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Die weltliterarische Provinz

Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte Schleswig-Holsteins um 1800

AutorDieter Lohmeier, Heinrich Detering
VerlagBoyens Buchverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783804230279
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die Herzogtümer Schleswig und Holstein gehören zu den wichtigen Schauplätzen europäischer Kultur in der Goethezeit. Von hier aus gingen Expeditionen in die geheimnisvollen Welten Arabiens, hier wurde Shakespeare für die deutsche Literatur entdeckt und Homer in deutsche Verse übertragen, und hier trafen sich deutsche und dänische Dichter im Geist von Klassik und Romantik. Einer der vergessenen Bestseller-Autoren der Epoche war Johann Gottwerth Müller, genannt 'Müller von Itzehoe'; der Erfolg seiner Romane stand dem des 'Werther' nur wenig nach. Dieter Lohmeier, einer der besten Kenner der schleswig-holsteinischen Kultur- und Literaturgeschichte, erzählt in diesem Buch von einer glanzvollen Epoche - und von ihren Schattenseiten, zu denen die Schicksale schwarzer Sklaven in holsteinischen Herrenhäusern gehören. Das Nachwort von Heinrich Detering würdigt die wissenschaftlichen Arbeiten Lohmeiers, zu dessen 65. Geburtstag dieses Buch erscheint, als maßgeblichen Beitrag zu unserer Kenntnis einer 'weltliterarischen Provinz'.

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Leseprobe

Der Edelmann als Bürger


Über die Verbürgerlichung der Adelskultur im dänischen Gesamtstaat


Christian Degn in memoriam

Der Adel als die führende Schicht der europäischen Gesellschaft im späten Mittelalter gerät am Beginn der Frühen Neuzeit in einen Wandlungsprozeß, der teils Symptom, teils Folge der ‚allgemeinen Krise‘ in Europa1 ist. In Staat, Wirtschaftsleben und Bildungswesen sieht er die Grundlagen seiner traditionellen gesellschaftlichen Rolle in Frage gestellt und tiefgreifend verändert. Fast überall in Europa ist die Adelskultur des Barockzeitalters, trotz aller scheinbar selbstbewußten Prachtentfaltung, von dieser Krise geprägt. Für den französischen Bereich hat das besonders Norbert Elias ins Bewußtsein gerückt,2 für den süddeutsch-österreichischen Otto Brunner,3 und für den nordeuropäischen hat ein Kieler Kolloquium aufschlußreiche Belege geliefert.4

Um die Wende zum 18. Jahrhundert scheint diese Krise überwunden zu sein: Mit der Stabilisierung des Absolutismus stabilisiert sich allem Anschein nach auch die Situation des Adels von neuem, obgleich in den verschiedenen Staaten mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Während die führenden Familien in Frankreich ganz in der repräsentativen Existenzform des Hofadels aufgehen und während ihnen in den katholischen Teilen des Alten Reichs weiterhin die Möglichkeit bleibt, sich in den geistlichen Fürstentümern neben den weltlichen Souveränen zu behaupten, passen sie sich in den norddeutsch-protestantischen Ländern den Verhältnissen so weit an, daß sie imstande sind, die ihnen unter gewandelten Bedingungen gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Eine dieser Möglichkeiten ist es, im fürstlichen Dienst – vorzugsweise in fremden Territorien – als Beamter Karriere zu machen. Da nun der protestantische Adel in Deutschland wie auch in Dänemark und Schweden seine Bildungsideale schon früh dieser Entwicklung anpaßt,5 seine Söhne in immer größerer Zahl auf die Universitäten schickt und sie anschließend in den Regierungsbehörden und im diplomatischen Dienst lernen läßt,6 kommt es zur Ausbildung eines neuen Dienstadels, der imstande ist, die Gelehrten Räte und Verwaltungsfachleute bürgerlicher Herkunft aus ihren Positionen zu verdrängen,7 und der den Staatswesen des Aufgeklärten Absolutismus das Gepräge gibt. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung vollzieht sich ein wirtschaftlicher Strukturwandel, der dem Adel erhöhte Einnahmen aus seinem Landbesitz sichern soll: Die Grundherrschaft wird, vor allem in den ehemaligen Kolonisationsgebieten nördlich und östlich der Elbe, zur Gutsherrschaft mit erhöhter Eigenwirtschaft des Großgrundbesitzers und verschärfter Abhängigkeit der Gutsuntergehörigen. Und wie sich manche Söhne des Adels gezielt auf eine Beamtenlaufbahn vorbereiten, so spezialisieren sich andere in zunehmendem Maße zu Landwirten. Nicht selten scheinen dabei die verschiedenen Rollen in der Familie mehr oder minder planmäßig verteilt worden zu sein, so daß dem Stand oder der Familie an Vielseitigkeit erhalten blieb, was dem einzelnen Adligen durch die zunehmende Arbeitsteiligkeit und berufliche Spezialisierung entzogen wurde. Das Ergebnis dieser Entwicklungen des 18. Jahrhunderts ist eine letzte Blüte der Adelskultur, in der sich das alte Europa noch einmal von seiner kultiviertesten Seite zeigt, ehe es in den Napoleonischen Kriegen, den Nationalitätenkämpfen und der industriellen Revolution untergeht.

Die Eigenart dieser Blütezeit der Adelskultur läßt sich besonders gut am Beispiel des dänischen Gesamtstaates zeigen. Dieser war in mancher Hinsicht eine idealtypische Verkörperung des Aufgeklärten Absolutismus:8 ein übernationales Gebilde, in dem Dänemark, Norwegen, Island, Schleswig und Holstein in der Person des Monarchen zusammengehalten wurden, ohne staatsrechtlich eine Einheit zu bilden, und ein Staatswesen, in dem sich seit der Etablierung und verfassungsmäßigen Absicherung des Absolutismus ein starkes Beamtentum gebildet hatte, dessen adelige Spitze unter den schwachen Königen Friedrich V. und Christian VII. praktisch das Regiment führte. Man kann hier durchaus von einem „Beamtenabsolutismus“9 sprechen, der während des kurzen Regiments des bürgerlichen Aufklärers Johann Friedrich Struensee in den Jahren 1770 bis 1772 sogar eine ausgesprochen ‚josefinische‘ Phase durchlief.10 Nicht zuletzt herrschten im dänischen Gesamtstaat wirtschaftliche Verhältnisse, wie sie allgemein die Bedingung für die Ausbildung des aufgeklärten Absolutismus gewesen zu scheinen:11 Der Staatsverband umfaßte durchweg Gebiete mit überwiegend agrarischer Produktionsweise, und die Regierung suchte durch wirtschaftspolitische Maßnahmen aller Art den Anschluß an das moderne Wirtschaftsleben Englands und Frankreichs zu betreiben, ohne nachhaltige Erfolge zu erzielen. Eine mehr als achtzigjährige Friedenszeit nach dem Ende des großen Nordischen Krieges, ein erfolgreiches Engagement im Überseehandel und eine besonders günstige Agrarkonjunktur brachten jedoch dem ganzen Land, insbesondere aber dem Adel und den Großkaufleuten, einen Wohlstand, der allen Bereichen der materiellen Kultur zugute kam und die herrschenden Stilrichtungen sich ohne nennenswerte Beeinträchtigung entfalten ließ. Wegen des hohen Bildungsniveaus des im Gesamtstaat tonangebenden Adels gibt es zudem eine Fülle schriftlicher Quellen, die dem Historiker die Interpretation der stummen kulturellen Zeugnisse beträchtlich erleichtern. Durch eine lange Forschungstradition, als deren Begründer vor allem Aage Friis, Louis Bobé und Otto Brandt genannt werden müssen,12 sind diese Quellen so weit aufgearbeitet und erschlossen, daß sie, trotz aller nach wie vor möglichen und auch nötigen Ergänzungen, in ihren Grundzügen und Schwerpunkten zu überblicken sind. Aus allen diesen Gründen ist der dänische Gesamtstaat als Paradigma für die Erforschung der Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts und damit eines wichtigen Aspekts der Kulturgeschichte des absolutistischen Zeitalters besonders gut geeignet. Südlich der Elbe scheint das jedoch nur wenig bekannt geworden zu sein.

Die folgenden Hinweise auf einige charakteristische Züge der Adelskultur des dänischen Gesamtstaats zielen deshalb über ihren speziellen Gegenstand hinaus auf allgemeine Erscheinungen der Kulturund Gesellschaftsgeschichte, insbesondere auf die für den Aufgeklärten Absolutismus bezeichnende „Verbürgerlichung des Adels“13 und damit auf den Prozeß der „Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert“.14 Dabei soll deutlich werden, wie sehr sich führende Kreise des Adels spezifisch bürgerliche Normen und Vorstellungen wie die Betonung der Werte des Privatlebens, das Bildungsstreben, das Leistungsdenken oder die Anerkennung des Konkurrenzprinzips im Wirtschaftsleben zu eigen gemacht haben und wie sehr diese Elemente durch ihre Einbettung in die soziale Wirklichkeit des Adels im späten 18. Jahrhundert und die Verquickung mit traditionell adligen Normen und Verhaltensmustern gebrochen und umgeformt werden. Eine Erklärung dieser Entwicklung geht über die Möglichkeiten dieses Aufsatzes hinaus; sein Zweck ist es, zunächst einmal ein bisher nur unbefriedigend geklärtes Problem zu umreißen.

Grundlage der Darstellung ist die reichhaltige Überlieferung gedruckter und ungedruckter Quellen aus dem Familienkreis der Bernstorff, Reventlow, Schimmelmann, Stolberg und Baudissin.15 Die Beobachtungen betreffen also eine im dänischen Gesamtstaat politisch und sozial einflußreiche Gruppe von Adligen und dürfen insofern als repräsentativ gelten. Allerdings ist zu bedenken, daß das Ergebnis der Untersuchung durch die naheliegende und letztlich auch unumgängliche Wahl der Materialbasis schon entscheidend vorgeprägt ist, denn das Bedürfnis nach brieflichem Gedankenaustausch und schriftlicher Selbstdarstellung ist bei weitem nicht im gesamten Adel so stark ausgeprägt wie gerade im Kreise der genannten Familien; es ist, recht besehen, selbst schon ein Ausdruck der Verbürgerlichung. Man wird folglich damit rechnen müssen, daß die im folgenden besprochenen Erscheinungen nicht für den ganzen Adel gelten, sondern allenfalls für die Gruppe des in generationenlanger Bildungstradition und Verwaltungstätigkeit zum Umgang mit der Feder erzogenen Dienstadels. Die Gegenprobe zu machen aber ist schwer, eben weil es an ähnlich beredten Zeugnissen aus anderen Gruppen des Adels fehlt.

Aus den Zeugnissen der Mitglieder des Bernstorff-Reventlowschen Kreises gewinnt man freilich den Eindruck, daß sie unter ihren Standesgenossen nicht isoliert gewesen sind, sondern sich, bei allem engen Zusammenhalt untereinander, in einem recht weiten Umfeld prinzipiell Gleichgesinnter bewegt haben; ihre Abwehrreaktionen gelten nicht so sehr andersdenkenden Adligen als vielmehr dem Gesellschafts- und Weltzustand, in dem zu leben sie sich genötigt sehen. Überhaupt muß man sich wohl vor einer Unterschätzung der weniger schreibfreudigen Adligen hüten, denn daß von ihnen nicht so zahlreiche literarische Selbstzeugnisse vorhanden sind, ist vermutlich in weit geringerem Maße eine Frage der Ausdrucksfähigkeit als eine der Ausdruckswilligkeit; das zeigt beispielsweise die Beschreibung eines Adelichen Guths in Holstein von Josias von Qualen16 oder der Briefwechsel eines so überzeugten Landjunkers wie Andreas Gottlieb von Bernstorff.17 Es ist daher ratsam, die Darstellungen unkultivierter Landadliger in Satire und Publizistik der Aufklärung nicht unbesehen für Abbilder der Wirklichkeit zu halten, wie das in der einschlägigen Forschungsliteratur gar zu oft geschieht. Das Musterexemplar des ungebildeten...

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