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Auf dem Weg, den niemand kennt

Eine Sterbebegleiterin mit Herz und Humor erzählt

AutorManuela Thoma-Adofo
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641234171
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Ungewöhnliche Begegnungen mit Sterbenden
Menschen bis zum Ende zu begleiten, entschieden für sie da zu sein und ihre manchmal sehr außergewöhnlichen Wünsche, Gedanken und Gefühle ernst zu nehmen, ist der Autorin außerordentlich wichtig. Die Begegnungen mit Sterbenden, die Manuela Thoma-Adofo schildert, sind geprägt von Herzlichkeit, Anteilnahme, einem klaren Blick für die Realität und einer guten Portion Humor.

Manuela Thoma-Adofo, geb. 1967, stürzte in einer Zeit, in der sie jeder für glücklich und erfolgreich an der Seite eines Olympiasiegers hielt, in eine Lebenskrise. Indem sie beherzt und ohne Berührungsängste damit begann, sich um Senioren und Sterbende zu kümmern, wurde diese Krise zum Beginn eines mit Glück und neuem Sinn erfüllten Lebens.

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Leseprobe

Neubeginn und endlich die Ausbildung zur Hospizhelferin


Millennium


Meine Tochter war vor wenigen Wochen zur Welt gekommen. Christa hatte mir als ehemalige Krankenschwester im Kreißsaal im größten Schmerz gut zur Seite stehen können, mein Sohn war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. Mein Mann hatte beschlossen, sein Leben nach seiner sportlichen Laufbahn anders zu verbringen, als ich es mir gewünscht hatte. Natürlich brach für mich eine Welt zusammen, aber heute weiß ich, dass immer eins zum anderen führt und der Spruch: »Für das Scheitern einer Beziehung sind immer zwei verantwortlich«, nicht ganz falsch ist. Zwei Leben, unser beider Leben, änderten sich und drifteten auseinander. Schmerzhaft. Sicher für beide.

Und wie das Leben so spielt, geschah meiner Schwester genau das Gleiche. Angela und ich hatten im selben Jahr geheiratet. Unsere Erstgeborenen kamen nur wenige Monate hintereinander zur Welt und auch das zweite Kind kam nur um Wochen nach meinem zur Welt. Und auch bei ihr entschied sich der Mann für einen alternativen Lebensweg.

Wir setzten uns zusammen und überlegten. Was jetzt? Wir waren zwei junge Mütter, jeweils mit zwei Kindern und eine Aussicht … auf was? Und so beschlossen wir zusammenzuziehen. Im September rückten in Hinterzarten und bei meiner Schwester in Offenburg die Möbelwagen an. Eine Doppelhaushälfte im bayerischen Zorneding sollte unser gemeinsames Zuhause werden. Eine neue Zeit begann. Eine schöne Zeit. Angela sollte sich um die Kinder kümmern, während ich Geld verdiente.

Mir lag im Magen, dass die Vermieter im letzten Moment die Miete noch ein wenig hochgetrieben hatten. »Wir könnten das Haus problemlos auch zu diesem Preis vermieten«, argumentierten sie. Was sollte ich machen? Ich sagte trotzdem zu. Auch die Personenanzahl im Mietvertrag musste ich fest angeben. Ich schrieb »fünf«. Warum auch immer. Wir waren eigentlich zu sechst: zwei Frauen, zwei Vierjährige und zwei Einjährige. Jedenfalls wurde die Miete ein weiteres Mal angepasst. Nach oben natürlich. Ich fand es ein bisschen unangebracht, aber ich wollte keinen Streit.

Das Pflegeheim, in dem ich so viele Stunden verbracht hatte, fehlte mir. Ich arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Ghostwriter für einige Buchprojekte. Außerdem stand ich noch hin und wieder vor der Kamera oder auf einem Laufsteg.

Unsere »Großen« besuchten den gleichen Kindergarten. Die Kleinen blieben daheim. Und ich beschloss, mir Zeit zu lassen in Sachen Hospizhilfe.

Es dauerte aber nur wenige Monate und ich kam mit einer Nachbarin ins Gespräch, die ihren kranken Schwiegervater pflegte und völlig überfordert war.

Ich bot ihr an, auf einen Kaffee vorbeizukommen. Als ich bei ihr in der Küche saß und der alte Herr sie mit schroffer Stimme aus seinem Schlafzimmer rief, verstand ich, warum es ihr so schlecht ging. Luise kümmerte sich um die beiden Kinder, den Haushalt und ihren Schwiegervater. Ihren Job als Grafikerin hatte sie zurückgestellt, um den Familienansprüchen gerecht zu werden. Und dann wurde sie von einem Menschen beschimpft und angegangen, für den sie sehr viel opferte. Ich ging mit ihr zu dem alten Mann und stellte mich vor. Er forderte zu trinken und dass das Fenster geöffnet wurde. Sein Ton war unhöflich und respektlos, aber angesichts seiner Lage nicht unverständlich. Die Bilder auf der Kommode zeigten ihn als stattlichen Mann. Kräftig und offen in die Kamera blickend. Zwei Schlaganfälle hatten ihn in den letzten Jahren die Kontrolle über seine linke Körperhälfte gekostet und die Metastasen in seinem Körper waren nun für diese Sackgasse verantwortlich, in die er gekommen war. Unausweichlich.

Ich bat Luise freundlich, ihrem Schwiegervater und mir Wasser zu bringen, und öffnete das Fenster. Dann riet ich ihr, sich zwei Stunden hinzulegen. Später sagte sie mir, dass sie sich nur einen Moment auf das Sofa habe legen wollen, aber dann doch tatsächlich fast zwei Stunden am Stück geschlafen habe.

»Sie wissen, was passiert?« Ich frage gern direkt. Luises Schwiegervater hätte auch anders antworten können, aber er schaute mich nur an, als hätte ich ihn zu einer Runde auf dem Joggingpfad gebeten. Sein Gehirn funktionierte noch vollständig, auch wenn die Metastasen sich auch dort schon breitgemacht hatten.

»Was passiert?«

»Mit Ihnen?«

»Ich habe Krebs!«

»Ja. Haben Sie Schmerzen?«

Ich fragte, obwohl ich wusste, dass er bereits mit Morphium behandelt wurde. Er antwortete nicht. Ich half ihm beim Trinken. »Ich werde sterben«, sagte er. Und er sagte es, als ob er mich damit erschrecken wollte.

»Ja, ich weiß«, antwortete ich. Jetzt schaute er verblüfft. »Sie werden sterben – ich weiß.«

In den folgenden fast zwei Stunden erzählte er mir, dass niemand im Haus wahrhaben wollte, dass es keine Hilfe mehr gab. Sein Sohn verabschiedete sich stets mit einem »Wird schon wieder«, und seine Schwiegertochter tat so, als ob er gesunden würde, wenn sie sich nur noch mehr Mühe geben würde. Mehr kochen, mehr da sein, mehr nachfragen, mehr aufopfern. Und seine beiden Enkel wurden auch dahingehend geimpft, dass der Opa nur ein »bisschen krank« sei. Sie waren noch sehr klein. Ich konnte nachvollziehen, weshalb die Familie so handelte. Die Hilflosigkeit bedingt oft nicht sehr hilfreiche Reaktionen.

Und wieder hatte mich meine Berufung gefunden.

Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, sprach ich mit Luise. Sie war schockiert, dass ich mit ihrem Schwiegervater über sein Sterben gesprochen hatte. Aber auch erleichtert. Sie sprach mit ihrem Mann darüber und bei diesem Gespräch war ich ebenfalls dabei. Das Thema Tod wurde nicht mehr verdrängt. Auch mit dem Vater bzw. Schwiegervater wurde nun über das zu erwartende Ende gesprochen. Der alte Herr konnte sich über Wünsche zu seiner Bestattung äußern und dadurch hatte er wieder eine Aufgabe. Er war nicht mehr nur Ballast, um den man sich sorgen musste. Das Bewusstsein um das Sterben änderte die Perspektive im ganzen Haus. Es wurde nicht mehr gegen das Unvermeidliche gearbeitet, sondern nur noch begleitet. Es durfte wieder gelacht werden, aber es durfte auch geweint werden. Nicht vor Überarbeitung, sondern vor Trauer.

Ich begleitete Luises Schwiegervater noch ein viertel Jahr, bevor er starb. Er hinterließ eine Lücke, aber er hinterließ kein Trauma mehr. Und ich war gespannt, was das Leben noch für mich bereithielt.

Zwei Jahre später dann zog ich mit meinen Kindern aus dem Haus mit meiner Schwester in meinen jetzigen Wohnort. Es gab eine Grundschule für meinen Sohn und einen schönen Kindergarten für meine Tochter in der Nähe. Ein Haus wurde gefunden und wie es das Schicksal wollte, befand sich ganz in der Nähe ein Alten- und Pflegeheim.

Ich war alleinerziehend, als Autorin tätig und hatte trotz der mehrfachen Belastungen den Drang, mich wieder meiner Berufung zu widmen.

Im Rahmen einer Elternbeiratssitzung sprach mich eine Mutter hinsichtlich meiner Hospiztätigkeit an. Sie empfahl mir einen Vortrag des örtlichen Hospizvereins. Nun sind mir Vereine grundsätzlich eher unsympathisch und der Gedanke, dass ich nach über zehn Jahren als Hospizhelferin nun einen Lehrgang beim Landratsamt machen sollte, um »praktizierendes« Mitglied zu werden, war mir zuwider. Und dennoch entschloss ich mich, mir anzuhören, was dort gesagt wurde.

Die Vorsitzende des Vereins war eine aparte und sehr sympathische Frau. Alles, was der Verein an dem Abend präsentierte, hatte so ganz und gar nichts mit Belehrungen oder Vereinsmeierei zu tun. Ich fühlte mich gut aufgehoben. Ich erzählte, wie ich vor gar nicht langer Zeit den Vater eines Freundes in den Tod begleitet hatte, und sprach von dem Moment, als er neben mir im Rollstuhl saß und gemeinsam mit mir meine spielenden Kinder im Garten beobachtete. Es brauchte keine Worte. Wir wussten beide, dass es das letzte Mal sein sollte, dass er die Kinder so sah. Wenige Tage später starb er. Beeindruckend stark und klaglos. Mit dieser Geschichte und dem damit verbundenen Gefühl fühlte ich mich im Kreis des Vereins sehr gut aufgehoben. Also warum nicht die offizielle Ausbildung zum anerkannten Hospizhelfer machen. Es tat meinen bisher geleisteten Sterbebegleitungen schließlich keinen Abbruch.

Und so, wie ich anfangs ein bisschen verärgert war, dass ich in Bayern keine ›echte‹ Hospizhelferin sein durfte, muss ich im Nachhinein sagen, dass es keine Ausbildung gibt, die nicht irgendwo auch etwas Gutes mit sich bringt. Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Und lernen ist nie schlecht.

Die Ausbildung


Der Lehrgang fand über mehrere Wochenenden hinweg statt. Wir trafen uns in den Räumen der örtlichen Kirche oder im Pflegeheim. In Gruppenarbeiten wurde sowohl theoretisch als auch praktisch geübt.

Natürlich hat es mir in den vielen Jahren zuvor nicht an dieser Art Erfahrungen gefehlt, aber ich freue mich bis heute über das, was ich hier dazugelernt habe – nicht nur über und für meine Patienten, sondern auch über und für mich selbst.

Die ständige Traurigkeit über »Oma Frieda« und mein gebrochenes Versprechen konnte ich komplett aufarbeiten. Als ich in einer Gruppenstunde darüber sprach und wieder in Tränen ausbrach, wurde mir die Frage gestellt, was mich denn nun an dieser meiner »Verfehlung« so tief verletzte. Mit wenigen Sätzen, aber absoluter Klarheit wurde mir bewusst gemacht, dass ich eigentlich in erster Linie wütend war. Wütend auf mich selbst. Weil ich meine hochgesteckten Ziele nicht erreicht habe. Oma Frieda hätte mir längst verziehen. Nur ich selbst tat es nicht. Ich lernte, dass ich gnädiger mit mir selber sein durfte und musste. Und blieb dabei, nichts mehr zu versprechen. Vor allem im Bereich Tod und Sterben nicht. Wir haben das »Wann«...

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