die oben erwähnte Umwandlung des Weltbilds ihrer Wissenschaft zu vollziehen. Bei dem Versuch, die Atome und ihre Wirklichkeit zu verstehen, bemerkten die Physiker auf einmal, dass sie gar keine Beschreibung der Natur lieferten, wie sie zuvor immer gedacht hatten. Ihre Physik lieferte vielmehr eine Beschreibung des Wissens, das sie von der Natur hatten. So war es zum Beispiel gar nicht möglich, sich ein Bild von einem Atom zu machen, weil diese Gegebenheiten der Natur überhaupt kein Aussehen erkennen ließen. Die Physiker konnten ein Atom nur als Bild begreifen, also im Modus der Kunst und durch die Form,...