Kapitel 2
»Sonst hat Frank jeden Tag angerufen«
Erst nur leichte Kopfschmerzen und eine triefende Nase, nun auch noch Fieber … Martin Senfft fühlt sich miserabel. Eigentlich müsste sich der 17-jährige Azubi krankschreiben lassen. Kommt überhaupt nicht in Frage. Frank Schneider, der Kapitän, und Hartmut Gleixner, der Maschinist, würden es zur Not auch ohne ihn schaffen. Aber sie haben ihn telefonisch gebeten, sich aufzuraffen. Die BELUGA müsse nach Bornholm. Sie brauchen ein neues Fischereigeschirr, die amtliche Überprüfung des Rettungsfloßes ist fällig, und dann soll auch noch Eis übernommen werden.
Ein langer Tag, da wird jede Hand gebraucht.
Martin packt seine Sachen und geht zur Bushaltestelle in Tribsees. Kopfschüttelnd sieht die Mutter ihrem hochgewachsenen Sohn nach. Nicht mal »Tschüss« hat er gesagt. Margrit Senfft pfeift ihm hinterher. Er dreht sich um, lacht und winkt. Dann ist er weg. Zum Fischkutter BELUGA, das ist seine Welt. Die Frau ist froh, dass ihr Sohn einen Beruf gefunden hat, der ihn begeistert, und Kollegen, die ihn mögen. Martin ist ein richtiger Mann geworden.
Der Kapitän und sein Maschinist freuen sich, als ihr dritter Mann im Hafen auftaucht. Natürlich, wenn Martin krank wäre, müsste er zu Hause im Bett bleiben. Aber so schlimm wird es schon nicht sein. Außerdem fällt die meiste Arbeit erst auf Bornholm an. Bis dahin ist er vielleicht wieder an Deck.
Am Mittwoch, dem 17. März 1999, heißt es morgens Maschine an, Leinen los – die SAS 104 BELUGA tuckert gemächlich aus dem Hafenbecken.
Ein Stückchen weiter südlich wird der Hafen von Mukran angesteuert. Im Auftrag eines Instituts werden Bodenproben vom Grund der Ostsee geholt. An Land soll ein neues Fischverarbeitungszentrum entstehen, die Umweltuntersuchungen sind Bestandteil der Planungsphase. Alles läuft wie am Schnürchen, der Kran auf dem hinteren Aufbaudeck der BELUGA funktioniert wie immer ohne Probleme, die Arbeit ist pünktlich erledigt. Gegen 12 Uhr legt die BELUGA mit den Bodenproben wieder in Sassnitz an.
Bis zur nächsten Ausfahrt bleibt noch Zeit. Die Männer klaren an Bord herum, essen was und halten einen Schnack mit den Kollegen auf den anderen Fischkuttern. Alles ist so wie an jedem anderen Tag im Hafen, nichts Besonderes.
Gut eine halbe Stunde vor Mitternacht wird der Diesel wieder angelassen, die BELUGA legt ab. Ordnungsgemäß meldet sich Kapitän Frank Schneider beim Hafendispatcher von Sassnitz Port ab. Diensthabender in der Hafenzentrale ist Jürgen Stange, sein Schwiegervater. Der schreibt ins Hafen-Tagebuch: 17. März 1999, 23.21 Uhr, Ausgang von SAS 104, BELUGA.
Die See ist ruhig bei Windstärke drei bis vier, die Sicht gut. Der Seewetterbericht hat vermeldet, dass es so bleiben werde. Die Maschine arbeitet gleichmäßig, das Schiff gleitet ruhig durch die Wellen. Kapitän Schneider übernimmt die Wache, Maschinist Gleixner und Lehrling Senfft ruhen in ihrer Kammer ab.
Die dänischen Kollegen in Nexö auf Bornholm erwarten sie gegen 8 Uhr morgens. Eine unspektakuläre Überfahrt steht bevor.
Der Fischereihafen in Sassnitz mit Mole
Am Tag danach, Donnerstag, 18. März. Kurz nach 10 Uhr klingelt bei Wolfgang Henckel, dem Geschäftsführer der Genossenschaft der Sassnitzer Seefischer, das Telefon. Die Kollegen auf Bornholm wollen wissen, wo Frank Schneider bleibe. Sie würden seit zwei Stunden auf die BELUGA warten.
»Ist bestimmt noch unterwegs«, sagt Henckel. Er ist überfragt. Ihm liegt keine Meldung vom Schiff vor.
»Hat er sich nicht per Funk gemeldet?«
Nein, habe er nicht, sagen die Dänen, darum habe man sich schließlich bei ihm gemeldet.
Beate Schneider in Sellin wird von einer Unruhe erfasst, die ihr fremd ist. Ihr Mann meldet sich sonst regelmäßig bei ihr per Handy. Man spricht über dies und das, nur um miteinander zu reden. Am Nachmittag meldet sich ihr Vater Jürgen Stange aus dem Hafen. Sie solle mal über Handy den Frank anrufen, da scheine irgendetwas mit dem Funkgerät zu sein.
Beate Schneider drückt immer wieder die Taste. In der Ohrmuschel nur der immer gleiche Spruch: The person you’ve called is temporarily not available.
Vermutlich ein Funkloch. Davon gibt es reichlich auf See.
Zwischen 21 und 22 Uhr erreicht sie ein Anruf. Die freudige Erwartung verfliegt sofort. Es ist nicht, wie erhofft, ihr Mann Frank, sondern die Polizei. Der Beamte bittet sie zu beschreiben, was für eine Rettungsinsel die BELUGA an Bord habe. Form und Größe und Farbe …
Beate Schneider ist irritiert. Weshalb fragt man das ausgerechnet sie?
Eine halbe Stunde später meldet sich der Beamte wieder. Ja, die gesichtete Rettungsinsel müsse wohl zur BELUGA gehören. Sie hänge aber an einem Schiff. Unter Wasser …
Die Nachrichten, so bruchstückhaft sie auch sein mögen, dringen ins Hirn und fügen sich zu einem Bild, das Beate Schneider nicht wahrhaben will. Die BELUGA soll gesunken sein? Unmöglich.
Noch in der Nacht kommen ihre Eltern. Bis zum Morgen warten alle auf eine Meldung, auf irgendein Lebenszeichen von Frank Schneider. Sie telefonieren mit Christa Gleixner in Sassnitz und mit Margrit Senfft in Tribsees. Unsere Männer hatten doch die besten Rettungsanzüge an Bord. Die gehen doch nicht einfach unter. Selbst wenn sich die Rettungsinsel nicht geöffnet oder sich verfangen hat: Mit den Anzügen kann man sich über Wasser halten, bis man aufgefischt wird.
So reden sie sich Hoffnung und Mut zu.
Nach einer qualvollen Nacht fährt Beate Schneider nach Sassnitz. Die Wasserschutzpolizei nimmt die Daten ihres Mannes und seines Kutters auf. Die Beamten sprechen, um ihr Mut und Hoffnung zu geben, von einer Luftblase im Schiffsinneren, in die sich Frank und die anderen beiden Männer gerettet haben können.
Wolfgang Henckel von der Genossenschaft teilt ihr mit, dass man das Schiff so schnell wie möglich bergen wolle. Doch der Kran liege in der Werft – ehe man vor Ort sei, wäre es gewiss zu spät, die Luftblase – so es eine gebe und sich die Männer darin aufhielten – wäre aufgebraucht.
Die Besatzung der BELUGA: Kapitän Frank Schneider (r.), Hartmut Gleixner (l.) und Azubi Martin Senfft
Christa Gleixner wird zu Hause von zwei Polizisten aufgesucht. Diese informieren sie offiziell, dass ihr Mann und seine beiden Kollegen vermisst würden. Ein Unfall sei passiert. Die Fischer seien noch nicht gefunden. Man bittet die Frau, einige der persönlichen Sachen zu beschreiben, die Hartmut Gleixner an Bord gehabt hat. Von Gegenständen im Bad werden Fingerabdrücke des Mannes abgenommen. Christa Gleixner gibt den Polizisten zwei Fotografien mit. Sie zeigen ihren Mann und Kapitän Frank Schneider. Keine Sorge, die Bilder erhalte sie selbstverständlich zurück.
Steffi, die 16-jährige Tochter von Christa und Hartmut Gleixner, erfährt in der Schule Mitgefühl und Neugier. Alle wissen schon, dass die BELUGA untergegangen ist.
Die Welt ist hier nicht so groß.
Unterdessen laufen längst die Rettungs- und Bergungsarbeiten. Es beteiligen sich daran Hubschrauber und Seenotrettungskreuzer, Bundesgrenzschutz, Marine.
Von den drei Fischern fehlt jede Spur.
Ausgelöst hat die Suchaktion die Meldung eines Bundeswehrflugzeuges. Die Besatzung der »Breguet Atlantic« hatte am 18. März um 15.15 Uhr östlich von Rügen, Südspitze Adlergrund, eine Ölverschmutzung festgestellt. Der Ölfilm auf der Ostsee war ungefähr drei Seemeilen lang und etwa 500 Meter breit. Die SAR-Leitstelle (Search And Rescue) der Deutschen Marine in Glücksburg gab die Information um 15.20 Uhr an den Zentralen Meldekopf, der reichte sie weiter an das MRCC (Einsatzzentrale der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger) Bremen.
Das Ölüberwachungsflugzeug vom Typ Dornier fliegt zum Unglücksort, an welchem 15.15 Uhr die »Breguet Atlantic« der Bundesluftwaffe einen Ölfilm festgestellt hatte
Der Zentrale Meldekopf beorderte ein Ölüberwachungsflugzeug vom Typ Dornier zur Unfallstelle. Das gehört zum Marinefliegergeschwader »Graf Zeppelin« in Nordholz unweit von Cuxhaven. Später rief es den Seenotrettungskreuzer ARKONA und das BGS-Schiff NEUSTRELITZ zur Unfallposition. Den weiteren Ablauf der Ereignisse notierte die Sassnitzer Hafenzentrale:
17.32 Uhr: ARKONA auf Position …, grüner Schiffskörper, könnte Fischkutter sein, ca. 2 m unter Wasser
17.52 Uhr: ARKONA bestätigt untergegangenen Fischkutter BGS-Schiff NEUSTRELITZ vor Ort
18.20 Uhr wurde die Rettungsinsel, die noch mit dem Fischkutter verbunden ist, ausgelöst und treibt über dem Wrack. Nach der Beschriftung der Rettungsinsel könnte es ein dänischer Fischkutter sein.
20.08 Uhr: Schnellboot DILLINGEN läuft zum Unfallort, um mit Sonde das Wrack auszumessen. In ca. 40 min. Zollboot RÜGEN auch vor Ort
20.50 Uhr MRCC: vermutlich Fischkutter BELUGA
22.03 Uhr: ARKONA an MRCC: es ist die BELUGA, hat Schnellboot DILLINGEN gemeldet.
22.09 Uhr informiert die ARKONA, dass die BELUGA mit dem Heck auf dem Boden liegt.
Erweitert 19.03.1999, 20.00 Uhr
19.03.99, 06.10...