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E-Book

Diagnostik von Suizidalität

AutorHeide Glaesmer, Thomas Forkmann, Tobias Teismann
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl164 Seiten
ISBN9783844426397
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Pro Jahr sterben in Deutschland etwa 10.000 Menschen durch Suizid. Dieses Buch bietet erstmals für den deutschen Sprachraum einen umfassenden Überblick über diagnostische Techniken und Instrumente zur Erfassung von Suizidalität und stellt somit ein wichtiges Nachschlagewerk für die klinisch-diagnostische Praxis dar. Nach einer Einführung und der Beschreibung von Risikofaktoren und ausgewählten psychologischen Ätiologiemodellen, die für die Diagnostik handlungsleitend sein können, werden in einzelnen Kapiteln die international gebräuchlichsten Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente sowie Interviewverfahren und Vorgehensweisen zur Verhaltensdiagnostik ausführlich vorgestellt. Darüber hinaus werden spezifische Instrumente zur Erfassung von Suizidalität im Kinder- und Jugendbereich sowie im höheren Lebensalter beschrieben. Aktuelle und zukünftige Entwicklungen der Suizidalitätsdiagnostik sowie die daraus resultierenden Implikationen für die klinische Praxis werden skizziert. In jedem Kapitel werden der Nutzen des praktischen Einsatzes der verschiedenen Instrumente und diagnostischen Herangehensweisen diskutiert und Empfehlungen für die diagnostische Praxis gegeben. Das Buch bietet damit einen fundierten Überblick über den aktuellen Kenntnisstand auf dem Gebiet der Diagnostik von Suizidalität.

PD Dr. Thomas Forkmann, geb. 1979. 2000-2005 Studium der Psychologie in Göttingen. Psychologischer Psychotherapeut. 2005-2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Georg-August-Universität Göttingen. 2008 Promotion. 2013 Habilitation. Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der RWTH Aachen. Forschungsschwerpunkte: Diagnostik und Identifikation von Prädiktoren suizidalen Verhaltens und suizidaler Gedanken, angewandte Psychometrie, Depressionsdiagnostik, adaptives Testen, Metakognition und Emotionsregulation bei depressiven Störungen.

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Leseprobe

|15|2 Suizidalität


2.1 Definition und Klassifikation suizidalen Erlebens und Verhaltens


Eine einheitliche, international gebräuchliche Nomenklatur und Klassifikation suizidbezogener Gedanken und Verhaltensweisen existiert bislang nicht. Im amerikanischen Raum findet jedoch das Klassifikationssystem des Center for Disease Control and Prevention (CDC; Crosby, Ortega & Melanson, 2011) mittlerweile weitreichende Beachtung. Im Rahmen dieses Klassifikationssystems werden unter dem Oberbegriff „Selbstverletzendes Verhalten“ drei Klassen von Verhaltensmustern differenziert: (1) nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten, (2) unbestimmtes selbstverletzendes Verhalten und (3) suizidales Verhalten. Die Differenzierung der drei Verhaltensklassen erfolgt auf Basis der dem Verhalten zugrundeliegenden Intention. Innerhalb der Gruppe des suizidalen Verhaltens wird weiter differenziert in vorbereitendes Verhalten, abgebrochene Suizidversuche, unterbrochene Suizidversuche, Suizidversuche und Suizide (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Klassifikation selbstverletzenden Verhaltens

Die verschiedenen Begriffe werden wie folgt definiert und charakterisiert (Crosby et al., 2011; Posner, Brodsky, Yershova, Buchanan & Mann, 2014):

  • |16|Suizid: Tod aufgrund eines intentionalen, selbstschädigenden Verhaltens, das mit einem gewissen Maß an Absicht zu sterben assoziiert war. Drei Bestimmungsmerkmale gelten als zentral: (1) Die Person ist tot. (2) Das Verhalten der Person selbst führte zum Tod. (Die Person muss die tödliche Handlung allerdings nicht selber ausgeführt haben – sie muss sie lediglich selbst initiiert haben.) (3) Die Person hatte (in gewissem Ausmaß) die Absicht, ihren eigenen Tod herbeizuführen.

  • Suizidversuch: Auf die eigene Person gerichtetes, potenziell selbstverletzendes Verhalten, das nicht zum Tod führte, aber mit einem gewissen Maß an Absicht zu sterben assoziiert war. Wiederum gelten drei Bestimmungsstücke als zentral: (1) Die Person hatte (in gewissem Ausmaß) die Absicht, ihren eigenen Tod herbeizuführen. (2) Es wurde ein Verhalten gezeigt, das das Potenzial zur Selbstschädigung hatte bzw. von dem die Person dachte, dass es dieses Potenzial hat. (3) Eine Verletzung oder Schädigung muss nicht tatsächlich aufgetreten sein.

  • Unterbrochener Suizidversuch (interrupted suicide attempt): Die Ausführung eines auf die eigene Person gerichteten, potenziell selbstverletzenden Verhaltens, das mit einem gewissen Maß an Absicht zu sterben assoziiert ist, wird durch eine andere Person unterbrochen/verhindert, bevor es zu einer Schädigung oder einer potenziellen Schädigung gekommen ist. Zwei Merkmale sind entscheidend, um von einem unterbrochenen Suizidversuch zu sprechen: (1) Ohne die Unterbrechung wäre es zum Suizidversuch gekommen. (2) Es ist zu keiner Verletzung gekommen. (In dem Moment, in dem eine erste Tablette eingenommen oder ein erster Schnitt gesetzt wurde, handelt es sich somit um einen Suizidversuch.)

  • Abgebrochener Suizidversuch (aborted suicide attempt): Die Ausführung eines auf die eigene Person gerichteten, potenziell selbstverletzenden Verhaltens, das mit einem gewissen Maß an Absicht zu sterben assoziiert ist, wird vorbereitet, die Person selbst stoppt ihr Verhalten jedoch, unmittelbar bevor es zu einer Schädigung oder einer potenziellen Schädigung gekommen ist. Wie beim unterbrochenen Suizidversuch gilt auch hier: (1) Ohne die Unterbrechung wäre es zum Suizidversuch gekommen. (2) Es ist zu keiner Verletzung gekommen. (In dem Moment, in dem eine erste Tablette eingenommen oder ein erster Schnitt gesetzt wurde, handelt es sich somit um einen Suizidversuch.)

  • Vorbereitende Handlungen bzw. vorbereitendes Verhalten (preparatory acts or behavior): Vorbereitungen zur Durchführung eines Suizidversuchs. Hierzu zählt beispielsweise das Schreiben eines Abschiedsbriefes, das Verfassen eines Testamentes, der Erwerb einer Waffe bzw. das Sammeln von Medikamenten. Suizidgedanken oder Verbalisierungen derselben gelten nicht als vorbereitendes Verhalten.

Im vorgestellten CDC-Klassifikationssystem, wie auch in anderen entsprechenden Vorschlägen (Posner, Oquendo, Gould, Stanley & Davies, 2007; Silverman, Berman, Sanddal, O’Carroll & Joiner, 2007), besitzt die Inten|17|tion, mit der eine selbstverletzende Handlung ausgeführt wird, entscheidende differenzialdiagnostische Relevanz. Um von einer suizidalen Handlung sprechen zu können, muss ein gewisses Ausmaß an Absicht, durch die Handlung zu sterben – im Englischen als nonzero intent to die bezeichnet –, eruierbar sein; andernfalls handelt es sich um nicht suizidales oder unbestimmbares selbstverletzendes Verhalten. Die Bestimmung des Ausmaßes an Intentionalität erfolgt nun entweder durch Selbstauskunft des Betroffenen oder durch die Berücksichtigung der Umstände des Suizidversuchs bzw. Suizids. Als Indikatoren für intentionales Handeln gelten u. a. folgende Merkmale: (a) das suizidale Verhalten wurde (zeitlich/räumlich) so ausgeführt, dass eine Rettung unwahrscheinlich war, (b) die Person hat Vorkehrungen gegen den Abbruch der suizidalen Handlung getroffen (beispielsweise indem sie sich an Zugschienen oder unter Wasser festgekettet hat), (c) die Person hat nach der Durchführung der suizidalen Handlung kein hilfesuchendes Verhalten gezeigt, (d) Vorbereitungshandlungen, wie das Schreiben eines Abschiedsbriefes, wurden getroffen (Beck, Shuyler & Herman, 1974a).

Grundsätzlich muss man sich allerdings darüber im Klaren sein, dass die Erfassung der Intention, die selbstverletzenden Handlungen zugrunde liegt, stark fehleranfällig ist: Selbstberichtete Intentionalität kann durch den Kontext, in dem sie erfragt wird, und durch potenzielle Konsequenzen der Offenbarung von suizidaler bzw. nicht suizidaler Intention beeinflusst werden. Überdies können sowohl Intoxikationszustände zum Zeitpunkt der suizidalen Handlung als auch impulsives Handeln und ambivalentes Erleben eine klare Benennung der eigenen Intentionen unmöglich machen. Die Umstände eines selbstverletzenden Verhaltens können schließlich so arrangiert werden, dass es nach einem Suizidversuch aussieht, ohne tatsächlich einer zu sein; wie auch der umgekehrte Fall, in dem ein tatsächlicher Suizidversuch den Anschein eines Unfalls vermittelt, denkbar ist (Freedenthal, 2007). Schlussendlich bietet auch die Letalität einer verwendeten Methode keinen sicheren Indikator für das Ausmaß an suizidaler Absichtsbildung: Viele Betroffene haben eher ungenaue Vorstellungen über das Gefährdungspotenzial unterschiedlicher Substanzen und Methoden. Die Einnahme einer unbedeutenden Menge giftiger Substanzen kann also gleichermaßen mit einer starken Absicht zu sterben einhergehen, wie die Einnahme einer hochtoxischen Substanz mit einer nur geringen Absicht zu sterben assoziiert sein kann. Enge Zusammenhänge zwischen Absicht und Methodenwahl finden sich nur bei solchen Personen, die genaues Wissen über das Tötungspotenzial verschiedener Methoden haben (Brown, Henriques, Sosdjan & Beck, 2004). Im Einzelfall ist die Bestimmung der Intentionalität also mit diversen Schwierigkeiten behaftet.

Suizidgedanken werden in der CDC-Klassifikation nicht weiter definiert und charakterisiert. Wenzel, Brown und Beck (2009) verstehen unter Sui|18|zidgedanken (suicidal ideation) alle Gedanken, Vorstellungen, Überzeugungen, Stimmen (d. h. akustische Halluzinationen) oder andere Kognitionen, die eine Person hinsichtlich der absichtlichen Beendigung ihres eigenen Lebens hat. Silverman et al. (2007) differenzieren suizidbezogene Gedanken des Weiteren nach dem Ausmaß an Absichtsbildung (ohne suizidale Absicht, mit unklarer suizidaler Absicht, mit suizidaler Absicht), nach der Häufigkeit ihres Auftretens (gelegentlich, vorübergehend, anhaltend) und nach dem Ausmaß des mit ihnen verbundenen Handlungsdrucks (passiv, aktiv).

A. Die Person hat innerhalb der letzten 24 Monate einen Suizidversuch unternommen.

Beachte: Ein Suizidversuch ist ein selbstinitiierter Verhaltensablauf einer Person, die zum Zeitpunkt der Initiierung annimmt, dass der Ablauf der Handlung zu ihrem eigenen Tod führt. Der „Zeitpunkt der Initiierung“ ist der Zeitpunkt, an dem das Verhalten eingetreten ist, das...

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