1925 Die Welzenbach-Skala
»Die Kletterleistungen der letzten Jahre fordern die Einführung eines neuen Schwierigkeitsgrades«, schreibt Welzenbach 1925. Wenig später legt er seine Idee dazu vor: »Mein Vorschlag: zur Vereinheitlichung des Schwierigkeitsbegriffes und zur Bewertung der Schwierigkeit in der Auseinandersetzung Mensch/Fels in einer Kletterführe knüpfe ich an Karl Planck, den Sohn des Physikers Max Planck, sowie Hans Dülfer an, der die höchsten Schwierigkeiten mit römisch V beschrieb. Routen wie die Fleischbank-Südostwand im Kaisergebirge oder die Furchetta-Nordwand in den Dolomiten sind aber um einen Grad schwieriger als die schwierigsten Routen der Vorkriegszeit und damit nach bisheriger Einteilung mit VI zu bewerten. Eine Erweiterung der fünfstufigen Skala um einen sechsten Grad ist also für die Praxis sinnvoll und notwendig. Mit der Benennung »äußerst schwierig« für den sechsten Grad ist die äußerste Grenze dessen definiert, was ein erstklassiger Kletterer zu leisten vermag. Dem sechsten Grad als Grenzwert entspricht Solleders Weg durch die Civetta-Nordwestwand. Vielleicht sollte noch eine untere und obere Grenze innerhalb jedes Grades vorgesehen und die Gesamtleistung mitbewertet werden. Ich hoffe, damit eine allgemeine Grundlage für eine zeitgemäße alpine Schwierigkeitsbewertung zu liefern.«
Stadtbaurat Willo Welzenbach
Welzenbachs Vorschlag folgt die übliche Diskussion in der Kletterszene: Hanns Barth, der Bearbeiter des Führerwerks »Der Hochtourist«, schlägt vor, bei der fünfstufigen Skala zu bleiben und die höchste Stufe mit »äußerst schwierig« zu benennen.
»Es wäre schwierig, in einem Führerwerk wie dem in Auftrag des Alpenvereins für Hochtouristen herausgegebenen einheitliche Einstufungen zu definieren«, meint ein anderer.
»Sonntagsbergsteigern aber ist Einheitlichkeit wichtig«, wirft ein Dritter ein.
»Unterschiedliche Bewertungen in verschiedenen Gebirgsgruppen könnten zu Missverständnissen führen«, sagen weitere Stimmen.
»Für den ›Hochtouristen‹«, meint Welzenbach, »müssten von Leuten, die über die nötige Kenntnis verfügen, Richtigstellungen vorgenommen werden, und zwar für alle Schwierigkeitsgrade.« Später ergänzt er noch: »Den Nutzen einer einheitlichen Bewertung sehe ich darin, dass jeder, auch in einem ihm unbekannten Gebirge, seinem Können entsprechende Kletterwege wählen kann. Sonst wäre der Preuß’sche Grundsatz ›Das Können ist des Dürfens Maß‹ in der Praxis nicht viel wert.«
In diesem Jahr 1925 hat Welzenbach 149 Gipfel bestiegen, neunzehn Erstbegehungen sind ihm gelungen, dazu arbeitet er an einem Führerhandbuch über das Wettersteingebirge. Er gilt – in allem, was er tut – als exakter und objektiver Mann, und er hat das Talent und die Gabe, Routen in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, ohne dabei im Klein-Klein steckenzubleiben. Alles was er angeht, macht er mit Begeisterung. Im Wettersteingebirge klettert er alle Wege, die zu klettern sind, und eröffnet dazu neue Routen. Seine Bergfreunde in dieser Zeit – Paul Bauer, Adolf Deye, Eberhard Müller, Hubert Rüsch und Karl Wien – begleiten ihn bei seiner Serie von Erstbegehungen.
Im darauffolgenden Winter reist Welzenbach nach ein paar Skitouren in den Ostalpen zu Ostern in die Bernina. Paul Bauer ist dabei. Am 3. April erklettern sie den Piz Scerscen über die Eisnase. Einen 60 bis 70 Grad steiler Eiswulst. Welzenbach ist in seinem Element, er meistert die Schlüsselstelle dieser Eistour. Zwei Tage später stehen die beiden auf dem Piz Roseg. Bauer blickt mit Bewunderung und Neid auf seinen Partner.
Arnold Lunn nennt Welzenbach dann im englischen »Ski Year Book 1926« einen der führenden Winterbergsteiger. »Ein Ehrenplatz für die Entwicklung des Skibergsteigens«, schreibt Lunn, »gilt dem Münchner Akademischen Alpenverein«, dem Welzenbach und Bauer ja angehören.
Im Frühsommer 1926 klettert Welzenbach im Dachstein und im Kaisergebirge. Dabei wird er in der Winklerscharte zweimal vom Blitz getroffen, in der Winklerschlucht dann von wolkenbruchartigem Regen beinahe hinuntergespült.
Welzenbach klettert, schreibt, tüftelt an seiner Eistechnik, entwickelt einen Eishammer und produziert sogar sein eigenes Biwakzelt: eine Plane mit drei Ecken, die in der Mitte von einem Eispickel hochgehalten wird. Beide Produkte werden unter seinem Namen in München vertrieben.
Später im Jahr ist Welzenbach am Mont Blanc, wo er mit Eugen Allwein einen Versuch am Südgrat der Aiguille Noire de Peuterey wagt, dann im Wallis, wo mit Fritz Rigele die Besteigung der Nordwestwand des Breithorns gelingt.
Welzenbachs schwierigste Erstbegehung aber bleibt die direkte Nordwand der Schönangerspitze, die ihm bereits am 4. Oktober 1925 gelingt, gemeinsam mit Paul Bauer. Die Schwierigkeiten in der Gipfelwand – senkrechter Fels, brüchige Risse und Überhänge, abschüssige Platten – veranlassen ihn, über die Grenzen des Kletterbaren nachzudenken. Er weiß, dass schon Hans Fiechtl, Otto Herzog und Hans Dülfer Haken und Karabiner eingesetzt haben, um gesichert an diese Grenzen heranzukommen. Die Erfindung dieser künstlichen Kletterhilfen und der damit möglichen Seilzüge und Pendelquergänge waren doch Voraussetzung für moderne Touren. Aber reichen sie aus, um wirklich alle Schlüsselpassagen in den Alpen zu meistern?
Bereits 1922 hatte Welzenbach, der Weitsichtige, das bestehende Bewertungssystem der Schwierigkeit von Routen in Frage gestellt: »Meine Ansicht geht dahin, dass mit den bergsteigerischen Erfolgen der Nachkriegszeit die oberste Grenze dessen, was ein Mensch zu leisten vermag, nahezu erreicht ist. Ob dem so ist, wird die Zukunft zeigen.«
Widerstände gegen seine 1925 vorgeschlagene Bewertung von Routen kommen inzwischen vor allem aus England, wo das traditionelle Bergsteigen seine Wiege hat: »Bewertungen würden den Ehrgeiz der Jugend allzu sehr anstacheln.« Zudem könnte ein solches System Bergsteiger verführen, ihre Leistungen zu vergleichen und damit ein Wettbewerbsverhalten auslösen, das im britischen Auge nie und nimmer mit dem traditionellen Bergsteigen vereinbar sei.
Welzenbach nimmt die Kritik an, sieht gleichzeitig aber die Bedeutung der neuen Bewertung. Überzeugt, dass diese erweiterte Einstufung für alle Bergsteiger eine wichtige Voraussetzung zur Planung ihrer Touren ist, wagt er 1926 sein Postulat zur Vereinheitlichung der Schwierigkeitsbegriffe und führt so den sechsten Grad – VI – als neues Limit des Kletterbaren ein: »VI bedeutet die äußerste Grenze dessen, was ein erstklassiger Kletterer oder Eismann noch zu leisten vermag. Eine Steigerung über diesen Superlativ hinaus gibt es nicht!« Und weiter: »Eine nennenswerte Steigerung im Fels ist nicht mehr möglich; mit den Leistungen der letzten Jahre dürften die klettertechnischen Möglichkeiten erschöpft sein.« Endgültig? Was, wenn der Eispapst geahnt hätte, was bald hundert Jahre später als Grenze des Kletterbaren gilt!
Als Beispiele des Limits nennt er die Dent-d’Hérens-Nordwand im Eis und die Civetta-Nordwestwand im Fels. »In Voraussicht des in den kommenden Jahren unfehlbar eintretenden Stillstandes der Entwicklung der Kletterkunst erachte ich den Zeitpunkt für gekommen, ein für alle Mal gültige Leitsätze zur Bewertung alpiner Leistungen zu schaffen.«
Formal ist damit der VI. Grad mathematisch als Limes des Kletterbaren definiert. Welzenbach wiederholt immer wieder, dass er eine weitere Steigerung für unmöglich hält, fügt aber an: »Im Eis stehen wir der Grenze ziemlich nahe, wenngleich hier eine geringe Steigerung noch denkbar ist.« Sein Ziel, klare Definitionen zu schaffen, findet auch in Italien und Frankreich Anhänger. Domenico Rudatis, ein großer Verfechter des »Sesto Grado« in den Dolomiten, schreibt an Welzenbach: »Ihre Schwierigkeitsskala ist sicher von den bis heute erschienenen die beste, ich bin mit Ihren Grundsätzen voll einig.«
Franzosen plädieren zwar dafür, dass auch Länge, Höhe und objektive Gefahren eines Anstiegs mit in die Bewertung einbezogen werden. Für den Italiener Renato Chabod zählen Entlegenheit eines Weges im Fels, Orientierungsschwierigkeiten, Qualität der Felsen, Ausgesetztheit, Sicherungsmöglichkeiten und wetterabhängige Verhältnisse dazu. Welzenbach sieht es ähnlich: »Bei der Bewertung von Fahrten sind neben den rein technischen Anforderungen auch jene Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die etwa durch lange Dauer oder ungünstige klimatische Verhältnisse bedingt sind. Die Beurteilung kann meines Erachtens nicht nur nach technischen Gesichtspunkten erfolgen, sondern auch durch Bewertung der Fahrt als Gesamtleistung.«
Damit findet die Diskussion ein Ende. Die Welzenbach-Skala sollte fünfzig Jahre lang in Gebrauch bleiben, im gesamten Alpenraum. Erst später werden Unstimmigkeiten in den Kriterien Welzenbachs erkennbar. Seine Aussage »Routen, die nicht ohne technische Hilfsmittel geklettert werden können, gehören zum VI. Grad« ist falsch, hat doch das Klettern an künstlichen Hilfsmitteln – Klettersteige, Hakenleitern, Kletterhallen – mit Alpinismus wenig tun. Den VI. Grad als ultimativen Grenzwert zu definieren sollte sich ebenso als Fehler herausstellen. Der Techniker Welzenbach hätte es besser...