Das große Erwachen
Ein Beitrag von Bettina Klemm
Kaum sechs Wochen nach dem Fall der Mauer vermeldete der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) Alarmierendes. Am 20. Januar 1990 war zu lesen: »Der DDR-Kriminalpolizei ist am Freitag bekannt geworden, dass eine international organisierte Gruppe unter Einbeziehung krimineller Personen aus der DDR einen Kunstraub in den Staatlichen Schlössern Wörlitz im Bezirk Halle geplant hat … Wie das Ministerium für Innere Angelegenheiten mitteilte, wurden vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung dieser Straftat durch die Deutsche Volkspolizei eingeleitet.«
Eine solche Meldung war weder nur der sich damals gerade entwickelnden Pressefreiheit geschuldet, noch sollte sie nostalgisch an die verlorene »Sicherheit« von Mauer und Stacheldraht erinnern. Kriminelle in West und Ost gehörten einfach zu den Ersten, die bei ihrer »Arbeit« auf die künftige Einheit setzten. Dafür gab es durch die chaotischen Verhältnisse in der sich langsam auflösenden DDR die besten Voraussetzungen.
Der Spiegel (24/1991) berichtete von überforderten Polizisten und fehlenden beziehungsweise mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen. So nahmen im Gemeinsamen Landeskriminalamt (GLKA) der fünf neuen Bundesländer Meldungen über Kirchen- und Museumsdiebstähle in der Ex-DDR »dramatisch« zu. Sprecherin Birgitt Griep erklärte, dass der Schaden allein für 1990 auf 32 Millionen Mark geschätzt wurde. Die Tendenz wäre steigend. In einem Beitrag der Nachrichtenagentur dpa war von 47 größeren Einbrüchen die Rede, zum Vergleich dazu wären es im Jahr zuvor fünf Diebstähle mit einem Gesamtschaden von einer Million Mark gewesen. Kriminalisten warnten vor der organisierten Kriminalität und befürchteten, dass dies erst der Anfang wäre. Durch die offenen Grenzen läge die Aufklärungsquote praktisch bei null, denn innerhalb weniger Stunden könnten die Kunstgegenstände in dunklen Kanälen verschwinden.
Liebespärchen auf textilen Tapeten im
Schloss Wiederau gestohlen
Wie das Beispiel von Wiederau zeigt, machten die Täter selbst vor Tapeten nicht halt. Über dem Eingang des dreigeschossigen barocken Schlosses prangt die Zahl »1705«. Ein Leipziger Textilhändler hatte das Rittergut südlich von Leipzig 1697 gekauft und das Gebäude darauf errichtet. 1737 erhielt der kursächsische Geheime Rat Johann Christian von Hennicke das Anwesen. Zur entsprechenden Huldigungszeremonie erklang die Kantate »Angenehmes Wiederau, freue dich in deinen Auen«, die Johann Sebastian Bach eigens dafür komponiert hatte. Vielleicht hatte Bach damals den prächtig gestalteten Festsaal mit der illusionistischen Malerei vor Augen gehabt. Der Saal erstreckt sich über zwei Geschosse, an seinen Wänden und der Decke sind Szenen aus der antiken Mythologie zu sehen, gestaltet vom italienischen Maler Giovanni Francesco Marchini. Der Festsaal in Wiederau gilt als eines der letzten im Original erhaltenen Zeugnisse derartiger Ausmalung.
Für Schlagzeilen sorgte jedoch die textile Bildtapete im angrenzenden Raum. Auf ihr waren junge Mädchen und Liebespaare dargestellt. Der Wandschmuck besteht aus bemalter Leinwand, eine preiswertere Form als gewebter Gobelin. Nach Einschätzung des einstigen Leiters des Kulturamts Borna stammt dieser Wandschmuck ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert und aus Italien.
Am 22. März 1990 hatten unbekannte Täter ein etwa drei mal dreieinhalb Meter großes Stück gestohlen. In Presseberichten wurde der Gesamtwert der Tapeten auf eine Million Mark geschätzt, der entwendete Teil soll etwa ein Viertel davon ausmachen. Bereits am 10. Juli 1990 teilte die Polizei dem Rat der Gemeinde Wiederau mit, dass die Ermittlungen gegen Unbekannt gemäß Paragraph 143, Ziffer 1 der Strafprozessordnung vorläufig eingestellt wurden. Im April 1990 hatte das Kulturamt die übrig gebliebenen Tapetenwände ausbauen und ins Schloss Schönwölkau bei Delitzsch bringen lassen. Dort wurden die wertvollen Textilien ab September 1990 restauriert. Die gestohlenen Tapetenteile konnten nicht gefunden werden.
Das stark geschundene Schloss erfuhr in den vergangenen Jahren eine grundlegende Sanierung. Diese sei noch nicht abgeschlossen. »Betreten Verboten!«, steht auf einem Schild am Eingang des Grundstücks. Der Eigentümer, die Sachsenerz Bergwerks GmbH, droht: »Jede Zuwiderhandlung wird strafrechtlich verfolgt!« Der Unternehmer Adalbert Geiger aus Baden-Württemberg hat das Schloss 2010 vom Freistaat Sachsen erworben. Bereits vier Jahre zuvor kaufte er das ebenfalls im Leipziger Raum gelegene Schloss Güldengossa. Nach eigenen Angaben hat er fünf Millionen Euro investiert, um das 1720 errichtete Herrenhaus zu sanieren. Es ist heute Stammhaus der Geiger Edelmetalle und öffentlich zugänglich.
Über das Schloss Wiederau spricht Geiger nicht so gern. Es gebe zu diesem Thema zu viele falsche Informationen und Spekulationen. 1906 hatte die Familie von Holleuffer-Kypke das Schloss geerbt. Konrad von Holleuffer-Kypke war zwar adlig, aber der Landwirtschaft und der Arbeiterbewegung verbunden. Auf seinem Portal »Historisches Sachsen« bezeichnet Heyko Dehn den Schlossbesitzer als »roten Baron«, der dennoch mit der Bodenreform enteignet wurde. Danach, so Adalbert Geiger, sei das Schloss im großen Stil und offiziellen Staatsauftrag geplündert worden. Doch darüber schreibe kaum jemand. Die Aufregung bezüglich der Tapetenfragmente hingegen sei groß.
Das Schloss Wiederau wurde zunächst als Notunterkunft für Vertriebene genutzt. Später zogen die Gemeindeverwaltung und ein Kindergarten ein. Seit 1976 stand es gänzlich leer. Auch der Denkmalschutz zeigte wenig Interesse an der Immobilie, er hatte sogar den Schutzstatus aufgehoben. Dem Schloss Wiederau und dem dazugehörigen Wirtschaftshof ging es wie zahlreichen anderen Denkmälern: Sie wurden zu DDR-Zeiten sträflich vernachlässigt. Der Leipziger Kulturbund hatte zwar seit 1976 versucht, mit Notreparaturen das Schlimmste zu verhindern, dennoch musste 1983 die Orangerie abgerissen werden. So hatten es die Diebe 1990 offensichtlich auch nicht schwer, in das Schloss zu gelangen. Erst nach dem Ende der DDR gab es Geld für die Sanierung. Zwischen 1994 und 1997 ließ das Land Sachsen das Dach und die markante gelbe Fassade instand setzen.
Diebe im Auftrag unterwegs?
Zu den »Kunstraub-Krimis« kurz nach dem Ende der DDR gehörte der Diebstahl auf der Burg Querfurt. Von jener Burg im Saalekreis in Sachsen-Anhalt hatten sich Diebe am 14. Juni 1990 aus beachtlicher Höhe aus dem Bilder- und Konzertsaal abgeseilt und drei Gemälde niederländischer Maler aus dem 17. Jahrhundert gestohlen. Dabei müssen sie über Insiderkenntnisse verfügt haben. Kurz nach der Maueröffnung zog es nur wenige Besucher in die Burg Querfurt.
Die Geschichte dieser Höhenburg, mit drei imposanten Türmen, zwei Ringmauern und starken Befestigungsanlagen, reicht bis ins 9. Jahrhundert zurück. Sie gehört zu den bedeutendsten mittelalterlichen Burgen in Deutschland und ist etwa siebenmal größer als die viel berühmtere Wartburg. Seit 1952 existiert im Korn- und Rüsthaus ein Burgmuseum. Im zurückliegenden Jahrzehnt wurden auf der Burg wiederholt Filme gedreht, vielfach mit namhaften Darstellern. So wird auch gern von der »Filmburg Querfurt« gesprochen.
Als Vorlage für ein Drehbuch könnte gleichsam der Gemäldediebstahl auf der Burg dienen. »Kuchenlieferung«, teilten die Diebe dem Pförtner mit und passierten mit zugedeckten Plastikstiegen ungehindert den Kassenbereich. Im ersten Stock hinter dem Saal, der mit acht Gemälden ausgestattet war, befand sich damals (und heute wieder) ein uriges Café. Jeden Nachmittag bekam es frische Kuchen und Torten geliefert. Da es kurz vor dem Café einen Lieferanteneingang gibt, wunderte sich auch niemand, dass die »Lieferanten« nicht wieder hinauskamen. Warum jedoch an diesem Tag niemand im Café die fehlende Kuchenlieferung beklagte, ist bis heute unklar.
Denn statt Kuchen befanden sich in den Stiegen Werkzeuge und Bergsteigerseile. Johanna Rudolph, von 1973 bis 2003 im Museum tätig und zur Tatzeit Direktorin, erinnert sich: Sie wurde gegen 23 Uhr angerufen, der Wachdienst, der regelmäßig mit einem Schäferhund die Runde drehte und mit einer Taschenlampe das Gebäude kontrollierte, hatte ein offenes Fenster entdeckt. Die Polizei kam schnell. An den Wänden fehlten drei Landschaftsbilder samt Stuckrahmen. Offensichtlich waren diese gezielt gestohlen worden, denn im Saal hingen damals auch wertvollere und größere Porträts.
Polizei und Museum rekonstruierten die Tat, Spurenhunde wurden eingesetzt. Noch heute steht im Saal ein dunkler, spätmittelalterlicher Schrank mit Eisenbeschlägen. Er ist etwa zweieinhalb Meter hoch und breit, aber nur fünfzig Zentimeter tief. Das Möbelstück wirkt wie drei übereinander gestapelte Truhen. Der Schrank steht etwa zehn Schritte von der Eingangstür entfernt. Zum Café sind es weitere 25 Schritte. Die Täter haben sich samt Werkzeuge in den Schrankfächern verborgen und gewartet, bis das Museum schloss.
In der Regel hatten die Mitarbeiter bei ihrem letzten Rundgang den Schrank noch einmal geöffnet, an diesem Tag aber nicht. Glücklicherweise, findet die Museumschefin, denn wer weiß, was dann geschehen wäre? Außerdem arbeitete an jenem Tag ein Mitarbeiter noch zu später Stunde im Fotolabor, das sich damals direkt hinter dem Saal befand. Er bereitete eine neue Ausstellung vor.
Bis auf den schon erwähnten Wachdienst und eine Schließanlage gab es im Museum kaum Sicherheitsvorkehrungen. Eine von einem Mitarbeiter selbst gefertigte Alarmanlage funktionierte nach dessen Eintritt in den Ruhestand nicht mehr.
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