|19|Kapitel 1 Lösungsfokussierte Gesprächsführung
Der Pessimist sieht Schwierigkeiten in jeder Gelegenheit.
Ein Optimist sieht eine gute Gelegenheit in jeder Schwierigkeit.
Winston Churchill2
1.1 Lösungen finden oder Probleme lösen?
Nach dem Ursache-Wirkungsmodell (auch problemorientiertes Modell oder medizinisches Modell genannt) muss zuerst herausgefunden werden, was das Problem ist, damit die richtige Diagnose gestellt werden kann, und im Anschluss daran das entsprechende Heilmittel gegeben werden kann. In unserem westlichen Denken ist das Ursache-Wirkungsmodell das am besten geeignete Modell, um die Welt verständlich zu machen. Dieses Modell ist nützlich, wenn es um relativ einfache Probleme geht, die auch tatsächlich auf einfache und eindeutige Ursachen zurückzuführen sind, wie das bei medizinischen oder mechanischen Problemen der Fall ist. In der Medizin lautet das Modell: Diagnose + vorgeschriebene Behandlung = Symptomreduktion. Wenn es allerdings um Gesprächsführung geht, hat dieses Modell einen großen Nachteil, es ist sehr problemorientiert. Wenn das Problem und die möglichen Ursachen gründlich herausgearbeitet werden, kann daraus ein Teufelskreis mit ständig weiter wachsenden Problemen werden. Die Atmosphäre wird mit Problemen aufgeladen. Dadurch wächst die Gefahr, dass die Lösung immer weniger wahrgenommen wird und die Hoffnung auf Besserung schwindet.
|20|Einer meiner Kollegen nennt die problemorientierte Therapie auch die „problemsuchende“ Therapie. In der Comic-Zeichnung Sigmund wird noch ein Schritt weiter gegangen: Hier ist die Rede von problemverstärkender Psychotherapie. Eine detaillierte Untersuchung (Exploration) und Analyse der Faktoren, die ein Problem auslösen oder aufrechterhalten, tragen nicht automatisch zur Problembewältigung bei. Das Stellen einer Diagnose wird beim lösungsfokussierten Ansatz meistens als unwichtig erachtet. Lieber geht man von einem Stepped-Diagnosis-Modell – analog zum Stepped-Care-Modell (Bakker & Bannink, 2008) aus. Somit ist die lösungsfokussierte Therapie eine über die Diagnose hinausgehende Behandlungsmethode. Sowohl bei Klienten als auch bei Beratern wächst die Unzufriedenheit über die Anwendung von problemorientierten Gesprächsführungskonzepten. Das Vertiefen des Problems führt nicht selten zu einer vorzeitigen Beendigung der Gespräche, weil sich nichts ändert und der Klient die Hoffnung auf Besserung verliert. Das lösungsfokussierte Modell bringt Veränderung in die Situation. Probleme werden als Herausforderung gesehen. Sowohl die Klienten als auch die Berater schöpfen wieder Hoffnung, weil die Klienten die Hilfe bekommen, die sie brauchen, um die angestrebte Situation und die Lösungen, die zur Erreichung des Ziels führen, zu entwerfen. Mehr über die Bedeutung der Hoffnung, über Hoffnungstheorie und die Frage, wie Angebote, die Hoffnung enthalten, zum Erfolg führen, lesen Sie in Kapitel 3. Tabelle 1 am Ende dieses Kapitels zeigt übersichtlich die Unterschiede zwischen dem problemorientierten und dem lösungsfokussierten Modell.
1.2 Kurzer Blick in die Geschichte
Lösungsfokussiertes Arbeiten wurde in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Steve De Shazer, Insoo Kim Berg und ihren Kollegen vom Brief Family Therapy Center in Milwaukee, USA, entwickelt. Sie bauten weiter auf den Erkenntnissen von Bateson (1979) und Watzlawick, Weakland und Fisch (1974) auf. Diese gingen davon aus, dass Lösungsversuche oftmals das Problem aufrechterhalten und nicht lösen, und dass das Verständnis der Entstehung eines Problems nicht (immer) notwendig ist. De Shazer (1985) formulierte einige Aussagen in Bezug auf lösungsfokussiertes Arbeiten. Er berief sich dabei auf Ideen von Einstein (Klein et al., 1993):
Die Lösung hängt nicht zwangsläufig mit dem Problem direkt zusammen. Eine Analyse der Probleme ist nicht zwingend notwendig, um Lösungen zu finden. Die Analyse der Lösungen dagegen schon (Beispiel: „Was haben Sie schon alles unternommen, um das Problem zu lösen und was hat geholfen?“).
|21|Der Klient ist der Experte. Im lösungsfokussierten Modell wird von Klienten (client) und manchmal von Kunden (customer), aber nicht – wie im medizinischen Modell – von Patienten gesprochen. Es ist der Klient selbst, der sein Ziel und den Weg dorthin bestimmt. De Shazer geht von der Sichtweise aus, dass Probleme ähnlich wie Bahnsteigtickets sind (Tickets, die man früher benötigte, um auf einen Bahnsteig zu kommen). Sie helfen dem Klienten, durch die Eingangstür hindurch zu kommen, bestimmen aber nicht, welchen Zug er nimmt oder wo er aussteigt. Wo jemand hinmöchte, wird nicht vom Ausgangspunkt bestimmt.
Was nicht kaputt ist, muss auch nicht repariert werden. Hände weg von allem, was im persönlichen Erleben des Klienten gut läuft.
Wenn etwas (besser) funktioniert, machen Sie dann mehr davon. Auch dann, wenn es der Erwartung nicht entspricht.
De Shazer (1991) spricht von „[…] Unterschiede[n], die einen Unterschied machen […].“ Unterschiede sind meistens nicht spontan wirksam: Sie müssen erkannt werden und sie müssen signifikant für den Klienten sein, damit sie tatsächlich einen Unterschied machen können. Das lösungsfokussierte Modell ist auf die Beschreibung von Ausnahmen von der Regel des Problems ausgerichtet, die vom Klienten häufig übersehen werden. Probleme sind selbsterhaltend, schon allein deshalb, weil der Klient denkt oder sagt, dass die Probleme „immer auftreten“. Die Momente, in denen das Problem nicht oder geringfügiger vorhanden ist, sind unmittelbar (zum Greifen nah) an der Oberfläche, werden aber vom Klienten als trivial abgetan oder aber gar nicht wahrgenommen, sie bleiben ihm verborgen. Sie werden (noch) nicht als „Unterschiede, die einen Unterschied machen“ erkannt. Im lösungsfokussierten Therapiegespräch hat der Berater besonders für die Unterschiede ein Auge: Die Interventionen sind darauf ausgerichtet, es dem Klienten zu ermöglichen, seine Aufmerksamkeit zu den Momenten zu verlagern, an denen die Dinge anders oder besser sind, wodurch (mehr) Lösungen möglich werden. So erfährt der Klient Unterstützung dafür, mehr von dem zu tun, was (besser) funktioniert. Es gilt außerdem: Wenn man nicht Teil der Lösung ist, ist man (noch) Teil des Problems. Wenn etwas nicht funktioniert, soll man etwas anderes tun. Mehr von demselben führt zu nichts.
Ein japanisches Küstendorf wird von einem Tsunami bedroht. Ein Bauer, der auf den Reisfeldern über dem Dorf am Arbeiten war, sah die Flutwelle von fern ankommen. Weil nicht genügend Zeit war, zurück ins Dorf zu gehen und weil er merkte, dass er zu weit weg war, um gehört zu werden, hörte er mit dem Schreien auf und zündete die Felder an. Daraufhin kamen die Dorfbewohner angelaufen, um ihre Bepflanzungen zu retten. So wurden sie vor dem Ertrinken gerettet. (Japanische Legende)
|22|Die Mitarbeiter des Brief Family Therapy Center haben herausgefunden, dass es aufseiten des Beraters drei spezifische Verhaltensweisen gibt, die bewirken, dass Klienten viermal häufiger über Lösungen, Veränderungen und Ressourcen reden. Diese Verhaltensweisen sind:
Der Berater stellt ermunternde Fragen: „Gegen was würden Sie das Problem gern eintauschen?“, oder „Was ist besser?“
Der Berater stellt Detailfragen: „Wie haben Sie das genau gemacht?“, „Was genau haben Sie anders gemacht, als es besser wurde?“
Der Berater bietet verbale Belohnungen, macht Komplimente oder stellt Kompetenzfragen: „Wie haben Sie das geschafft?“, „Wie sind Sie auf diese gute Idee gekommen?“
Übung 1:
Schauen Sie sich einmal in dem Raum, in dem Sie sich gerade befinden, um und suchen Sie mindesten fünf Gegenstände, die beige sind. Wenn Sie diese Gegenstände gefunden haben, hätte ich gern, dass Sie, bevor Sie sie benennen, erst noch berichten, welche blauen Gegenstände Sie gesehen haben. Vielleicht können Sie nun...