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E-Book

»Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen«

Wie Frauen die Welt veränderten

AutorIngvild Richardsen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783104911076
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Die Entdeckung des Selbst: Ein ungeschriebenes Kapitel der Frauenbewegung. In den 1890er Jahren entsteht in München eine Frauenbewegung, die das Fenster zur Moderne aufstößt. Neue Rollen von Frau und Mann werden ausgetestet, neue Formen der Sexualität gelebt. Im Zentrum stehen Künstlerinnen, die sich von Naturalismus und Jugendstil inspirieren lassen und wirkungsvoll an die Öffentlichkeit treten. Sie vernetzen sich deutschlandweit - auch mit progressiven Männern - und kämpfen für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. »Es lebe die Freiheit ... wir schaffen uns selber unser Recht.« Ingvild Richardsen stellt die Protagonistinnen dieses euphorischen Aufbruchs vor und erzählt ein zentrales Kapitel deutscher Emanzipationsgeschichte.

Ingvild Richardsen forscht über die Frauenbewegungen und vergessenen Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. 2018 kuratierte sie die Ausstellung »Evas Töchter« (Monacensia), die die Rolle der Schriftstellerinnen in der Münchener Frauenbewegung von 1894 bis 1933 darstellte. Sie hat in Bonn und München Literaturwissenschaften und Philosophie studiert und arbeitet als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin u.a. an den Universitäten München und Augsburg sowie für das Literaturschloss Edelstetten. Außerdem ist sie als freie Autorin und Kuratorin für zahlreiche Kulturinstitutionen, für Verlage, Film und Fernsehen tätig.

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Leseprobe

1. »Und plötzlich wußte ich, wozu ich auf der Welt war«


– Gabriele Reuter –

Anfang 1891 betritt die knapp zweiunddreißigjährige Gabriele Reuter das beliebte Ausflugslokal Isarlust in München, das auf der Praterinsel inmitten der Isar liegt. Hier wird sie endlich die vielen Leute aus der Kunstwelt sehen, von denen so viel die Rede war, hier trifft sich heute die Münchner Moderne. Lange Tafeln, schäumende Bierseidel, einige bekannte Gesichter, mittendrin das Löwenhaupt von Michael Georg Conrad, der Hauptperson des Anlasses. Allerhand merkwürdige Gestalten, am Nebentisch »interessierten mich ein paar Frauengestalten in männlich geschnittener Kleidung mit schönen ausdrucksvollen Jünglingsköpfen: die Frauenrechtlerin Anita Augsburg und Sophia Goudstikker, die temperamentvolle Besitzerin des Ateliers Elvira für künstlerisches Lichtbild«.

Gabriele Reuter setzt sich an einen großen Tisch mit einer »bunt zusammengewürfelten Gesellschaft junger Leute«, neben ihr ein Apothekertöchterlein aus Boblingen, das unruhig umherschaut. »Ach, mir ischt so angst, ob’s meinen Eltern recht ist, daß ich hierhergegangen bin! Das ischt alles arg sonderbar!« Ja, warum sie denn überhaupt hierhergekommen sei? »Ja – wissens – ich möchte doch als ’en Doktor heiraten – weil meine Schwester einen Apotheker hat.« Und warum sucht sie den ausgerechnet hier? »Hier gäb’s so viel Doktoren!«

Inzwischen steht Michael Georg Conrad auf dem Podium – goldene Lockenmähne, wehender Bart – und brüllt das Programm für eine neue Gesellschaft in den Saal, eine Oppositionsbewegung, neue Zeiten werden ausgerufen. Das Publikum tobt und dröhnt. »Ein kleiner, kohlschwarzer Jude mir gegenüber geriet in einen Paroxismus der Begeisterung, indem er wild mit seinem Bierseidel auf den Tisch haute und dazu schrie: ›Das Germanische an der Sache begeistert mich so! Das Germanische soll leben!‹ Das Apothekerstöchterlein faßte hilfesuchend nach meiner Hand. ›Ich möcht’ heim! Meinen Eltern wär’s nit recht, wenn sie mich hier sehen täten!‹«

Es folgt eine Rede nach der anderen, die Stimmung spitzt sich zu, wird hitzig, kampflustiger. Applaus, Pfiffe, Gelächter und Pfuirufe wechseln sich ab. »Nun kam Gumppenberg und deklamierte vom Podium herunter eine Reihe von parodistischen Versen, höhnisch bittere Angriffe auf alle anerkannten Münchener Größen in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Da brach der Sturm los. Ein Lärm ohnegleichen tobte durch den Saal. Die beiden schönen weiblichen Jünglingsköpfe hinter mir zischten wie die Klapperschlangen. Bierseidel wurden durch die Lüfte geschwungen, Stuhlbeine dienten als Waffen im Kampf der Geister. Und die Apothekerstochter aus Boblingen krampfte sich an meinen Arm und jammerte weinend: ›Wenn das meine Eltern wüssten! Ach, wenn mich nur kein Herr aus Boblingen hier sieht!‹ In diesem wilden Aufruhr erklärte Conrad die Gründung der Gesellschaft für modernes Leben als vollendet.«[1]

 

Staunend und voller Belustigung wohnt Gabriele Reuter der Gründungssitzung der Gesellschaft für modernes Leben bei, die vereinsrechtlich schon im Dezember des Vorjahres eingetragen wurde.[2] Diese Gesellschaft trat unverhohlen für einen neuen Menschen und eine neue Sittlichkeit ein, in der Satzung hält sie als ihren Zweck fest: »Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Kunst, Literatur und Wissenschaft.«[3] Ihr Gründer, der Schriftsteller Michael Georg Conrad (18461927), begeistert sich für Émile Zola und den Naturalismus – er wird auch »der Zola Münchens« genannt. Conrad ist es, der aus einer »Stadt der alten Herren«, die München bis dahin war, »einen Standort von ›Stürmern und Drängern‹ machte«, wie es der Schriftsteller René Prévot rückblickend beschreibt.[4]

Die beiden Frauen mit den schönen Jünglingsköpfen, die sich in temperamentvoller Anteilnahme am Geschehen beteiligen, sind Anita Augspurg, 32 Jahre alt, und Sophia Goudstikker, 25 Jahre alt. Erst vor vier Jahren sind sie nach München gezogen und haben hier das Fotoatelier Elvira eröffnet, das sich längst einen Namen gemacht hat. Vor über einem Jahr haben beide Frauen angefangen, sich in der organisierten Frauenbewegung zu engagieren. Zu dem Kreis der Schriftsteller um Michael Georg Conrad stehen sie bereits in engem Kontakt, denn der sieht die Frau nicht nur »als einen Kulturfaktor ersten Ranges an«, sondern seine Gesellschaft will auch über ideologische Verfehlungen und gesellschaftliche Missstände aufklären, auch die »Frauenfrage« betreffend.[5]

Und Gabriele Reuter lässt sich mitreißen, sie fiebert mit und lässt sich anstecken von der Aufbruchsstimmung. Sie will schreiben, aber was? Über das Elend des Proletariats? Da kennt sie sich nicht aus. Flammende Reden halten? Das kann sie nicht. »Und plötzlich wußte ich, wozu ich auf der Welt war –: zu künden, was Mädchen und Frauen schweigend litten.« Ihr Thema soll das Mädchen in der bürgerlichen Familie sein, die stereotype Erziehung zur Unterwürfigkeit – »die stumme Tragik des Alltags wollte ich künden – sie, an der Tausende von blühenden Geschöpfen zugrunde gingen, ohne noch von einem Poeten verherrlicht worden zu sein.«[6] In nur fünf Jahren wird sie ein Buch veröffentlichen, das zu einem der größten Bestseller der Zeit werden, das von heute auf morgen zum Kultbuch der Frauenbewegung avancieren wird: Aus guter Familie.

Ein halbes Jahr zuvor, im Herbst 1890, traf Gabriele Reuter, aus Weimar kommend, in München ein. Sie wollte sich aus der familiären Situation befreien, der ständigen Beobachtung von Tanten und Onkel entfliehen. Sie hatte die Enge satt gehabt und entschloss sich zum Boheme- und Wanderleben. Leider ließ sich auch die Mutter von dem Aufbruch anstecken und begleitete die Tochter, zumal zu wenig Geld vorhanden war, um getrennt zu leben. »Mir kam’s auch auf die innere Befreiung an. Die konnte ich mir neben der stillen Mutter schon erringen«, dazu hatte sich Gabriele entschlossen. Doch wohin soll’s gehen? »München ist immer das Ziel der ›Befreiten‹. Es war auch das unsere.«[7]

Gabriele Reuter, München 1896

Sie fanden Quartier, ernährten sich kläglich und amüsierten sich jeden Tag über die schräge Gesellschaft. Museen, Oktoberfest – das ganze Programm. Bei ihrem ersten Aufenthalt macht Gabriele Reuter gleich einige Bekanntschaften. Darunter als eine der ersten die Münchner Schriftstellerin Emma Merk. Sie lädt Gabriele zunächst zu ihrem »Jour« ein, in dem es so richtig »münchnerisch« zugeht. Hier lernt Gabriele Reuter rasch weitere Freunde und Bekannte Emma Merks kennen, darunter den Dichter und Volkswirtschaftler Max Haushofer, seine Tochter Marie und die Romanschriftstellerin Carry Brachvogel.

Emma Merk, die aus einer alten Münchner Künstler- und Bürgerfamilie stammt, ist damals 36 Jahre alt. Sie, die in Münchens Künstlerkreisen und in den Künstlerkolonien auf der Fraueninsel und in Brannenburg groß geworden ist, kennt Gott und die Welt. Seit sie zwanzig ist, veröffentlicht sie Novellen und Romane, in denen sie die Beziehungen zwischen Mann und Frau schildert und ihren Lesern immer wieder auch das alte München vor Augen führt. Sie ist unverheiratet, kinderlos, hat einige Beziehungen hinter sich, aber seit vier Jahren ein mehr oder weniger festes Verhältnis mit dem vierzehn Jahre älteren Max Haushofer, dem Vater dreier Kinder, Witwer, dem bekannten Dichter und in ganz Deutschland berühmten Professor für Volkswirtschaft. Auch er stammt aus einer bekannten Künstlerfamilie. Sein Vater ist der Landschaftsmaler Maximilian Haushofer, der auf der Fraueninsel im Chiemsee um 1840 eine Künstlerkolonie gegründet hat, die gerade in voller Blüte steht und die man damals in ganz Europa kennt, wie die überlieferten Künstlerchroniken noch heute zeigen. Immer wieder halten sich Emma Merk, Max Haushofer und seine achtzehnjährige Tochter auf der Insel auf, um sich zu erholen, aber auch um zu schreiben. Die junge Marie Haushofer hat ein eigenes Atelier in der Wohnung ihres Vaters, arbeitet als Malerin, porträtiert, kopiert aber auch Gemälde aus der Alten Pinakothek, um damit Geld zu verdienen. Doch sie dichtet und schauspielert auch etwas und begleitet ihren Vater oftmals auf seinen Vortragsreisen im ganzen deutschen Reich. Carry Brachvogel, ehemals Karoline Hellmann, stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie des Münchner Großbürgertums, ist damals 26 Jahre und seit drei Jahren mit Wolfgang Brachvogel verheiratet, einem katholischen Münchner Schriftsteller, der Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten ist. Mit ihm hat sie zwei kleine Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Auch sie schreibt, veröffentlicht immer mal wieder Erzählungen und Feuilletons in Zeitungen und Zeitschriften. Bereits mit neunzehn Jahren hat sie einen Entwurf für einen Roman verfasst, in dem sie die Gleichheit von Mann und Frau in der Ehe eingefordert hat. Außerdem liebt Carry Brachvogel das Theater über alles.

Emma Merk nimmt Gabriele Reuter unter ihre Fittiche, zieht sie weiter in die Künstlerkreise hinein, ins angesagte Café Isarlust, wo sich die Schriftstellerszene trifft. Hier...

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