Kapitel 1
DAS ERSCHEINEN EINER WELT
Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Die Essenz des Phänomens des bewussten Erlebens besteht darin, dass eine einzige und einheitliche Wirklichkeit in die Gegenwart tritt: Wenn wir bewusst sind, erscheint uns eine Welt. Dies gilt für Träume ebenso wie für den Wachzustand; im traumlosen Tiefschlaf dagegen erscheint nichts: Die Tatsache, dass eine äußere Wirklichkeit existiert und dass wir darin anwesend sind, ist uns nicht zugänglich. Wir wissen nicht einmal, dass wir selbst existieren.
Bewusstsein ist ein ganz besonderes Phänomen, weil es Teil der Welt ist und gleichzeitig die Welt enthält. All unsere wissenschaftlichen Daten deuten drauf hin, dass Bewusstsein Teil der physikalischen Welt und zugleich ein evolvierendes biologisches Phänomen ist. Bewusstes Erleben ist jedoch weit mehr als Physik plus Biologie – mehr als der Tanz eines fantastisch komplexen, rhythmischen Musters neuronaler Entladungen in unserem Gehirn. Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich von anderen biologisch evolvierten Phänomenen grundlegend dadurch, dass es eine Wirklichkeit dazu bringt, in sich selbst zu erscheinen. Es erzeugt Innerlichkeit: Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.
Nach den verfügbaren Daten über Gehirne von Tieren und evolutionäre Kontinuität zu urteilen, ist das Erscheinen von Welten in biologischen Nervensystemen ein neueres Phänomen, vielleicht nur ein paar Millionen Jahre alt. In der Darwin’schen Evolution könnte eine Frühform des Bewusstseins vielleicht vor etwa 200 Millionen Jahren in den primitiven Großhirnrinden von Säugetieren entstanden sein. Es verlieh ihnen eine Körperwahrnehmung, ein Gefühl für ihre Umwelt und steuerte Teile ihres Verhaltens. Meine eigene, rein intuitive Vermutung ist, dass auch Vögel, Reptilien und Fische schon seit langer Zeit eine einfache Art von Bewusstheit besitzen. Jedenfalls kann ein Tier, das nicht logisch denken und auch keine Sprache sprechen kann, zweifellos transparente phänomenale Zustände haben – und mehr bedarf es nicht, um eine Welt im Bewusstsein erscheinen zu lassen. Bekannte Bewusstseinsforscher und theoretische Neurobiologen wie Bernard Baars, Anil Seth und David Edelman haben siebzehn Kriterien für Hirnstrukturen aufgestellt, die sehr wahrscheinlich dem Bewusstsein dienlich sind, und nicht nur bei Säugetieren, sondern auch bei Vögeln und möglicherweise sogar bei Tintenfischen sind die Belege für die Existenz solcher Strukturen oder sehr ähnlicher Funktionen überwältigend. Die empirische Evidenz für die Existenz von Bewusstsein bei Tieren ist mittlerweile weit jenseits jedes vernünftigen Zweifels.1 Genau wie wir sind auch Tiere »naive Realisten«, und wenn sie etwa Farbempfindungen haben, dann kann man plausiblerweise davon ausgehen, dass diese ihnen mit der gleichen Qualität der Direktheit, Gewissheit und Unmittelbarkeit erscheinen wie uns selbst. Der philosophische Punkt ist dagegen, dass wir all das in Wirklichkeit natürlich nicht wissen. Denn hierbei handelt es sich genau um die Art von Fragen, die wir erst genauer untersuchen können, wenn wir eine befriedigende Theorie des Bewusstseins aufgestellt haben.
Ein wesentlich jüngeres Phänomen trat vor wenigen tausend Jahren in Erscheinung: die bewusste Bildung von Theorien im Geist von menschlichen Philosophen und Wissenschaftlern. Jetzt spiegelte sich der Lebensprozess nicht nur in individuellen bewussten Organismen wider, sondern auch in Gruppen von menschlichen Wesen, die das Auftreten des selbstbewussten Geistes als solchem zu verstehen versuchten – also was genau es bedeutet, dass etwas »in sich selbst erscheint«. Vielleicht ist das faszinierendste Merkmal des menschlichen Geistes nicht so sehr, dass er manchmal bewusst sein kann oder sogar dass er die Entstehung eines phänomenalen Selbstmodells, eines PSM, ermöglicht. Wirklich bemerkenswert ist eher die Tatsache, dass wir die innere Aufmerksamkeit auch auf die Inhalte unseres PSM lenken und dann sogar Begriffe über sie bilden können. Wir können miteinander über seinen Inhalt kommunizieren, und wir können diesen Vorgang wiederum als unsere eigene Aktivität erleben. Der Prozess, bei dem wir unser inneres Erleben bündeln und es selbst noch einmal auf unsere Gedanken und Emotionen richten, auf unsere eigenen Wahrnehmungen und körperlichen Empfindungen, wird nämlich seinerseits wieder in das bereits bestehende Selbstmodell eingebunden. Und diese Eigenschaft unterscheidet uns, wie bereits bemerkt, wahrscheinlich von den meisten anderen Tieren auf diesem Planeten: die Fähigkeit, die Erste-Person-Perspektive aktiv nach innen zu wenden, unsere Gefühlszustände zu erforschen und die Aufmerksamkeit auf unsere Denkvorgänge zu lenken. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von »höherstufigen« Ebenen des PSM. Diese erlaubten uns, uns der Tatsache bewusst zu werden, dass wir Repräsentationssysteme sind.
Im Verlauf der Jahrhunderte haben die Theorien, welche wir entwickelt haben, schrittweise unser eigenes Bild von uns selbst verändert, und indem sie das taten, haben sie auf subtile Weise auch den Inhalt des Bewusstseins selbst verändert. Es ist richtig, dass Bewusstsein ein robustes Phänomen ist, das sich nicht einfach dadurch verändert, dass wir auf einmal andere Meinungen über es besitzen. Es verändert sich aber durch die Praxis selbst, durch die Art, wie wir in unserer ganz eigenen Lebenswelt handeln (denken wir nur an Weinkenner, Parfümdesigner, Ausdruckstänzerinnen oder musikalische Genies). Menschen in anderen historischen Epochen – etwa während des vedischen Zeitalters im Alten Indien (also etwa von 1500 bis 600 v. Chr.) oder während des europäischen Mittelalters, als Gott noch als eine reale und konstante Gegenwart wahrgenommen wurde – kannten wahrscheinlich Formen des subjektiven Erlebens, die uns heute fast unzugänglich sind. Viele tiefe Formen des bewussten Selbsterlebens sind im Gefolge der philosophischen Aufklärung und des Aufstiegs von Naturwissenschaft und Technologie so gut wie unmöglich geworden – zumindest für die vielen Millionen von gebildeten und wissenschaftlich informierten Menschen in den reichen Ländern. Neue sind entstanden. Theorien verändern die soziale Praxis, und die Praxis verändert irgendwann die Gehirne selbst, die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Theorie der neuronalen Netze beschreibt die Informationsarchitektur im Gehirn von Menschen und anderen Tieren, bei der Milliarden einzelner Nervenzellen in der Art eines Netzes miteinander verknüpft sind, in dem sich dann ständig Aktivitätsmuster bilden und sich in immer neue Muster verwandeln. Durch diese Theorie haben wir gelernt, dass die Unterscheidung zwischen der Struktur und dem Inhalt – also zwischen dem Träger eines mentalen Zustands und dessen innerer Bedeutung – nicht so eindeutig ist, wie gerade viele Geisteswissenschaftler oft annehmen. Die Bedeutung verändert nämlich die Struktur selbst, wenn auch häufig nur langsam. Und die Struktur ist ihrerseits das, was am Ende unser inneres Leben bestimmt, den Fluss des bewussten Erlebens.
In den frühen 1970er Jahren, nachdem die große Zeit des Behaviorismus vorbei war, wuchs wieder das Interesse an Bewusstsein als einem Gegenstand ernsthafter Forschungen. In einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen avancierte das Thema des subjektiven Erlebens nach und nach zur heimlichen Forschungsfront. Dann, im letzten Jahrzehnt des 20.?Jahrhunderts, akzeptierten endlich etliche bedeutende Hirnforscher Bewusstsein auch in der Öffentlichkeit als ein für die streng naturwissenschaftliche Forschung angemessenes Erkenntnisziel. Von da an begannen die Dinge sich sehr schnell zu entwickeln. Im Jahr 1994, im Anschluss an eine sehr bunte Konferenz von Bewusstseinsforschern in Tucson, Arizona, half ich dabei, eine neue Organisation zu gründen, die Association for the Scientific Study of Consciousness (ASSC). Ihr Ziel besteht darin, den harten Kern der wirklich ernsthaften Forscher in der Naturwissenschaft und aus der Philosophie des Geistes zusammenzubringen. Die Zahl von wissenschaftlichen Tagungen und Zeitschriftenartikeln stieg steil an.2 Im folgenden Jahr gab ich eine Sammlung philosophischer Texte unter dem Titel Bewusstsein – Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie heraus, die gleichzeitig auch auf Englisch erschien.3 Als ich mit einem meiner ASSC-Mitgründer, dem australischen Philosophen David Chalmers, die Bibliographie für dieses Buch zusammenstellte, deckte sie den Zeitraum von 1970 bis 1995 ab und enthielt etwa tausend Einträge. Zehn Jahre später, als ich diese Bibliographie für die fünfte deutsche Auflage überarbeitete, umfasste sie fast 2700 Einträge. An diesem Punkt gab ich jeden Versuch auf, die neu entstehende Fachliteratur über Bewusstsein komplett zu erfassen – es war ganz einfach nicht mehr möglich. Das Feld der seriösen Bewusstseinsforschung ist jetzt fest etabliert und entwickelt sich stetig weiter.
Auf dem Weg dahin haben wir viele Lektionen gelernt. Wir haben gelernt, wie groß die Angst vor dem Reduktionismus ist, in den Geisteswissenschaften genauso wie in der allgemeinen Öffentlichkeit, und wie groß der Markt für Irrationalismus und Obskurantismus ist, für das, was man in den angelsächsischen Ländern »Mysterianism« nennt – die Tendenz, immer neue Nebelkerzen zu werfen und das Problem des Bewusstseins zu einem unlösbaren Mysterium hochzustilisieren. Es gibt natürlich eine klare und eindeutige philosophische Antwort auf die weitverbreitete Furcht, wonach...