Über Schönheit
Im Jahr 1954 habe ich meinen Doktor mit einer Arbeit über das Problem des Schönen gemacht, wenn auch beschränkt auf die wenigen einschlägigen Seiten bei Thomas von Aquin. 1962 habe ich das Projekt eines Bildbandes zur Geschichte der Schönheit angestoßen, das der Verlag dann später, obwohl bereits ein Viertel oder zumindest ein Fünftel der Arbeit getan war, aus banalen wirtschaftlichen Gründen aufgab. Vor einigen Jahren habe ich das Projekt für eine CD-ROM wieder aufgegriffen, dann auch für ein Buch, aus dem einfachen Grund, dass ich Sachen nur ungern halbfertig liegen lasse. Wenn ich also bedenke, dass ich mir in den letzten fünfzig Jahren wiederholt Gedanken über den Begriff der Schönheit gemacht habe, fällt mir auf, dass ich diesbezüglich heute wie damals problemlos wiederholen könnte, was Augustinus auf die Frage »Was ist Zeit?« antwortete: »Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, aber wenn ich es einem erklären will, der mich danach fragt, weiß ich es nicht.«
Getröstet habe ich mich über meine Unsicherheiten hinsichtlich der Definition von Schönheit, als ich 1973 in einem dem Kunstbegriff gewidmeten schmalen Band der Enciclopedia filosofica ISEDI las, wie Dino Formaggio Kunst definierte: »Kunst ist alles, was die Menschen Kunst genannt haben.« Entsprechend würde ich sagen: »Schön ist alles, was die Menschen schön genannt haben.«
Ein relativistischer Ansatz, gewiss – was man als schön empfindet, hängt vom Zeitgeschmack und von den Kulturen ab. Auch handelt es sich nicht um eine moderne Häresie. Denn schon in einem berühmten Passus des Vorsokratikers Xenophanes von Kolophon heißt es (nach Clemens von Alexandria, Stromateis V, 109): »Aber wenn Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten wie Menschen / und mit den Händen zu malen und Werke zu schaffen vermöchten, / malten sie wohl auch Bilder der Götter und machten die Körper / so, wie ein jeder von ihnen selbst ist am Körper gestaltet: / Pferde malten sie ähnlich den Pferden und Rinder den Rindern.«1 Wie Voltaire sagte: Das Schöne an der Kröte ist ihre Krötenhaftigkeit.
Schönheit ist nie etwas Absolutes und Unveränderliches gewesen, sondern erhielt je nach Epoche und Land unterschiedliche Gesichter, und dies nicht nur in Hinblick auf die physische Schönheit (des Mannes, der Frau, der Landschaft), sondern auch auf die Schönheit Gottes, der Heiligen, der Ideen …
Man braucht nur die folgenden Zeilen von Guido Guinizelli zu zitieren und sie einer mehr oder minder zeitgenössischen gotischen Skulptur wie der wunderschönen Uta von Naumburg zur Seite zu stellen:
Vedut’ho la lucente stella diana,
ch’appare anzi che ’l giorno rend’albore,
[…]
viso de neve colorato in grana,
occhi lucenti, gai e pien’ d’amore;
non credo che nel mondo sia cristiana
sì piena di biltate e di valore.
[Die Venus sah am Morgenhimmel prangen
ich kaum dass von der Nacht sie ausgeruht,
…
das Antlitz weiß wie Schnee, mit roten Wangen,
die Augen, liebreich strahlend, frohgemut;
und keine Frau, dünkt mich, wie sie umfangen
von solcher Schönheit, solchem Edelmut.]
Und dann überzugehen zu diesem Bild aus dem 19. Jahrhundert von Redon und einem Zitat aus Léa (1832) von Barbey d’Aurevilly: »Aber ja doch! Doch! Meine Léa, du bist schön, du bist das schönste aller Geschöpfe! Ich würde dich nicht hergeben, dich, deine gequälten Augen, deine Blässe, deinen kranken Körper, ich würde dich nicht gegen die Schönheit der himmlischen Engel eintauschen wollen.«
Naumburger Dom
Detail der Statue der Uta von Ballenstedt, 13. Jahrhundert
Odilon Redon (1840–1916)
L’apparition
Privatsammlung
Pablo Picasso
Portrait de Dora Maar, 1937
Paris, Musée Picasso
Können Sie zwischen diesen beiden Ideen der Schönheit einen Zusammenhang entdecken?
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, nicht unserem zeitgenössischen Geschmack zu erliegen. Manch junger Mann unserer Zeit, mit Ohrring und vielleicht Nasenstecker, mag eine Botticelli-Schönheit faszinierend finden, weil sie ihm entzückend verrucht von Cannabis besäuselt erscheint, doch war das gewiss nicht so für die Zeitgenossen, die das Antlitz der Primavera, wenn überhaupt, dann aus ganz anderen Gründen bewunderten.
Und was verstehen denn wir darunter, wenn wir von Schönheit sprechen? Wir Menschen unserer Zeit, oder wenigstens wir durch die idealistische Ästhetik beeinflussten Italiener setzen Schönheit nahezu immer mit künstlerischer Schönheit gleich. Jahrhundertelang sprach man jedoch vom Schönen vor allem im Zusammenhang mit der Schönheit der Natur, der Schönheit von Gegenständen, von menschlichen Körpern oder von Gott. Kunst war recta ratio factibilium, das richtige Verfertigen von Dingen, doch techne oder ars bezeichnete sowohl die Kunst des Malers als auch die des Schiffsbauers oder sogar die des Barbiers (und erst viel später hat man begonnen, von den Schönen Künsten oder Beaux Arts zu sprechen).
Gleichwohl haben wir zum Schönheitsideal einer gegebenen historischen Epoche heute nur drei Arten von Zeugnissen, und alle stammen aus »gebildeten« Quellen. Wenn heute oder in tausend Jahren ein außerirdischer Besucher auf die Erde käme, könnte er aus Filmen, Illustrierten und Fernsehprogrammen darauf schließen, welche Art von Schönheit die einfachen, ungebildeten Leute unserer Zeit an menschlichen Körpern, Kleidern und Gegenständen schätzten. Doch wir befinden uns gegenüber den vergangenen Jahrhunderten in der Lage eines Reisenden aus dem Weltraum, der zur Bestimmung unseres weiblichen Schönheitsideals lediglich Picasso als Zeugnis heranziehen könnte.
Freilich stehen uns auch verbale Zeugnisse zur Verfügung. Aber auch hier stellt sich die Frage: Was sagen uns die Worte? Wenn Proust in der Recherche die Gemälde von Elstir beschreibt, denken wir – wenn wir gut lesen – an die Impressionisten; die Biografen berichten jedoch, Proust habe in einem Fragebogen, den er mit dreizehn Jahren ausfüllte, Meissonier als seinen Lieblingsmaler bezeichnet und diesen auch später immer bewundert. Also erzählte er von der Vorstellung künstlerischer Schönheit eines inexistenten Elstir und dachte dabei vielleicht an etwas ganz anderes als das, was uns seine Worte vermuten lassen.
Dieser Umstand legt uns außerdem ein Kriterium nahe, das man (wollte man Semiotik für Eingeweihte betreiben, was ich meinem wie auch immer geneigten Publikum heute gern ersparen würde) nach Peirce als »Kriterium der Interpretierbarkeit« bezeichnen könnte: Die Bedeutung eines Zeichens wird immer durch ein weiteres Zeichen geklärt, das jenes in gewisser Weise interpretiert. Deshalb können wir Texte, die vom Schönen sprechen, mit zeitgenössischen Bildern vergleichen, die vermutlich schöne Gegenstände darstellen sollen. Das könnte uns zu klareren Ideen über die Schönheitsideale einer bestimmten Zeit verhelfen.
Bisweilen jedoch kann der Vergleich brutal enttäuschend ausfallen. Nehmen wir die Beschreibung einer hinreißend verführerischen Schönheit, als die sie jedenfalls der Erzähler schildert, nämlich der Kreolin Cecily aus Die Geheimnisse von Paris von Eugène Sue (1842–43):
Die von der Kreolin freigegebene dichte, tiefschwarze Haarpracht reichte ihr, in der Mitte gescheitelt und natürlich gelockt, bis zum Halsband der Venus, das den Hals mit den Schultern verband. […] Niemand, der sie einmal gesehen hat, kann Cecilys Gesichtszüge je wieder vergessen […] Über dem reinen Oval ihres Gesichts wölbt sich eine kühne […] Stirn; ihr Teint ist von der matten Helligkeit und samtenen Frische einer von der Sonne gestreiften Kamelienblüte; […] die feine gerade Nase endet in zwei beweglichen Nüstern, die sich bei der geringsten Erregung weiten; der schmachtende, aufreizende Mund ist lebhaft gerötet.2
Wie stellen wir uns diese prächtige Cecily heute vor, wenn wir die Worte in ein Bild übersetzen sollen? Wie eine Brigitte Bardot oder wie eine Femme fatale der Belle Époque? Nun, für den Illustrator der Erstausgabe des Romans (und mit ihm vermutlich auch für dessen Leser) sah Cecily aus wie auf dem hier abgedruckten Bild. Wir müssen uns seinem Vorschlag fügen und unsere Fantasie mit dieser Cecily spielen lassen. Zumindest um zu verstehen, nach welchem Schönheitsideal sich, Eugène Sue und seinen Lesern zufolge, der Notar Ferrand in Satyriasis verzehrte.
Cecily la créole
Illustration zu Les mystères de Paris von Eugène Sue, 1851
Der Vergleich zwischen Texten und Bildern ist oft produktiv, weil er uns zu verstehen erlaubt, wie ein und derselbe sprachliche Ausdruck im Übergang von einem Jahrhundert zum nächsten, manchmal von einem Jahrzehnt zum nächsten, unterschiedlichen visuellen oder musikalischen Idealen entsprechen kann. Nehmen wir ein klassisches Beispiel: die Proportion. Pythagoras hat als Erster behauptet, am Grund aller Dinge stehe die Zahl. Mit Pythagoras kommt eine...