Kapitel 1
WENN IHR LEBEN EIN FILM WÄRE – WÜRDEN SIE EINSCHALTEN?
Wetten, dass …
Sie Ihre Einschaltquote erhöhen?
Samstag-Abend. 20.15 Uhr. Familie Kottler hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und freut sich auf einen besonderen Film. Ein Spielfilm über das Leben ihres Nachbarn Herrn Lohmann. Siegfried Lohmann. Er ist 62 Jahre alt. Herr Lohmann ist kein Prominenter, kein Schauspieler und kein Model. Trotzdem wollte der Fernsehsender ARTEPLUS in der Serie: «Menschen wie Sie» eine Dokumentation über sein Leben machen.
Frau Kottler bringt gerade rechtzeitig noch eine Schüssel Popcorn herein. Der Film startet mit nachgestellten Szenen von Siegfrieds Geburt. Alles verlief völlig normal. Propere 3,2 Kilo schreien in die Kamera. Einen Schnitt später sehen wir Szenen aus seiner Schulzeit – abgesehen von einer Schlägerei mit neun Jahren, minus zwei Zähnen und miserablen Noten – nichts Besonderes. Eine völlig normale Kindheit. Anschließend absolvierte er die Berufsausbildung zum «Waste Removal Engineer». Der frühere Müllmann. Eine völlig normale, zweitägige Ausbildung. Zum Thema Frauen, gibt es nur zwei Geschichten. Susanne war seine erste Frau. Eigentlich eine völlig normale Beziehung, die drei Jahre später in die Brüche ging. Sie hat Schluss gemacht. Den Grund findet Siegfried heute noch ungerecht. Sie hatte viele Freundinnen. Er nur eine. Zwei Jahre später heiratete er Claudia, mit der er jetzt schon seit über 32 Jahren zusammen ist. Eine völlig normale Ehe. Sie haben zwei Kinder, die bereits beide eigene Familien haben. Heute machen die beiden jährlich einmal Ferien. Er im April, sie im August. Sie bekommt dreimal im Jahr Blumen: an ihrem Geburtstag, am Muttertag und am Erntedankfest. Highlight des Films war, als ihm beim Müll runtertragen der Müllbeutel reißt und alles die Treppe runter fällt. «Daran kann ich mich noch erinnern. Es hat danach tagelang im Treppenhaus gestunken», ergänzt Frau Kottler mit Popcorn im Mund. Dann kommt auch schon der Abspann.
«War das langweilig», motzt Herr Kottler. Und Sohn Nico mault: «Dieser Lohmann ist ja ein Voll-Loser, ein Aus-dem-Kellerfenster-Stürzer, ein Angorawäscheträger, ein Happy-End-Heuler, ein Glatzenföner, ein…»
Die älteste Tochter Sabine unterbricht ihren Bruder: «Ist denn unser Leben spannender? Ich meine, was wäre denn unser Film für ein Film? Wenn unser Leben ein Film wäre, würden wir da überhaupt einschalten?» Frau Kottler hört auf zu kauen – es wird still im Wohnzimmer und alle schauen sich nachdenklich an. Die Tochter bricht das Schweigen: «Was tun wir denn überhaupt noch selber? Wir sitzen Abend für Abend vor der Glotze und konsumieren. Wir schauen eigentlich anderen Menschen beim Leben zu. Wie sie neue Häuser finden, ihr Restaurant vor dem Ruin retten, sich einen Überblick über ihre Schulden machen oder ihre Ehe vor dem Ende bewahren. Wir schauen, was Prominente, Halb- und Viertel-Prominente den ganzen Tag so machen und mit wem sie wie lange zusammen sind. Oder wir beobachten, wie Menschen im Fernsehen um Millionengewinne spielen oder auswandern weil sie ihr Leben verbessern wollen. Das, was wir eigentlich auch wollen. Unser Leben verbessern. Die Frage ist, ob wir das vor dem Fernseher können.»
Herr Kottler schaltet den Fernseher aus und die Familie geht nachdenklich schlafen. Ein völlig normaler Tag geht zu Ende. Wieder einmal.
Instant-Leben – Normal ist die Norm
Sie kennen bestimmt «Instantprodukte». Das sind halbfertige Lebensmittel (meist Pulver oder getrocknete Zutaten), die nur noch mit kalten oder warmen Flüssigkeiten angerührt werden müssen. Es muss nichts mehr garen und es gibt garantiert keine Klumpen. Gelingt immer und klebt nicht. Die Beutelsuppe oder der selbst angerührte Schokopudding sind die bekanntesten ihrer Art.
Schmeckt das wirklich? Nun ja, es sättigt. Das Hungergefühl ist danach meist weg. Es ist vielleicht günstig und es spart Zeit, weil man nicht «richtig» kochen muss. Und Zeit ist wertvoll. «Zeit ist Geld» – und Essen scheint leider oft Nebensache zu sein (siehe Kapitel 7). Zeit ist aber nicht Geld, sondern Zeit ist Leben.
Es scheint, dass viele Menschen ein «Instant-Leben» führen. Ein Leben in der «Norm». Ein Leben, bei dem man kaum noch selber «kochen» muss, sondern alles pfannenfertig geliefert bekommt.
Ich verstehe unter einem Instant-Leben, dass man immer alles sofort bekommt – nicht immer das Beste – aber zumindest ist das Verlangen irgendwie gestillt. So zu leben ist für viele Menschen heute absolut «normal». Nicht, dass sich diese Menschen keine Gedanken mehr machen. Jeder von uns macht sich zwischen 60‘000 bis 80‘000 Gedanken – pro Tag. Nicht alle diese Gedanken oder Fragen, die wir uns stellen, sind wirklich wichtig: «Nehme ich einen Grande Capuccino oder doch lieber einen Doubleshot Espresso?», «Geht eine Erkältung schneller vorbei, wenn ich Tempo benutze?» oder «In welcher Farbe läuft ein Schlumpf an, wenn man ihn würgt?».
Wir machen uns den ganzen Tag Gedanken, aber meist unbewusst. Wir haben gar keine Zeit mehr um «nur» nachzudenken. Henry Ford hat schon gesagt: «Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenige Leute damit beschäftigen.»
Wenn wir wirklich 60‘000 Gedanken am Tag haben, dann ist das, bei einem 16-Stunden-Tag, fast jede Sekunde ein Gedanke. Meist denken wir gar nicht darüber nach, was das für Gedanken sind. Es gibt Statistiken, dass nur etwa drei Prozent unserer Gedanken aufbauend sein sollen. 25 Prozent seien eher destruktiv und der Rest nur unbedeutend.
Aber was denken wir denn? Wir übernehmen meist die Denkhaltung unserer Eltern, Lehrer und natürlich der Medien, die wir konsumieren. Die Frage ist, ob diese Denkhaltung Ihnen eher hilft oder Sie eher behindert?
Wann haben Sie sich das letzte Mal eine halbe Stunde Zeit genommen, um über Ihr Leben, Ihre Ziele, Ihre Partnerschaft, Ihre Arbeit oder Ihre Gesundheit nachzudenken? Meistens höre ich auf diese Frage: «Ja, ich bin halt ziemlich eingespannt im Beruf. Da bleibt nicht viel Freizeit. Und wenn ich mal zuhause bin, bin ich so geschafft, dass ich nur noch auf dem Sofa liege und mir kulturelle Highlights wie ›Germany’s Next Topmodels‹ reinziehe. Dazu habe ich eine Familie, und im städtischen Blockflöten-Verein bringe ich mich auch noch ein. Zudem trainiere ich dreimal die Woche im Fitness-Studio – schließlich muss ich ja fit bleiben. Ich habe einfach zu wenig Zeit, um zu all dem noch über mich selber nachzudenken. Außerdem gibt es da ja nicht viel zu denken – es läuft ja alles. Irgendwie.»
Und ich sage Ihnen: Ich verstehe das sogar. Wir sind alle ziemlich engagiert. Wir müssen überall verfügbar sein, für andere Menschen oder für die Firma, dass wir dabei vergessen, für uns – in unserem Leben – präsent zu sein. Viele Menschen sind so extrem im Hamsterrad – eigentlich mehr in einem Rennmäuserad – gefangen, dass sie viele Situationen und Gefühle nur noch «instant» erleben. Auf die Schnelle oder nebenbei.
Das Instant-Leben im Alltag
Wie Sie ein Instant-Leben im Alltag erkennen? Gerne beschreibe ich Ihnen ein paar typische Beispiele:
Wir haben keine Zeit für gesundes Essen (siehe Kapitel 7), also haben wir «Instant-Essen» und drücken uns ungesundes Zeugs aus einem Beutel zuerst in die Mikrowelle und dann in unseren Rachen. Oder wir drücken Sandwiches mit «Analogkäse» und «Schinken-Imitat» in uns hinein. Nicht um das Essen zu genießen, sondern um unseren Hunger möglichst schnell (und möglichst bequem) zu stillen.
Wir haben keine Zeit mehr, um schöne Dinge selber zu erleben, also schalten wir die Flimmerkiste ein und erleben Gefühle, spannende Abenteuer oder Streitgespräche in HD und Dolby Digital.
Wir erleben nur noch selten richtige Abenteuer, also schauen wir Menschen im Fernsehen beim Auswandern oder beim Scheitern ihrer Träume zu. Warum am besten beim Scheitern zuschauen? Weil wir dann denken: «Siehst du! Es ist halt nicht so einfach. Also bleibe ich lieber bei dem, was ich heute habe…»
Wir haben keinen befriedigenden Sex, also gibt es kostenlose Pornofilme im Internet oder kostenpflichtigen Sex im Bordell. 25 bis 50 Prozent (je nachdem, welcher Statistik man glauben darf) haben außerehelichen Sex – und zwar Männer, wie auch Frauen.
Wir erhalten nicht die Anerkennung, das Lob, die Befriedigung in der Arbeit oder in der Partnerschaft, also belohnen wir uns mit technischem Schnickschnack oder neuen Schuhen und schreien vor Glück!
Wir leben nicht mehr «bewusst», lassen uns meist treiben von den...