Ich bin ein Erzähler!
Lieber Maurice,
diese Idee wird Dich interessieren, die mir an einem helllichten Mittag ins Bewusstsein schoss. Ich schwöre, dass es so war und dass ich erst später erfahren habe, dass andere mir zuvorgekommen waren!
Die Sonne stand in ihrem Zenit, und bei ihr schwebten Castor und Pollux, da dachte ich über das Erzählen nach. Ich saß in einem italienischen Café, und unter all dem Gerede und Gemurmel und Lachen dort fiel mir ein, dass der Mensch vor allem anderen ein Erzähler ist. Mit einem Mal durchdrang mich die Erkenntnis, dass keiner der hier Anwesenden leben könnte, ohne Geschichten zu erzählen. Aber wo fange ich an, Dir davon zu berichten? Am besten einfach irgendwo.
Es war also in besagtem Café, es muss in einer Arbeitspause gewesen sein. Wir saßen an einem runden Tischchen wie um ein kleines Feuer versammelt, das unsere Aufmerksamkeit fesselte. Aber natürlich gab es kein Lagerfeuer im Café, so etwas ist selten.
Wir sitzen also im Kreis, der Kaffee kommt. Wir rühren ein bisschen in den Tassen oder beschäftigen uns mit irgendetwas, denn es gibt für diesen Augenblick nichts zu tun. Es ist ein Moment, den man fürchten kann, nicht nur, weil er weitgehend gestaltlos ist und einen Übergang markiert. Die Sekunde, in der eben noch Geschäftigkeit die Gedanken, die Blicke, Absichten und das Reden bestimmte und auf den Lippen nachzuhallen scheint – und plötzlich tut sich dieses kleine Nichts auf, das noch keine Langeweile ist, aber kurz davor. In diesem Moment geht es meistens los: das Erzählen. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass es sich manchmal auch ohne diese Unterbrechung Bahn bricht.
Ich verbringe die Pause mit meinen Kollegen und Kolleginnen, zumeist jüngeren Frauen, die nun also, dem Büro auch gedanklich entflohen, fortwährend Geschichten erzählen. Nicht aus Langeweile, nicht um die Zeit totzuschlagen oder Erfahrungen auszutauschen. Sie erzählen sich Geschichten, weil ihnen einfach danach ist. Zumindest schien mir das so. Es geht um Filme, Bücher, neue Apps, Kochen und Backen oder wie es war, als Maren ihr Hochzeitskleid kaufte. Geplänkel, Witziges, Trauriges und manchmal Berührendes. Ich sitze dann da und höre zu. Das mache ich gerne.
Einmal ging es zum Beispiel um Verhütung. „Die Pille“, sagte Jackie, „verändert dein emotionales Erleben“. Sie würde das Kontrazeptivum daher nicht mehr nehmen und fühle sich nunmehr besser.
Chemie sei auch nicht ihr Ding, bemerkte daraufhin Maren, sie würde lieber regelmäßig ihre Temperatur messen, „so lerne ich meinen Körper viel besser kennen“. Und wenn sie im Zweifel sei, dann ließen sie und ihr Freund, der ihr zukünftiger Mann sein würde, „es“ eben.
Danach geht es darum, dass die Hormone das Riechvermögen verändern und eine Frau einen Mann anders wahrnehme, je nachdem, ob sie die Pille schlucke oder nicht. Was aber, wenn die Frau die Pille absetzt und ihren Partner plötzlich nicht mehr riechen könne? Grinsen und Gelächter.
Astrid sagt, dass ihr Mann, ein Tenor, sich nach abgeschlossener Familienplanung sterilisieren ließ. Dabei habe er eine ungeheure Angst gehabt, seine Tonlage zu verlieren. Als er nach dem Eingriff aus der Narkose aufwachte, sei er hochgeschreckt und habe sofort ein paar Töne gesungen. Er habe sich seiner selbst und seiner männlichen Stimme versichern wollen.
„Dabei ändert sich die Stimmlage erwachsener Männer nach einer Sterilisation gar nicht mehr“, erklärt Astrid, lächelt und nippt an ihrer Tasse.
Das habe sie auch vor, sagte Maren. Sie meint das Sterilisieren, und sie meint sich nicht selber, sondern ihren Partner, der sich operieren lassen solle, sobald sie ihre gemeinsamen Kinder erst einmal bekommen hätten. Alle kichern, da mit einem Mal nicht klar ist, ob ihr zukünftiger Ehemann von seinem Schicksal überhaupt schon weiß.
Bei einem anderen Treffen in einer Mittagspause befragen die Frauen eine Kollegin, Mutter zweier Mädchen, über die Schwangerschaft und das Kinderkriegen aus. Wir sitzen an kleinen Tischen draußen, die Sträucher und Pflanzen spenden uns Schatten in der Mittagssonne. In der Schiebetür steht der Wirt, Barista Severino, und zeigt seinem Vater auf dem Mobiltelefon Bilder seiner neugeborenen Tochter und kommentiert diese in einer Mischung aus völlig akzentfreiem Deutsch und Italienisch.
„Hattest du schlimme Schmerzen?“, will Jackie von der Kollegin Carmen wissen.
Carmen ist überrascht. Nach Geschichten über ihre Geburt fragen sie sonst nur ihre eigenen Kinder, sagt sie, und zwar meist an deren Geburtstag. Nein, an schlimme Schmerzen könne sie sich nicht erinnern. Sie hat die Beine übereinander geschlagen und umklammert mit beiden Händen die Tasse. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie erzählt, dass sie die Geburt mehr wie einen Anstieg auf einen Berg verstand. Um ihn zu besteigen, musste sie einfach nur Schritt auf Schritt tun, immer ein Stückchen weiter.
„Carmen, die Bergführerin“, wirft Jackie ein, was passt, weil Carmen im Winter mit Begeisterung auf Skitouren geht.
Eine solche Anstrengung, sagt die junge Mutter, könne weh tun, doch sei das nicht das Wesentliche. Es gehe vielmehr darum, über den Berg zu kommen. Der eigene Anteil an dem Prozess der Geburt sei ohnehin eher gering. Eine Schwangerschaft sei ein Vorgang, der über einen komme, dessen Ablauf man nicht in der Hand habe. Die Natur habe ihn ausgestaltet, lange bevor wir alle hier auf die Welt gekommen seien.
„Als Frau kann man nur demütig und neugierig beobachten, was da mit dem eigenen Körper vor sich geht.“
Beim zweiten Kind habe sie die Signale dieser Natur bereits besser zu deuten gewusst als die Ärzte und Hebammen im Krankenhaus. Sie lag mit Wehen da, wissend, dass die Geburt beginnt. Obwohl sie sicher war, dass es bald losgehen würde, hätten die Helfer sich mit der festen Überzeugung verabschiedet, es würde noch dauern, bis die Geburt einsetzte. Sie wollten lieber erst mal eine Kaffeepause machen. Minuten später musste der Vater sie in größter Eile zurückholen, denn die Geburt begann sofort, nachdem die Ärzte zum Kaffeeautomaten aufgebrochen waren, ganz wie Carmen vorhergesagt hatte.
„Du Armer!“, wirft Sandra nun mit gespieltem Bedauern in meine Richtung ein, die Tassen sind längst geleert. „Er muss sich andauernd diese Frauengeschichten anhören.“
Ich sage nicht, dass ich stolz bin, dass die Runde mich als ihren stillen Zuhörer akzeptiert hat, doch freue ich mich darüber. Denn die Gesellschaft erzählender Frauen gehört für mich zu den ältesten Kindheitserinnerungen. Die ersten Jahre wuchs ich nicht bei meinen Eltern auf, sondern bei meiner Großmutter, meiner Tante und deren Tochter, meiner Cousine.
Ich erinnere mich gut an das einfache Bauernhaus, mit Stube, Küche und dem langen Flur, von dem eine Tür direkt in den Stall führte. Tiere waren da aber schon länger keine mehr, abgesehen von Hühnern und Katzen. Im Schweinekoben lagerte jetzt Kohle. Der schiefe Backsteinboden mit den betonierten Futtertrögen, wo einst drei oder vier Kühe gestanden hatten und gemolken wurden, war mit Gerümpel vollgestellt und einem Öltank, der mit fettigem dunklen Staub bedeckt war.
Wir Kinder wurden in der Stube gebadet, weil es kein richtiges Badezimmer gab. Nicht selten machte sich meine Cousine einen Spaß daraus, kreischend um die graue Metallwanne herumzulaufen, das Scheffle. Vielleicht hasste sie Wasser und Seife oder wollte einfach nur wetzen und gefangen werden. In der Ecke flimmerte der Fernseher. Meine Oma saß auf dem Sofa auf ihrem angestammten Platz und schaute zu, wie ihre Tochter ihre Enkelin teils fluchend, teils Verärgerung vorspielend einzuholen suchte.
Von diesem Platz am Ende des Sofas mit den bestickten Kissen im Rücken, neben dem im Winter rußenden, fast glühenden Ölofen, gegenüber dem Schrank mit den Heiligenbildchen und den versilberten Kreuzen und Rosenkränzen darin, dazwischen die Türe zur Stube mit dem Bild ihres im Krieg gefallenen Mannes darüber, meines Großvaters, den ich anders nie zu Gesicht bekommen hatte als auf diesem romantisch verwischten Schwarz-Weiß-Foto, von diesem Platz aus hatte sie alles im Blick.
Manchmal musste ich ihr hier die glatte, schwartige Haut am Rücken kratzen, einem großen Rücken, wie mir schien, während sie sich an meinen Fingern rieb, wie ein Bär am Baum, jedenfalls so, wie ich es von Bär und Baum im Fernsehen gesehen hatte. „Kratz“ mir den Buckel!“, bat sie und machte den oberen Knopf ihrer Schürze mit dem blauen Blümchenmuster auf. „Oh, ja, a bissl mehr links, mhm, ja, a bissl ’nauf, a bissl rechts, do, ja genau do!“ Dabei kniff sie ihr Gesicht zu einer Grimasse, spitze ihren Mund, kräuselte ihren Nasenrücken, wie meine Mutter sagt, ich würde heute meinen Nasenrücken kräuseln, kniff die Augen zusammen und gab Töne des Entzückens von sich.
Wenn der Fernseher abgeschaltet war, dann hätte sie von der Feldarbeit erzählen können, von der Mühsal, als Frau und Mutter allein einen kleinen Bauernhof zu bewirtschaften und vier Kinder großzuziehen, weil der Mann auf dem Foto im Krieg gefallen war, in Lothringen. Sie hätte von meinem Großvater erzählen können oder von meinem Onkel, einem Hallodri, wie sie später sagten, der mich öfter in die Wirtschaft zu seinen Zechbrüdern mitnahm, der ein teures Fernglas, das die Amerikaner auf dem Hof vergessen hatten, kurzerhand verscherbelt und das Geld verjubelt hatte. Aber das erzählte sie nicht. Meine Großmutter erzählte mir nicht von ihrem Leben.
Der Zauber des Erzählens
All das dachte ich nicht, während ich zuhörte. Aber ich hätte es denken können und ganz...