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Arbeitszeit ist Lebenszeit
Es ist nicht lange her, dass ich bei einer Tango-Veranstaltung mit einer sympathischen Schauspielerin ins Gespräch kam. Während der Tanzpause erzählte sie von ihren Rollen am Theater und ich von meinen Wertvorstellungen und Zielen als Unternehmer.
Dass ein Bäcker Wert auf biologische Produkte legte, erschien der Tanzpartnerin normal. Dass ein Unternehmer aber umfassende Überlegungen zu Ethik, Sinn und immateriellen Werten äußert, widersprach ihren Erwartungen. Ihre Sorgen um Menschlichkeit und Mitgefühl hielt sie für nahezu naiv angesichts der verbreiteten Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit. Ethische Erwägungen hätten im Wirtschaftsleben normalerweise keinen Platz, fand die Schauspielerin. Zwischen Seele und Ökonomie bestünden natürliche Gegensätze. Und sozial würden Unternehmen nur in dem Maß handeln, wie es ökonomische Vorteile brächte.
Für mich sind Unternehmen lebendige Organismen, keine mechanischen oder digitalen Konstrukte. Gehen einem Management die Zahlen über alles, kommen die Menschen zu kurz. Wirtschaftliche Prozesse sind soziale Prozesse, Akte zwischenmenschlichen Austausches. So weit konnte meine Tanzpartnerin alles lebhaft nachvollziehen. Doch einen Unternehmer leidenschaftlich davon sprechen zu hören, dass Betriebsziele nur unter Bedacht sozialethischer Werte gefasst werden sollten, erstaunte sie.
Kein Wunder, dass ich ihr wie ein Exot vorkam. Denn in den Wirtschaftsberichten der Medien dominieren Inhalte, die um Profite, Beschäftigtenzahlen, Bilanzen, Aktienkurse, Übernahmen, Marktanteile, Produktivität, Abstürze oder Rekorde kreisen, so als bildeten quantifizierbare Aspekte die gesamte wirtschaftliche Wahrheit ab. Soziale Verantwortung oder ökologische Nachhaltigkeit spielen in der öffentlichen Wahrnehmung der Ökonomie eine nachgeordnete Rolle. Freude, Sinn, Lebendigkeit, Respekt oder Achtsamkeit treiben keine Aktienkurse an. Das ist fatal, weil der Wert einer Firma nicht nur an der Rendite, sondern ebenso daran gemessen werden sollte, was es für die Menschen und ihr Gemeinwesen unter maximaler Schonung aller natürlichen Ressourcen leistet.
Vor Jahrzehnten habe ich mich entschieden, Teil der Veränderung unseres Wirtschaftslebens zu sein, denn Arbeit selbst ist ein wertvolles Kulturgut. Durch sie kann sich der Mensch in seinen fachlichen Fähigkeiten und in seiner seelischen Tiefe weiterentwickeln. Durch verantwortliches Arbeiten wird soziale Kompetenz kultiviert. Wenn wir die Seele ins Zentrum eines Unternehmens rücken, würdigen wir die Lebensfülle. Arbeit ist soziales Miteinander. Alle haben etwas davon, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeiten bekommen, sich nicht nur praktisch, sondern auch in ihren kognitiven und spirituellen Potenzialen weiterzubilden. Führungskräfte sollten die Beschäftigten stärken. Auch das soziale Miteinander – alles, was mit Freude, Verantwortung, Reife, Güte und Liebesfähigkeit zu tun hat. Sich dafür einzusetzen, ist keine verschwendete Zeit. Ich weiß aus Erfahrung, dass es immateriell wie materiell lohnend ist, mit hohen ethischen Maßstäben an wirtschaftliche Prozesse heranzugehen. Beseelung schafft Identität, Nachhaltigkeit und Sinn. Unter solchen Voraussetzungen arbeitet es sich besser, und die Chancen auf Erfüllung steigen.
Wie kommt der Bäcker dazu, ein Buch über beseeltes Arbeiten und Wirtschaften zu schreiben? Das hängt zuallererst mit der Biografie zusammen. Ende der 1960er-Jahre, in den Jahren des Aufbruchs und der Rebellion, schwirrten viele neue, ansteckende Ideen herum. Freiheit, Gesellschaft, Kunst, Natur, wie wir arbeiten und wohnen wollten – alles wurde diskutiert. Wir träumten von einer besseren Welt und wollten mit ihrer Verwirklichung bei uns selbst beginnen. Ursprünglich wollte ich Lehrer werden, begeisterte mich aber plötzlich fürs Backen. Gemeinschaftlich Brot herzustellen war eine Chance, um offener, fröhlicher und glücklicher zu leben – achtsam gegenüber Mensch und Natur. In manchen Dingen haben wir unseren Enthusiasmus vielleicht übertrieben, doch soweit es um Brot ging, lagen wir von Anfang an richtig. Biologisch, aus Vollkorn und handwerklich hergestellt musste es sein. Wenn wir beim Grundnahrungsmittel alles richtig machten, so dachten wir, könnten wir ein gutes Beispiel geben und Veränderungen im Großen anstoßen. Denn Brot ist mehr als das, was wir essen. Brot ist Natur, Brot ist Kultur, Brot ist Leben. Genuss und Freude bereiten muss es natürlich auch.
Backen hat schon seit Jahrtausenden einen Platz im Zentrum unserer Zivilisation. Der Beruf hat viel zu ihrer Entwicklung beigetragen, sich mit ihr verändert und wird dies auch weiterhin tun. In der Welt der Bäcker herrscht ein faszinierendes Nebeneinander von uralten Arbeitsweisen und beinahe vergessenen Mehlsorten einerseits sowie immer schnelleren, digitalisierten Industrien und modernem Hochleistungsgetreide andererseits. Der Trend zu Beschleunigung, Arbeits- und Preisdruck geht in der Branche weiter, während gleichzeitig immer neue Bäckerrebellen ihre Läden betreiben, um individuelle Produkte zu schaffen. Am Brot zeigt sich, wie wir arbeiten wollen, wie wir mit der Natur umgehen und welchen Stellenwert wir dem Genuss im Leben einräumen. Eine Kultur der Achtsamkeit gehört dazu.
Teig ist lebendig und sensibel, seine Bestandteile kommen aus der Natur. In einer Scheibe Roggenbrot sind rund 25 Ähren mit ungefähr 1000 Körnern verarbeitet. Jedes Brot hat seine Rezeptur, doch kommt es wesentlich auf das Einfühlungsvermögen der Bäcker an, wie es letztendlich gelingt. Zeit spielt eine ganz zentrale Rolle dabei – und damit das Verhältnis, das man zu Lebenszeit und Arbeitszeit an sich pflegt. Täglich kaufen mehr Menschen beim Bäcker ein als bei Amazon, behaupte ich mal. Somit sind Bäcker eine ökonomische Weltmacht. Die Art, wie die Bäcker wirtschaften, ist exemplarisch für die Wirtschaft insgesamt. Wir können uns dem Trend der Profitmaximierung beugen; wir können aber auch neue Formen des Wirtschaftens und der Organisation von Arbeit aus Bäckereien heraus entwickeln und vorleben – und das ist es, worum es mir ganz zentral geht. Mit unseren Zehntausenden Läden im deutschsprachigen Raum haben wir ein enormes Potenzial an Kommunikation und die Möglichkeit, Einsichten zu kommunizieren. Wenn wir wissen, was wir im Umgang mit Natur und Mensch besser machen können, müssen wir es nicht nur umsetzen, sondern wir können es auch verbreiten, andere einladen, es auch so zu machen, mitzudenken, sozial und ökologisch verantwortlich zu konsumieren. Wir können ansteckend sein durch unsere Leidenschaft.
Es ist wohltuend, Teil von etwas Gutem zu sein, und der Bäckerberuf bietet alle Voraussetzungen, grundsätzlich über ökologische und soziale Nachhaltigkeit nachzudenken. Schließlich stellen Bäckerinnen und Bäcker das Lebensmittel schlechthin her, das Grundnahrungsmittel Brot. Es entsteht aus den Elementen Erde, Wasser, Luft, Licht/Feuer – und, wie wir noch nicht so lange wissen, mithilfe der Mikroben im Teig.
Dass Brot in der religiösen Sphäre starke Symbolkraft entfaltete, kommt nicht von ungefähr. Es hat etwas Geheimnisvolles, wenn aus einigen wenigen Grundstoffen etwas so Unterschiedliches und Komplexes entstehen kann, das nahrhaft ist und eine kompakte Form einnimmt. Man kann es mit allen Sinnen erfassen. Es nährt körperlich und geistig. Brot hat Charakter. Wie es beschaffen ist, ob es zum Beispiel ein reines Naturprodukt ist oder nicht, drückt viel über unsere Kultur aus.
Als die Kaiser Biobäckerei vor über 40 Jahren als Alternativunternehmen seinen Anfang nahm, war der Zeitgeist von Optimismus getragen. Wir wollten Brot und Kuchen backen, gemeinsam leben und arbeiten – ohne Chefs – und der Zerstörung der Welt unser leidenschaftliches Engagement entgegensetzen. Lebensqualität und Arbeitsqualität sollten zusammen gedacht und erlebt werden. Politische Haltung sollte sich darin zeigen, was wir produzierten und wie wir produzierten und verkauften. Als die Ursuppe des Kollektivs Ende der 1970er-Jahre erkaltete und an Anziehungskraft für frische Kräfte verlor, musste sich das Unternehmen ändern oder scheitern. Wir verstärkten den Trend zu Bio, gesunder Ernährung und mehr Geschmack. Was blieb, war unser Eigensinn. Kaiser erfand sich neu. Weißes Mehl kam raus, Vollkorn rein – und Honig statt Zucker in die Kuchen und Gebäcke. Außerdem suchten wir nach Biobauern, um vertrauensvolle Kooperationen aufzubauen. Die Ziele waren weit gesteckt. Da uns die Standards zu lax waren, wollten wir sie übertreffen. Das galt nicht allein für die ökologischen Standards. Alles Mögliche, was unter gesellschaftlichen Konsens fiel, war unseren Kriterien nach fast automatisch verdächtig. Wir hinterfragten alles, auch die generellen Machtverhältnisse: Was ist der Markt? Erkennen wir seine bekannten Mechanismen an, oder verändern wir sie? Wer übt die Kontrolle aus? Was ist den Menschen adäquat und was zu ihrem Nachteil? Welche Verantwortung tragen Wirtschaft und Institutionen für die Gesellschaft? Der Begriff der Entfremdung stand im Mittelpunkt unserer Diskurse. Wir suchten nach Antworten und Alternativen. Wenn auf diesen Seiten also von unserer kleinen, aber wachsenden Bäckerei die Rede ist, wenn ich von Erfahrungen und Lernprozessen berichte, dann schwingt die Geschichte der Ökobewegungen mit. Um substanziell an den Verhältnissen etwas zu ändern, musste sich an den Gesetzen, den Formen der Produktion, des Konsums und am Zeitgeist vieles ändern. Soziale Bewegungen verliehen kritischen Geistern wie uns frische Schubkraft. So wuchsen wir im Lauf der...