1Lustlosigkeit als Kompetenz – Zur Dialektik von Nein und Ja
Ulrich Clement
Eine überraschende Lesart zur Symptomatik der sexuellen Lustlosigkeit findet sich bei Peggy Kleinplatz, einer der innovativsten Figuren der gegenwärtigen Sexualtherapie (s. Kap. 4). Sie nimmt einen anderen Blick ein, als er den vielfältigen Versuchen zugrunde liegt, die sexuelle Lust zu aktivieren. Sie folgt auch nicht den üblichen Empfehlungen, sich mit »realistischen« Erwartungen vor Enttäuschungen zu schützen und sich mit einer halbwegs passablen Sexualität zufriedenzugeben: Vielmehr votiert sie für »bessere« Ziele mit dem Tenor, man (und vor allem frau) solle sich nicht so schnell auf mittelmäßige Kompromisse einlassen. Nicht um Sex solle es gehen, sondern um »sex worth wanting« (Sex, der es wert ist, gewollt zu werden) (Kleinplatz 2012).
Diese Orientierung ist mehr als eine harmlos freundliche Aufforderung, sich etwas Schönes zu wünschen. Vielmehr lenkt sie den Blick auf die eigene Autorenschaft selbstbestimmter Sexualität.
Therapeutisch eröffnet dieses Reframing ein ganz neues Verständnis der sexuellen Luststörungen, indem es nicht beim Ist-Wert der erlebten sexuellen Lust/Unlust ansetzt und die oft mühsame Spur verfolgt, den Lustmangel irgendwie zu beheben, sondern beim Sollwert des Ziels. Der therapeutische Fokus liegt damit zunächst bei der Frage, ob die Frau möglicherweise deshalb keine Lust empfindet, weil sie nicht die für sie angemessenen Ziele gewählt hat. Die Luststörung wäre so gesehen kein fehlendes Erleben, sondern ein Hinweis auf falsche Ziele, die der Person nicht entsprechen. Der Blick auf den sex worth wanting gibt dann der sexuellen Lustlosigkeit eine völlig neue Bedeutung: nicht als Defizit von Lust angesichts »richtiger« oder »normaler« Ziele, die fremdbestimmt sein können, sondern als Ablehnung unpassend empfundener Ziele oder, positiv gewendet, als Kompetenz, aufmerksam auszuwählen und sich nicht auf solchen Sex einzulassen, der als unauthentisch, nicht als persönlich stimmig erlebt wird.
Ich will diese Perspektive, die Kleinplatz nicht weiter ausführt, aufgreifen. Sie ist zunächst eine pfiffige Umdeutung und ein Aufruf, den eigenen Vorstellungen von Intimität und Emotionalität, von Ästhetik und Stil gerecht zu werden. Dieser Appell an Qualität bliebe freilich, für sich genommen, abstrakt und kraftlos. Stärke und Kontur kann er erst gewinnen, wenn er – mindestens – zwei Fragen beantwortet:
Die erste betrifft die Kriterien und die Autorschaft von Qualität:
Woran orientiert sich eine Frau, die selbst keine klaren Vorstellungen darüber hat, welche Art der Sexualität ihr entspricht?
Diese Unklarheit oder der schwere Zugang zu Wünschen und Fantasien kann mit einer Ambivalenz gegenüber solchen Wünschen zu tun haben, die in der Mehrheitskultur keine Resonanz finden und negativ bewertet werden (Clement 2014).
Auch die reflektiertesten Vorstellungen bewähren sich erst im Tun. Deshalb zielt die zweite Frage auf die »operative« Übersetzung in sexuelles Handeln:
Was kann eine Frau tun, um mit einem Partner, der möglicherweise nicht übereinstimmende Vorstellungen hat, den Sex zu haben, den sie als authentisch erlebt?
1.1 Autorin der eigenen Lust/Unlust
Innerhalb des großen Spektrums erotischer Wünsche, Fantasien und Sehnsüchte geht es bei der Frage, inwiefern Lustlosigkeit eine Kompetenz darstellen könnte, zunächst darum, zu welcher speziellen Vorstellung sexueller Lust diese Frau »Nein« sagt.
Wozu genau sagt sie (verbal oder nonverbal) Nein?
•Nein zum Sex mit einem konkreten Partner?
•Nein zu der Vorstellung des Partners darüber, was normal und angemessen sei?
•Nein zu einer bestimmten Art von Sex (Stellung, Praktik)?
•Nein zu bestimmten Voraussetzungen, überhaupt sexuell bereit zu sein?
•Nein zu einer bestimmten Situation, Sex zu haben?
Das Nein zur Lust und das Ja zur Lust sind nicht gleichwertig. Psychologisch setzt ein eindeutiges Ja die Fähigkeit voraus, im Nein klar zu sein. Erst dann hat das Ja einen Informationswert, ohne beliebig zu sein. Lust zu verweigern, ohne sie jemals zu bejahen, ist möglich, weil diese Aussage eine Vorstellung von Lust voraussetzt, um sie zu verneinen.
Lust zu bejahen, ohne sie auch verweigern zu können, ist wertlos. Die Aussage »ich habe Lust« muss einen Unterschied (zur Unlust) machen. Oder personalisiert ausgedrückt: Eine Frau, die nie Nein sagt, kann keine Vorstellung von Lust haben3. Die zentrale Kompetenz zur Autorenschaft der eigenen Lust erfordert also nicht nur die Unterscheidung zwischen Begehrtem und Abgelehntem, sondern außerdem die Urteilssicherheit im Nein.
Therapeutisch sind solche Fragen nach dem Nein (»Was mögen Sie nicht?«) ergiebiger als nach dem Ja (»Worauf haben Sie Lust?«). Zum einen sind sie näher am konkreten Erleben der sich als lustlos beschreibenden Frau, zum andern können sie eher als wertschätzendes Interesse erlebt werden, ohne dass ein verdeckter Appell mitverstanden werden muss, doch irgendeine lustfreundliche Seite zu zeigen.
Um die Fragerichtung nach dem spezifischen Nein zur Lust als Einstieg in eine kompetenzorientierte Perspektive zu nutzen, ist es entscheidend, dass der Interviewer den Akzent nicht auf das Nichtkönnen legt, sondern auf das Nichtwollen, genauer gesagt auf das So-nicht-Wollen. Fragen transportieren Metabotschaften. Ein defizitärer Akzent wird gesetzt mit der Formulierung: »Wobei fehlt Ihnen die Lust?« oder »Was klappt nicht?«. Bei solchen Formulierungen schwingt als Metabotschaft ein »leider« mit, welches das Nein zur Lust als Mangel bewertet. Außerdem legen sie eine hilflose Haltung ohne Gestaltungsperspektive nahe. Ungewollt kann diese Fokussierung zu einer Problem-Opfer-Erzählung mit entsprechender Problemtrance führen.
Dagegen entfaltet eine Formulierung in der Logik des Nichtwollens eine ganz andere Kraft. »Was passt Ihnen nicht?« oder »Wogegen wehren Sie sich?« spricht die Klientin als kompetente Beurteilerin an, nicht als Person, die sich ihrer Unfähigkeit schämen muss. Vielmehr ermöglicht ihr die Metabotschaft dieser Formulierungen, das Nein als Stärke und als bewusste Lebensäußerung zu sehen, der sie sich interessiert zuwenden kann.
1.2 Erotische Barrieren als Übergangskompetenz
Wie äußert sich das »Nein« in einer konkreten Begegnung? Der einfache Fall ist ein einmaliges »Nein« zu Beginn einer möglichen sexuellen Sequenz. Vorausgesetzt, das »Nein« wird eindeutig empfunden und ausgedrückt und der Partner akzeptiert es, ist damit der erotische Ablauf beendet, ehe er angefangen hat. Meist ist das »Nein« aber differenzierter, ambivalenter und abhängig vom Kontext. Das lässt sich gut illustrieren anhand eines Modells, das in einem anderen Anwendungsfeld entstanden ist, aber einen schlüssigen Transfer zum Thema der Luststörungen erlaubt.
Der Sensitivitäts-Zirkel
Der Begründer der Hakomi-Methode, einer achtsamkeitsorientierten Körpertherapie, Ron Kurtz beschreibt mit seinem »Sensitivitäts-Zirkel« einen Rückkopplungs-Kreislauf, der bei einem Prozess der inneren Wahrnehmung vier Stufen unterscheidet, die notwendig aufeinanderfolgen (Kurtz 1990). Tabelle 1 fasst das Konzept zusammen4.
Einer ersten Stufe des Gewahrseins (ich werde mir über ein Bedürfnis klar, z. B.: Ich habe Hunger) folgt – als zweite Stufe – die Initiative, in der das Bedürfnis in einen Handlungsimpuls umgesetzt wird (z. B.: Ich kaufe eine Pizza). Im dritten Schritt wird die Wunschbefriedigung vollzogen (z. B.: Ich esse die Pizza), um in einem vierten Schritt in ein stimmiges Gefühl der gesättigten Entspannung überzugehen (z. B.: Ich bin wohlig satt).
Gewahrsein | Sich zudröhnen Gefühle, nicht wahrnehmen, dichtmachen |
Handlungs-Initiative | Keine Verantwortung übernehmen, Sich nicht festlegen |
Handlungs-Vollzug | Nicht nehmen, was man haben könnte |
Entspannte Sättigung | Nicht loslassen, Überaktiv sein |
Tab. 1:...