|18|2 Störungstheorien und -modelle
2.1 Risikofaktoren für depressive Störungen bei Krebskranken
In den letzten Jahren hat sich die Sichtweise von Depression und chronischer Krankheit gewandelt. Beispielsweise bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes geht man inzwischen von einem bidirektionalen Zusammenhang aus, d. h. dass beispielsweise eine koronare Herzerkrankung nicht nur mit einem erhöhten Depressionsrisiko einhergeht, sondern umgekehrt auch Depressionen auf vielfältige Weise zur Entstehung bzw. einem ungünstigen Verlauf von Herzerkrankungen beitragen. Bei Krebskranken ist der Weg von onkologischen Erkrankungsfaktoren zur Depression gut gesichert; zu umgekehrten Einflussmöglichkeiten sind die Kenntnisse lückenhaft bzw. strittig. Abbildung 1 gibt einen Überblick über Risikofaktoren für die Entstehung von Depressionen bei Krebskranken.
Wie Abbildung 1 zeigt, zeichnen sich depressive Störungen bei Krebskranken durch einen multifaktoriellen Hintergrund aus, dem bei der diagnostischen Abklärung Rechnung zu tragen ist. So wirken psychosoziale, krankheitsbezogene und medizinische Faktoren eng zusammen und rufen ein Kontinuum von Depressionen hervor, das von subsyndromalen Belastungen (deutlicher Distress, der aber die diagnostischen Schwellenkriterien nicht erfüllt), Anpassungsstörungen bis hin zu schweren depressiven Episoden oder auch chronisch verlaufenden depressiven Verstimmungen im Sinne der Dysthymie reicht.
Wichtig ist es, bei dem Verdacht auf eine Depression bei einem Krebskranken eine möglichst genaue Abklärung der genannten Faktoren durchzuführen und in der Behandlungsplanung die erhobenen Risiko- bzw. Schutzfaktoren zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Belastung durch die Erkrankung (vgl. Abb. 1) sind (1) psychosoziale und anamnestische Faktoren, (2) krankheitsbezogene und (3) medizinische Behandlungsfaktoren:
Psychosoziale und anamnestische Faktoren: Ein erhöhtes Depressionsrisiko findet sich allgemein bei jüngeren, weiblichen, sozial isolierten Patienten und Personen mit einem geringeren Bildungsstand bzw. Sozialstatus (Schwarz et al., 2008). Dies gilt insbesondere auch für Patienten, die in der familiären Vorgeschichte oder in der eigenen Anamnese psychische Vorerkrankungen (vor allem frühere Depressionen, Angststörungen, substanzgebundene Suchterkrankungen) und/oder frühere unverarbeitete |19|Verluste bzw. Traumatisierungen aufweisen. Weitere Risikofaktoren sind Merkmale der Persönlichkeit (z. B. Perfektionismus vs. Offenheit für neue Erfahrungen).
Abbildung 1: Risikofaktoren für Depressionen bei Krebskranken (modifiziert nach Li et al., 2012, S. 1188)
Hervorzuheben ist, dass Krebs – im Unterschied zu anderen chronischen Erkrankungen mit vergleichbaren prognostischen Aussichten (z. B. chronische Nierenerkrankungen) – mit negativen Stereotypen belegt ist, die vielfach die Krankheitsbewältigung erschweren. Susan Sontag sprach von „Krankheit als Metapher“ (1978), dies betrifft bei Krebs vor allem Vorstellungen von unheilbarem Siechtum, Verfall, Selbstzerstörung oder Bösem, das im Innern des eigenen Körpers um sich greift. Entsprechend legt der „Kampf gegen den Krebs“ das Bild eines Feindes nahe, der mit äußerst einschneidenden Mitteln („Stahl, Strahl, Chemo“) bekämpft und besiegt werden muss (Söllner et al., 2002). So wie soziale Einbindung eine wesentliche Ressource für viele Krebskranke darstellt, können so|20|ziale Isolation, Einsamkeit oder auch schädliche oder verunsichernde soziale Interaktionen ganz wesentlich zur Entstehung einer Depression beitragen. Ähnliches gilt für Bindungsunsicherheit oder -vermeidung (vs. sichere Bindung) in Form von mangelndem Vertrauen, in kritischen Situationen den erforderlichen Rückhalt zu bekommen, und für die Ausprägung des Selbstwertgefühls.
Krankheitsbezogene Faktoren: Es finden sich unterschiedliche Depressionsraten bei verschiedenen Tumorentitäten (Pankreas-, Magen-, Lungenkrebs) und in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung (Li et al., 2012). Einer der stärksten und konsistentesten Prädiktoren für Depressionen ist die körperliche Krankheitslast, besonders die Zahl und Schwere von Körpersymptomen und assoziierten Behinderungen (Li et al., 2012). Biologische Mechanismen sind noch wenig geklärt. Depression ist vermutlich assoziiert mit der Tumorzelllast und behandlungsinduzierter Zelldestruktion, die wiederum zu einem erhöhten Anfall von proinflammatorischen Zytokinen führen (sog. „zytokininduzierte Depression“). Einige Tumoren produzieren ihrerseits Hormone und hormonähnliche Substanzen (sog. „Paraneoplasien“) wie z. B. das Carcinoid, die zu Depressionen beitragen können.
Medizinische Behandlungsfaktoren: Chemotherapie, radioaktive Bestrahlungen und Hormontherapien können auf vielfältigsten Wegen Depressionen auslösen (Schwarz et al., 2008); ein wichtiges Beispiel ist das Interferon, das – in Einklang mit der Hypothese der zytokininduzierten Depression – dafür bekannt ist, dass es neben grippeähnlichen Nebenwirkungen auch Depressionen auslösen kann. Umgekehrt kommt der Symptomkontrolle von Schmerz, Schlafstörungen, Gewichtsverlust, Übelkeit u. a. eine immense Rolle zu bei der Vorbeugung bzw. Behandlung von Depressionen. Letztlich spielt die Qualität der Kommunikation und des Umgangs mit Patienten eine Schlüsselrolle für deren Krankheitsbewältigung; im Gesamtkontext der medizinischen Behandlung ist eine adäquate psychoonkologische Unterstützung eine wesentliche Komponente.
Krankheitsbewältigung
Sah man lange chronisch Kranke als Opfer einer bedrohlichen oder überwältigenden Krankheitsrealität, so rückte die sogenannte Copingforschung die subjektive Einschätzung und Bewältigung der Erkrankung und damit einhergehender Belastungen in den Vordergrund. Damit erschienen Kranke vielmehr als aktive Gestalter einer erträglichen Realität, deren Bewältigungsbemühungen es psychotherapeutisch zu unterstützen galt (Schwarz & Singer, 2008; Beutel & Muthny, 1988). Klinisch hat sich das Modell von Lazarus und Folkman (1984) bewährt, nach dem Reaktionen von Kranken maßgeblich durch ihre Einschätzung der vorliegenden oder antizipierten Belastungen geprägt sind. Zu fragen ist beispielsweise, ob Pa|21|tienten eine konkrete Belastung als Bedrohung, Verlust oder Herausforderung bewerten (primäre Bewertung), ob sie zur erfolgreichen Bewältigung dieser Belastungen über ausreichende Ressourcen verfügen (sekundäre Bewältigung) und ob die angewandten Strategien der Krankheitsbewältigung zum erfolgreichen Umgang mit der Belastung führten oder ggf. verändert werden müssen (Neubewertung). Unter Krankheitsbewältigung verstehen wir Coping- und Abwehrprozesse, die Menschen bewusst oder unbewusst anwenden, um Belastungen im Zusammenhang mit Erkrankungen zu reduzieren.
Coping- bzw. Bewältigungsprozesse sind eher bewusst, kognitiv-erlebnisorientiert und behavioral, flexibel; es findet sich eine eher unverfälschte Wahrnehmung der Belastungssituation. Abwehrprozesse hingegen sind unbewusst, kognitiv-erlebnisorientiert, rigide und gehen mit einer Verzerrung der intersubjektiven Realität und Selbstwahrnehmung einher.
Wie adaptiv Bewältigungs- und Abwehrprozesse in der konkreten Krankheitsverarbeitung (z. B. anhaltende Krankheitsverleugnung vs. aktive Krankheitsbewältigung) sind, hängt wesentlich auch von den Belastungsfaktoren im Krankheitsprozess ab. Aktuellen Konzepten zufolge scheint es nicht „eine“ günstige Coping- oder Abwehrstrategie zu geben, vielmehr dürfte sich Widerstandskraft in den Wechselfällen einer chronischen bzw. lebensbedrohlichen Erkrankung (sog. Resilienz) darin zeigen, über ein Repertoire verschiedener Strategien in flexibler Weise verfügen zu können (Beutel & Muthny, 1988). Obwohl die These, dass allein eine aktive und kämpferische Haltung den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, nicht mehr aufrechterhalten werden kann, kursiert sie dennoch in vielen Schriften und Informationsmaterialien für Tumorpatienten. Die Ansicht, den Krebs besiegen zu können, wenn man nur genügend kämpft, impliziert, dass all jene Patienten ein Selbstverschulden trifft, bei denen die Erkrankung fortschreitet. Andererseits verringert ein...