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Der echte Schimmelreiter

So (er)fand Storm seinen Hauke Haien

AutorGerd Eversberg
VerlagBoyens Buchverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783804230163
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Im April 1838 erschien im 'Danziger Dampfboot' ein 'Reiseabenteuer' unter dem Titel 'Der gespenstige Reiter', in dem von einem Kaufmann berichtet wird, dem an der Güttländer Weichselfähre ein Reiter auf weißem Pferd erscheint. Beinahe 50 Jahre später griff Theodor Storm die Danziger Gespenster-Erscheinung - welche er bereits als junger Student gelesen hatte - als zentrales Motiv im inneren Erzählrahmen seiner 'Schimmelreiter'-Novelle wieder auf. Aber anders als in der Geschichte aus Preußen berichten die Erzähler in Storms Novelle nun von Aufstieg und Scheitern des nordfriesischen Deichgrafen Hauke Haien, der bei einer Sturmflut an der Nordseeküste sein Leben hergibt, weil sein ehrgeiziges Deichprojekt gescheitert ist. Nachdem Storm sich zu Beginn des Jahres 1885 entschlossen hatte, aus der Geschichte vom gespenstigen Reiter eine Novelle zu formen, in der er die Besonderheiten des Deichbaus an der Westküste Schleswig-Holsteins darstellen wollte, vertiefte er sich in ein gründliches Quellenstudium und suchte bei Fachleuten Rat. Er benutzte für sein Projekt mehr als 40 Quellentexte, darunter regionale Chroniken, Texte zum Deichrecht und zur Technik des Deichbaus, Landesbeschreibungen sowie volkskundliche und literarische Werke. Gerd Eversberg spannt seinen Bogen von der Jugend Theodor Storms bis in die letzten Lebensmonate, in denen der Husumer Dichter noch selber die Korrekturen für sein 'Schimmelreiter'-Buch las. Neben der Geschichte des Deichbaus werden die Landschaft Nordfrieslands und die kulturellen Besonderheiten zwischen Marsch und Geest ausführlich geschildert. Das reich bebilderte Buch dokumentiert den lebenslangen Prozess von Stoffaneignung und Recherche sowie den Schreibprozess als Vollendung eines produktiven Dichterlebens.

Dr. Gerd Eversberg, Direktor des Theodor-Storm-Zentrums in Husum und Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft. Geboren 1947 in Magdeburg, studierte Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Köln. Nach seiner Promotion über den Fauststoff von Goethe war er als Studiendirektor am Gymnasium und in der Lehrerausbildung tätig. Seit 1989 leitet er das Theodor-Storm-Zentrum in Husum. Arbeitsschwerpunkte: Wanderschauspiel, Marionettentheater sowie Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Bürger, Storm, Hebbel, Fontane, Detlev von Liliencron, Hans Jenny Jahnn; zur Literatur des poetischen Realismus, zur Mediengeschichte sowie zur Didaktik des Deutsch- und Philosophieunterrichts. Herausgeber u. a. der 'Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft', der 'Husumer Beiträge zur Stormforschung' und der 'Editionen aus dem Storm-Haus'. Realisation zahlreicher Ausstellungen im Storm-Museum, Veranstalter von wissenschaftlichen Tagungen im Storm-Archiv.

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Leseprobe

Erste Begegnung


Am Sonnabend, dem 14. April 1838, erschien im „Danziger Dampfboot“ ein „Reiseabenteuer“ unter dem Titel: „Der gespenstige Reiter“. In dieser Geschichte wird von einem Kaufmann berichtet, dem auf dem Wege von Danzig nach Marienburg an der Güttlander Weichselfähre ein Reiter auf weißem Pferd erscheint. Die Männer, die hier bei Eisgang Wache halten, erzählen ihm von einem Deichgeschworenen, der sich mit seinem Pferd in den Deichbruch gestürzt habe, nachdem er die Schuld für den schlecht gewarteten Deich auf sich genommen hat. Ross und Reiter erscheinen bis heute als gespenstiges Warnzeichen vor einem drohenden Deichbruch.

Im Frühsommer desselben Jahres immatrikulierte sich der Student der Rechte Theodor Woldsen-Storm aus Kiel an der Berliner Universität, wo er für ein Jahr im Zentrum der preußischen Kultur lebte und seinen Gesichtskreis in der neuen Umgebung mit alten und neuen Freunden erweiterte. Im Herbst reisten die jungen Burschen nach Dresden, um sich mit den dortigen Kunstschätzen vertraut zu machen. Zu dieser Zeit druckte der Hamburger Zeitschriftenverleger J. J. C. Pappe die Gespenstergeschichte aus Preußen im Band 2 des Jahrgangs 1838 seiner „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“ wieder ab.

Titel der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“, Danzig 1838.

Es gibt keinen Beleg dafür, wo Storm das „Reiseabenteuer“ von der Weichsel gelesen hat. Da diese Zeitschrift nur eine regionale Bedeutung hatte, scheint eine Lektüre in Berlin oder gar in Dresden eher unwahrscheinlich. Manches spricht dafür, dass ihm das Heft in seiner norddeutschen Heimat in die Hände fiel, denn der Student aus Husum hatte noch intensive Beziehungen in den Norden des deutschen Kulturraums. Zum Wintersemester 1839/40 kehrte er wieder an die Kieler Universität zurück, um dort sein Studium der Rechte fortzusetzen.

Titel der Zeitschrift „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur“, Hamburg 1838.

Mit seinen Kommilitonen Theodor und Tycho Mommsen trat er in einen Dichterwettbewerb und begann das Projekt der Sammlung von Sagen, Märchen und Liedern aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Storm las in diesen Jahren wie ein Besessener; er nahm Stoffe aus Kulturgeschichte und Literatur in sich auf, die ihm später immer wieder als Motive für seine Dichtungen dienten.

Es dauerte fast fünfzig Jahre, bis der mittlerweile erfolgreiche Autor die Danziger Gespenster-Erscheinung als zentrales Motiv im inneren Erzählrahmen seiner „Schimmelreiter“-Novelle wieder aufgriff. Aber anders als in der Geschichte aus Preußen berichten die Erzähler in Storms Novelle nun vom Aufstieg und Scheitern des nordfriesischen Deichgrafen Hauke Haien, der bei einer Sturmflut an der Nordseeküste ums Leben gekommen ist.

Für den Anfang seiner „Schimmelreiter“-Novelle hat Storm im Jahre 1886 eine Geschichte erfunden, die sich ganz realistisch gibt. Der namenlose Erzähler des äußeren Rahmens berichtet von einem Jugenderlebnis mit deutlichen autobiographischen Bezügen: „Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, […].“ (Theodor Storm: Der Schimmelreiter, S. 634; hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Laage/Lohmeier, abgekürzt als „LL“, Bd. 3.)

Generationen von Storm-Forschern haben aus dieser Einleitung geschlossen, dass der junge Storm den Stoff für seine bedeutende Altersnovelle tatsächlich im Hause seiner Urgroßmutter Feddersen kennengelernt und ein Leben lang in seinem Bewusstsein aufbewahrt habe. Denn in den nächsten Jahren erwähnt er immer wieder eine „Deichsage“, an die er sich nach vier Jahrzehnten genau erinnern kann, allerdings weiß er nicht mehr, wo er diesen Stoff gelesen hat. Storm muss in den 1880er Jahren eine sehr intensive Erinnerungsarbeit geleistet haben, denn er hat, wie er selbst berichtet, das Heft mit der Gespenstergeschichte nie wieder zu Gesicht bekommen.

Haus der Urgroßeltern Storms in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete. Foto aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Atmosphäre, in der ein phantasiebegabter und sensibler junger Mensch diese Erzählung aufgenommen hat, wird in der Novelle sehr genau beschrieben: „Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.“ Und nachdem der bereits gealterte Erzähler die Zeit dieses Jugenderlebnisses so intensiv ausgebreitet hat, betont er ausdrücklich: „Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; […].“

An diesem gut erfundenen Novelleneingang entspricht so viel der Wirklichkeit, dass Storm, als er seit 1885 für die neue Novelle vom Schimmelreiter recherchierte, tatsächlich kein Exemplar der Hamburger „Lesefrüchte“ mehr auftreiben konnte. Daher muss diese Jugendlektüre einen sehr nachhaltigen Einfluss auf den späteren Dichter gehabt haben. Dennoch stimmt an dieser Geschichte einiges nicht. Denn im Jahre 1838, in dem die Szene frühestens stattgefunden haben kann, lebt die Urgroßmutter schon lange nicht mehr. „Frau Senator“ Elsabe Feddersen (geb. 1741) war bereits im Jahre 1829 gestorben; da war Storm gerade mal 12 Jahre alt, was auf die erinnerte Jugendlichkeit des lesenden Knaben zutrifft, was sich aber mit dem Erscheinungsjahr der preußischen Gespenstergeschichte im Jahre 1838 nicht vereinbaren lässt, denn da war Storm bereits 21 Jahre alt. Es handelt sich also um eine literarische Fiktion, die Storm hier als „Aufmacher“ für seine Novelle vom „Schimmelreiter“ erfunden und sehr geschickt in das Erzählganze eingefügt hat.

Elsabe Feddersen, geb. Thomsen (1741–1829), Urgroßmutter von Theodor Storm. Silhouette um 1788.

Und das ist das Ergebnis der Quellenforschung: Storm hat die Gespenstergeschichte 1838 oder 1839 nicht in dem Haus Ecke Schiffbrücke/Twiete gelesen, denn das hatte sein Vater bereits unmittelbar nach dem Tode der Urgroßmutter verkauft, mit einigem Inventar übrigens, denn sehr viel später konnte der Dichter einige Bilder des Schleswigschen Malers Niclas Peters erwerben, die während seiner Jugendzeit im Urgroßmutterhaus gehangen hatten. Die Lektüre könnte in seinem Elternhause in der Hohlen Gasse in Husum stattgefunden haben oder in Altona während eines seiner häufigen Besuche bei seiner Tante Friederike Scherff.

Die Tatsache, dass er den einleitenden Erzählrahmen überhaupt in einem ihm wohlvertrauten Hause seiner Heimatstadt Husum ansiedelte, hat ihre Gründe. Storm wollte bei seinen Lesern den Eindruck erwecken, dass die Sage vom gespenstigen Reiter sein Werk ein Leben lang begleitet habe. Denn nur daher bezieht der Erzähler die Legitimation zu behaupten, das nun Folgende habe sich wirklich dort ereignet, wohin er es verortet, in die Landschaft der Hattstedtermarsch und die Stadt Husum. Die Köge, das Marschendorf und die Stadt an der Küste sind die Handlungsräume der Novelle, in der Menschen agieren, wie Storm sie während seiner Jugend und später während seiner Berufstätigkeit in Nordfriesland kennengelernt hat. Aber der Realismus wiederholt nicht einfach die Wirklichkeit im Kunstwerk, daher sind Genauigkeit und Detailtreue bei der Abbildung von Wirklichkeit allein kein Kriterium für realistisches Schreiben.

Das künstlerische Verfahren des Realismus besteht darin, die Details der Wirklichkeit so darzustellen, dass deren allgemeine Bedeutung zutage tritt. Die Fähigkeit, das Allgemeine im Konkreten sichtbar werden zu lassen, ist das zentrale künstlerische Merkmal dieser literarischen Epoche. Genau das hat Storm in seiner Meisternovelle geleistet, indem er seinen Lesern die Ereignisse um Deichbau und Sturmfluten der vergangenen Jahrhunderte am Beispiel eines erfundenen tüchtigen und die anderen überragenden Deichgrafen vor Augen führt. Viele Leser glauben, dessen Wirken habe nicht nur in der Erinnerung seiner Zeitgenossen Spuren hinterlassen, man könne ihnen noch heute auf Schritt und Tritt begegnen, wenn man nur danach sucht. Sie übersehen dabei nur zu leicht, dass der Dichter von dieser Vergangenheit so realistisch erzählen muss, damit die Ereignisse aus dem Land der Erinnerung im Leser wieder lebendig werden. Und dazu musste Storm eine Erinnerungsarbeit leisten und Erzählinstanzen erfinden, die von dem, was damals geschehen sein soll, glaubwürdig berichten können.

Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an; stieg im erstgelegenen Gasthof ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen lmbiß zu begegnen, und durch einen erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter Anderm den Wirth, wie es mit der Weichsel stände, und bekam zur Antwort: „Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch gefährlich seyn;“ doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte mußte, und wo möglich wollte ich dort noch an demselben Abend eintreffen; ich bezahlte dem Wirthe meine Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sey, wenn ich nicht mit Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sahe ich zum Theil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein; doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen seyn würde. Ich ließ mir dieses nicht zwei Mal sagen, griff in die Zügel, lenkte um, und fort ging’s zur Güttlander Fähre. –

Dunkler und dunkler wurde es rings um...

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