Einleitung Wenn Mensch und Technik kollidieren
Mit dem Rücken gegen die harte Betonwand gelehnt, sitze ich auf einer kalten, harten Bank im Einsatzraum eines Polizeireviers irgendwo im südlichen Los Angeles – eine Gegend, die für ihre Gangs, ihre Kriminalität, ihre Armut, ihren städtischen Verfall und, vor rund zwanzig Jahren, für ihre gewalttätigen Rassenunruhen bekannt war. Es ist 4.45 Uhr morgens. Ich habe seit Stunden nichts gegessen: nicht gerade ein kluger Schachzug. Eine Mischung aus Hunger, Jetlag und Anspannung dreht mir den Magen um.
LAPD-Lieutenant Andrea Grossmann beginnt mit der Einsatzbesprechung und erläutert, wie ein Sondereinsatzkommando in etwa einer Stunde den größten Menschenhändler der USA und einen von Kaliforniens »meistgesuchten Verbrechern« dingfest machen wird. Circa 40 Polizisten werden an dem Einsatz beteiligt sein: ein Team aus erfahrenen Profis des FBI, der Homeland Security, des ICAC (Internet Crimes Against Children), der kalifornischen Bundespolizei und des LAPDs. Und dann bin da noch ich, die Einzige im Raum ohne Schusswaffe. Nur vereidigte Beamte dürfen eine Waffe tragen.
In meinem Heimatland Irland regnet es derweil. Der Frühling zieht sich hin, grau und nass wie eh und je. Ich denke an mein gemütliches Büro in Dublin, an meine Bibliothek, meinen PC und mein ruhiges Leben als Wissenschaftlerin – nur dass mein Leben in letzter Zeit ganz und gar nicht mehr so ruhig gewesen ist. Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich mich als forensische Cyber-Psychologin etabliert, und in dieser Funktion habe ich die Welt bereist und mich mit anderen Experten meiner Disziplin getroffen, habe Forschung betrieben, mit Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet, an Konferenzen teilgenommen und Hunderte Vorträge, Seminare, Workshops und Präsentationen gehalten. Die Cyber-Psychologie ist ein recht junges Fach und steckt noch in den Kinderschuhen. Jahr für Jahr weckt sie mehr Interesse. Immer stärker macht sich ein Gefühl der Dringlichkeit breit. Ich denke, die meisten von uns, die an vorderster Front tätig sind, können diese Veränderungen spüren, ebenso wie den umfassenden Eindruck der Orientierungslosigkeit. Unser Leben wandelt sich, und das menschliche Verhalten passt sich an. Den Grund für dieses Phänomen sehe ich als Cyber-Psychologin darin, dass Menschen sich bei der Interaktion mit Technologien anders verhalten als im direkten Umgang miteinander in der realen Welt.
Manche dieser Veränderungen haben sich so schnell vollzogen, dass es uns überaus schwerfällt, den Unterschied zwischen einem vorübergehenden Trend, einer sich neu entwickelnden Verhaltensweise und einer bereits akzeptierten gesellschaftlichen Norm zu erkennen. Der Einfachheit halber werde ich die unmittelbare Wirklichkeit von nun an als »reales Leben« oder »reale Welt« bezeichnen, um sie vom Cyberspace zu unterscheiden, und das, obwohl mir voll und ganz bewusst ist, dass die Geschehnisse dort so real sind wie das Leben selbst. Neue Normen, die im Internet entstehen, wirken sich auch auf die echte Welt aus. Was in der virtuellen Welt passiert, kann also die reale Welt beeinflussen – und umgekehrt.
Jedes Mal, wenn ich über meine Arbeit sprechen soll, beginne ich mit folgender Definition: Cyber-Psychologie »untersucht den Einfluss neuer Technologien auf das menschliche Verhalten«. Dabei geht es nicht allein um die Frage, ob man online oder offline ist: »Cyber« bezieht sich auf alles Digitale, Technologische – von Bluetooth bis hin zum selbstfahrenden Auto. Das heißt, ich analysiere die menschliche Interaktion mit Online-Technologien und digitalen Medien, mit Mobilgeräten und Apparaten zur Herstellung von Internetverbindungen, mit Spielen, virtueller Realität und mit künstlicher Intelligenz (A.I., »artificial intelligence«) sowie mit erweiterter Intelligenz (I.A., »intelligence amplification«) – alles von Handys bis Cyborgs. Am stärksten konzentriere ich mich aber auf die Internetpsychologie. Wenn etwas in den Bereich der »Technologie« gehört und das menschliche Verhalten zu beeinflussen oder verändern vermag, dann will ich mir das Wie anschauen – und über das Warum nachdenken.
Die Zeit ist mein größter Feind, denn meine Arbeit befindet sich im ständigen Wettlauf mit der technischen Entwicklung. Das bedeutet eine große Herausforderung dafür, wie Akademiker sich normalerweise einem neuen Phänomen nähern. Wie können wir als Wissenschaftler mit den technologischen Veränderungen in unserem Leben, unseren Verhaltensweisen und unserer Gesellschaft Schritt halten? Eine gute Langzeitstudie, die das menschliche Verhalten im Laufe der Zeit ergründet und den Forschern damit schlüssige wissenschaftliche Erkenntnisse bietet, kann einige Jahre bis Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Im Internetzeitalter entspricht das mehreren Generationen. Und aufgrund meiner Erfahrungen – besonders im Hinblick auf die Entstehung neuer Normen durch eine beschleunigte Art der Sozialisation, die ich »Cyber-Sozialisation« nenne – glaube ich, wir sollten keinesfalls nur herumsitzen und auf Antworten warten.
Die gute Nachricht: Einige Facetten der Internetpsychologie werden bereits seit den 1990er Jahren untersucht und sind heute gut bekannt und belegt. Die Auswirkungen der – wirklichen oder vermeintlichen – Online-Anonymität sind nur ein Beispiel von vielen. Bei dieser Anonymität handelt es sich um das zeitgenössische Äquivalent der Superheldenkraft Unsichtbarkeit. Der Einfluss der Anonymität – Thema unzähliger faszinierender Studien in vielen Fachbereichen – sollte nicht unterschätzt werden. Sie schürt auch den nicht minder wichtigen sogenannten Online-Enthemmungseffekt, der wiederum andere Folgen hat. Ich bin in einem Dutzend Forschungsgruppen aktiv und habe von der Cyber-Kriminalität bis hin zur Cyberchondrie – der ängstlichen Fixierung auf Gesundheitsfragen, die sich durch die medizinische Recherche im Internet nur verstärkt – so ziemlich alles untersucht. Dabei habe ich immer wieder festgestellt: Das menschliche Verhalten im Internet wird in meinen Augen meist von einem mit nahezu mathematischer Wahrscheinlichkeit vorhersehbaren Faktor bestimmt und beschleunigt: vom Cyber-Effekt – dem E=mc2 unseres Jahrhunderts.
Das Internet verstärkt beispielsweise die Nächstenliebe, was wiederum heißt, dass die Menschen im Cyberspace zuweilen großzügiger erscheinen als im realen Leben. Wir können dieses Phänomen gut am Beispiel des außerordentlichen Wachstums des nichtkommerziellen Online-Crowdfunding-Sektors beobachten. Ein weiterer bekannter Effekt im Cyberspace ist der, dass Menschen anderen, denen sie im Internet begegnen, leichter vertrauen und Informationen rascher austauschen können. Dies führt einerseits schneller zu Freundschaften und Intimität, bedeutet aber andererseits, dass die Leute dazu neigen, sich sicher zu fühlen, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Aufgrund des Online-Enthemmungseffekts (ODE, »online disinhibition effect«) sind Einzelne oft mutiger, enthemmter und in ihrem Urteilsvermögen eingeschränkter – fast so, als wären sie betrunken. Und in diesem enthemmten Zustand können sich gleichgesinnte Menschen unter dem Mantel der Anonymität schneller und einfacher finden, was wiederum zu einem weiteren Effekt führt: dem Online-Zusammenschluss. Diese Gebilde und Effekte im Cyberspace werde ich in den folgenden Kapiteln ausführlich untersuchen; auch im Glossar gehe ich auf die Begriffe ein. Letztlich jedoch lassen sich diese Bezeichnungen erst mit Hilfe intensiver experimenteller Untersuchungen, der Manipulation von Variablen und der Ermittlung von Ursache und Wirkung durch die empirische Wissenschaft vollständig nachvollziehen und bewerten. Der Cyberspace ist jedoch kein Labor mit weißen Mäusen und Schaltern. Tatsächlich ist er vielmehr eine komplexe Matrix menschlicher Daten, die sich im virtuellen Raum manifestieren. Zu seiner Erforschung bedarf es akribischer digitaler Forensik und genauer Details cyber-psychologischen Verhaltens.
Ein Sprichwort sagt: »Der Teufel steckt im Detail.«[1] Das deckt sich mit meinen Erfahrungen bei der Arbeit. Die Forensik befasst sich mit der Untersuchung und Erfassung physischer Spuren an einem Tatort: Fasern, Körperflüssigkeiten und Fingerabdrücke. Denken Sie an die TV-Serie CSI. Die forensische Psychologie beschäftigt sich wiederum mit der Untersuchung verhaltenspsychologischer Überbleibsel an einem Tatort – das, was wir als »mentale Blutspritzer« bezeichnen. Und dann ist da noch mein Fachbereich, die forensische Cyber-Psychologie, die sich auf die cyber-verhaltenspsychologischen Fundstücke am Tatort konzentriert – oder, wie ich es nenne, den »digitalen Fußabdruck«. Es war der bekannte Forensiker Edmond Locard, Pionier seines Faches, manchmal auch der »Sherlock Holmes Frankreichs« genannt, der mit seiner Regel die grundlegende Prämisse forensischer Wissenschaften formulierte: »Jede Berührung hinterlässt eine Spur.« (Ihre Fingerabdrücke befinden sich mittlerweile überall auf diesem Buch.)
Dies gilt auch im Cyberspace. So gut wie alles, was wir online tun, hinterlässt digitale Spuren, digitalen Staub und digitale Abdrücke. Diese Beweisstücke aus dem Internet helfen den Strafverfolgungsbehörden bei der Untersuchung kriminellen Verhaltens, ob die Verbrechen sich nun im Cyberspace, am anderen Ende der Welt oder auf...