Wir Babyboomer
Man sieht uns nicht, dabei sind wir überall. Man erkennt uns nicht auf den ersten Blick, weil wir keine besonderen Kennzeichen besitzen. Wir sind das unsichtbare Skelett und Nervensystem unserer Gesellschaft. Wir bewirken, dass sie sich leise nachhaltig verändert, aber es merkt keiner. Wir sind da. Darauf muss wie auf jede Selbstverständlichkeit hingewiesen werden. Und wir werden noch eine Weile bleiben. Wir sind die Babyboomer.
Von den Menschen, die heute in Deutschland leben, ist etwa jeder vierte ein Babyboomer. Wir sind die zahlenstärkste Generation, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat und nach aller Voraussicht je hervorbringen wird. Im Spitzenjahrgang 1964 wurden in Ost- und Westdeutschland zusammen etwa doppelt so viele Menschen geboren wie im bisherigen Niedrigstjahrgang 2009 – 1?357?304, um genau zu sein. Sollten die Babyboomer in den Jahren 2025 bis 2030 geschlossen in Rente gehen, würden die Sozialversicherungssysteme vor eine historische Belastung gestellt.
Das rückte uns Boomer in letzter Zeit vermehrt in die öffentliche Wahrnehmung. Frank Schirrmacher und Thilo Sarrazin haben mit ihren Büchern Das Methusalem-Komplott und Deutschland schafft sich ab eine laute Debatte über die Alterung der Gesellschaft und die Zeit nach der Verrentung der Boomer in Gang gesetzt.
Im Kielwasser dieser Demografieschocker hat sich mancherorts ein richtiggehendes Generationenscharmützel abgespielt. So etwa, wenn der CDU-Nachwuchs-Parlamentarier Jens Spahn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Babyboomer beschuldigte, sich den Realitäten der von ihnen verursachten Entwicklung zu verweigern. Oder wenn der selbsternannte Anwalt der Youngsters, Wolfgang Gründlinger, immer wieder herunterbetet, dass der Nachwuchs ausbaden muss, was die »Alten« (auch und gerade die Boomer) ihm eingebrockt haben, und dass das alles wie in der Ben & Jerry’s-Werbung nicht fair sei. Oder wenn jüngst der Soziologe Heinz Bude in der Süddeutschen Zeitung ernsthaft die Frage in den Raum stellte, ob es nicht gerecht sei, die Babyboomer die Kosten für ihre »nachlassende Fruchtbarkeit« selbst tragen zu lassen. In dieselbe Kerbe haut Beatrice Scheubel von der Europäischen Zentralbank, die in der Süddeutschen vorschlug, die Rentenhöhe an die Kinderzahl zu koppeln.
Klingt alles nicht gut. Die Babyboomer werden vorwiegend als Akteure und Verursacher eines bedrohlichen Szenarios gesehen. Als Vorreiter einer vergreisenden Gesellschaft. Als Menetekel eines bevorstehenden demografischen Super-GAUs. Als bedrückende gesellschaftliche Hypothek, die in nicht allzu ferner Zukunft fällig wird, oder, wie es Gustav Seibt unlängst in der Süddeutschen formulierte, als Methusalem, der sich heranwälzt wie ein Gewitter. So gesehen wären wir Boomer tatsächlich ein Boomerang, den die Wirtschaftswundergesellschaft von sich geworfen hat und der ihr fünfundsechzig Jahre später als Methusalemfratze zurück ins Gesicht fliegt. Diese Sichtweise ist verzerrt und einseitig. Leider ist sie teilweise auch richtig. Aber nur teilweise.
Wir Boomer nehmen diese überhitzten Alarmrufe sportlich. Wir besitzen ein ausgeprägtes Gruppen-Selbstbewusstsein, das uns davor bewahrt, über uns selbst in Panik zu geraten. Wir sind zwar unorganisiert wie ein Rudel Meerkatzen und besitzen keine Lobby, aber dafür sind wir immer und überall die Mehrheit.
Vielleicht haben wir uns deshalb nie die Frage gestellt, was unsere Generation ausmacht. Wie wurden wir sozialisiert, welche Vorlieben haben wir, wie ticken wir, was kann man von uns erwarten, lassen wir uns überhaupt auf einen Nenner bringen? Und, ja bitte, natürlich: Was passiert überhaupt, wenn wir in Rente gehen, ist das dann wirklich das Ende von allem?
Nahezu jede Generation besitzt ihr eigenes Profil und Psychogramm, das seinen Ausgangspunkt bei einem Namen (Golf, 68 etc.) hat, ansonsten aber weit darüber hinausreicht. Uns Boomern nähert man sich allerdings am besten über Ausschlusskriterien. Wir sind keine Anschauungslagerkämpfer wie die ewig auf forte gebürsteten »Achtundsechziger« und auch keine Zyniker und Oberflächenfetischisten wie die quadratisch-praktisch-guten »Golfer«. Wir sitzen irgendwie zwischen den Stühlen, oder besser gesagt: Wir setzen uns gar nicht erst länger irgendwo hin. Wir stehen auf keinem Fundament fester Überzeugungen, gleichzeitig spielen Werte für uns eine große Rolle.
Soweit es überhaupt eine positive Anknüpfung gibt, so wäre es eben die des Booms. Wir Boomer verdanken unsere Existenz ja dem Wachstumsrausch der späten Wirtschaftswunderjahre, als es überall »Boom« machte wie bei einem Silvesterfeuerwerk, unsere Existenzängste hingegen den Siebzigerjahren jener Zeit aufkommender globaler Krisen – Atomkrieg, Ölkrise, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung. Wir Boomer sind der lebende Beweis für das Trügerische des Wachstumsdenkens. Wir haben internalisiert, dass Wohlstand, Geburtenrate und Glück nicht dauerhaft steigerbar sind.
Der Boom
Wenn hier von »Boomern« die Rede ist, so ist die Speerspitze der Babyboomer gemeint, geboren auf dem Höhepunkt des so genannten Babybooms. Das waren die Jahre zwischen 1960 und 1965, als JFK, Marilyn und Adenauer gingen und LSD, die Beatles und das Farbfernsehen kamen. Als auch Deutschland, zumindest der westliche Zwilling, mit Hilfe von Meister Proper, den Pril-Blumen und Smarties endlich bunter wurde. Und bevor Emanzipation und Pille dem Boom ein Ende setzten.
Das Wort »Boomer« besagt eigentlich schon alles. Das Verb to boom bezeichnet in der englischen Sprache einen meist mit Lärm verbundenen Vorgang der Beschleunigung. Das Wort kann, zum Beispiel bezogen auf ein Flugzeug, mit »steigen«, »dröhnen« oder »brummen« übersetzt werden. Bezogen auf eine Welle kann es auch »brausen« bedeuten. A booming ship meint ein Schiff in vollen Segeln. Ein Betrieb, eine Geschäftsidee oder eine Volkswirtschaft können boomen im Sinne von »blühen« oder »florieren«. Umgangssprachlich wird to boom daneben auch in der Bedeutung von »streunen« oder »hausieren« verwendet – wie im Fall von Boomer, dem Streuner, dem Hund und Titelhelden der US-amerikanischen Fernsehserie. Dieses Streunertum wird in der Biografie, die wir hier schreiben, eine nicht geringe Rolle spielen.
Im deutschen Sprachgebrauch findet das Wort Boom seine größte Verbreitung im Zusammenhang mit den Begriffen Wirtschaft und Baby.
Ein Wirtschaftsboom – mit anderen Worten: Hochkonjunktur – ist eine Phase im marktwirtschaftlichen Konjunkturzyklus, die meistens auf eine expansive Aufschwungphase folgt, und der in der Regel eine Abschwungphase (Rezession) und gelegentlich auch eine Tiefphase (Depression) nachfolgen. Kennzeichen eines Wirtschaftsbooms sind Auslastung der Produktionsmittel, Vollbeschäftigung sowie steigende Preise und Löhne. Das buchstäbliche Goldene Zeitalter also. Ein Zustand, wo es flutscht, die Hemdsärmel hochgehen und alle gut gelaunt sind. Eine Stimmung wie im Playmobil-Park oder Happy-Hippo-Land.
Niemanden wundert, dass so etwas nicht lange gutgehen kann. Es ist ja im Grunde auch beängstigend. Was also folgt auf den Boom? Eben: Die Produktion wird so lange gesteigert (Wachstum!), bis eine Sättigung eintritt und die Spirale wieder abwärts geht. Die große Boomphase der deutschen Nachkriegszeit endete 1966, als das Bruttoinlandsprodukt erstmals seit 1949 wieder sank.
Als Babyboom bezeichnet man Phasen geburtenstarker Jahrgänge. In den USA begann eine solche bereits direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, in Deutschland begann sie ab Mitte der Fünfzigerjahre und endete um die Mitte der Sechzigerjahre.
Natürlich bedingen Babyboom und Wirtschaftsboom einander. Man kann sich zwar streiten, was zuerst da war, doch hatte die unerhörte Geburtenwelle in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre zur Folge, dass Häuser, Straßen und Autos gebaut, Energie erzeugt, Nahrungsmittel produziert und eine Infrastruktur bereitgestellt werden mussten. Wir Babyboomer bewirkten, dass alles boomte: der Immobilienmarkt, der Arbeitsmarkt und der Konsumgütermarkt. Das Phänomen des Wachstums, das jahrzehntelang unser Denken bestimmen sollte, bedeutete nichts anderes, als dass für die ankommenden Massen zu sorgen war. Dafür brauchte es weder besondere Tugenden noch Leute wie Ludwig Erhard. Es brauchte nur den Schwarm der Babyboomer.
Wir sind ein Wirtschaftsfaktor und werden es bleiben. Wir haben Kaufkraft generiert. Schon als Babys haben wir Weltmarken wie Pampers und Alete den Weg bereitet. Als Erwachsene bestimmen wir durch unser Konsumverhalten nach wie vor das Aussehen des Landes. Die Babyboomer sind ernst zu nehmende Verbraucher, weil sie als größte Bevölkerungsgruppe auch über das meiste Geld verfügen. Wo die Boomer auftauchen, klingelt die Kasse. Eine Stütze der Konsumgesellschaft also. In nicht mehr allzu ferner Zukunft werden wir Babyboomer als Pflegefall ganz neue Märkte erschließen, noch im Rollstuhl werden wir boomen. Aber bis dahin ist noch Zeit.
Generationenfragen
Eines ist klar: Es ist fast unmöglich, auch nur einen Satz über eine bestimmte Generation zu Papier zu bringen, ohne unrettbar in Abgründe voller Klischees zu geraten. Schon der Begriff »Generation« ist so gut wie gar nichts mehr wert, da er völlig inflationär gebraucht wird. Egal wohin man schaut, jede noch so geringfügige Erscheinung mit einem Hauch von gesellschaftlicher Relevanz wird gleich zu einer »Generation« gehypt und mit dem entsprechenden Stem-pel versehen: »Generation Krise«,...