Vorwort
In meinem Vorwort zu Beren und Lúthien bemerkte ich, dass dies in meinem dreiundneunzigsten Lebensjahr »(vermutlich) mein letztes Buch in der langen Reihe von Editionen der Schriften meines Vaters« sei. Ich benutzte das Wort »vermutlich«, weil ich damals vage daran dachte, die dritte der »Großen Geschichten« meines Vaters, Der Fall von Gondolin, genauso zu behandeln wie Beren und Lúthien. Aber ich hielt das für sehr unwahrscheinlich und ging daher davon aus, dass Beren und Lúthien das letzte Buch sein würde. Die Vermutung erwies sich jedoch als falsch, und ich muss jetzt sagen, dass in meinem vierundneunzigsten Jahr Der Fall von Gondolin (sicherlich) das letzte sein wird.
In diesem Buch erfährt man aus der komplexen Darstellung vieler Stränge in verschiedenen Texten, wie sich Mittelerde auf das Ende des Ersten Zeitalters zubewegte und wie sich die Vorstellung meines Vaters von dieser Geschichte, die er sich erdacht hatte, über lange Jahre entfaltete, bis sie schließlich, zur ausgereiften Form gelangt, Schiffbruch erlitt.
Die Geschichte von Mittelerde in den Ältesten Tagen war ein sich stets veränderndes Gebilde. Meine History of Middle-earth, so lang und komplex sie auch ist, verdankt ihre Länge und Komplexität diesem endlosen Emporquellen neuer Darstellungen, neuer Motive, neuer Namen und vor allem neuer Assoziationen. Mein Vater, als ihr Schöpfer, denkt über die große Geschichte nach, und während er schreibt, wird er sich eines neuen Elements bewusst, das in die Geschichte eingegangen ist. Ich will dies an einem sehr kurzen, aber signifikanten Beispiel verdeutlichen, das für viele stehen mag.
Ein wesentliches Merkmal der Geschichte des Falls von Gondolin war die Reise, die der Mensch Tuor mit seinem Begleiter Voronwë unternahm, um die verborgene Elbenstadt Gondolin zu finden. Mein Vater erwähnt dies ganz kurz in der ursprünglichen Geschichte, ohne ein nennenswertes, ja überhaupt irgendein Ereignis; aber in der Endfassung, in der die Reise viel weiter ausgearbeitet ist, hören sie eines Morgens in der Wildnis einen Schrei im Wald. Man könnte fast sagen, er hörte plötzlich und unerwartet einen Schrei im Wald.1 Ein großer Mann in schwarzer Kleidung und mit einem langen schwarzen Schwert kommt auf sie zu und ruft einen Namen, als ob er nach jemandem suchen würde. Aber ohne sie anzusprechen, geht er an ihnen vorbei.
Tuor und Voronwë waren nicht in der Lage, diesen ungewöhnlichen Anblick zu erklären; aber der Schöpfer der Geschichte weiß sehr gut, wer dieser Mann war. Er war niemand anders als der berühmte Túrin Turambar, Tuors Vetter ersten Grades, der aus der untergehenden Stadt Nargothrond floh – wovon Tuor und Voronwë nichts wussten. Hier spürt man den Hauch einer der großen Geschichten aus Mittelerde. Túrins Flucht aus Nargothrond wird in Die Kinder Húrins beschrieben (siehe dort, S. 193f.), aber ohne Erwähnung dieses Treffens, das keinem dieser beiden Helden bewusst war und sich nie wiederholte.
Die Verwandlungen, die im Laufe der Zeit stattgefunden haben, lassen sich besonders gut an der Darstellung des Gottes Ulmo veranschaulichen: In der ersten Fassung der Geschichte sitzt er im Schilf und musiziert in der Dämmerung am Fluss Sirion. Viele Jahre später wird er dann beschrieben, wie er sich als Herr aller Gewässer der Welt in einem großen Sturm aus dem Meer bei Vinyamar erhebt. Ulmo steht tatsächlich im Zentrum des großen Mythos. Auch wenn die Mächte von Valinor ihn alleinlassen und sich ihm sogar weitgehend widersetzen, erreicht der große Gott auf mysteriöse Weise sein Ziel.
Wenn ich auf meine Arbeit zurückblicke, die nun nach etwa vierzig Jahren abgeschlossen ist, glaube ich, dass mein eigentliches Ziel zumindest teilweise darin bestand, dem Wesen des »Silmarillion« und seiner fundamentalen Bedeutung in Bezug auf den Herr der Ringe mehr Gewicht zu verleihen – und es eher als das Erste Zeitalter der Welt meines Vaters zu betrachten, die Mittelerde und Valinor umfasst.
Zwar gibt es Das Silmarillion, das ich 1977 veröffentlichte, aber es wurde zusammengestellt – man könnte sogar sagen, konstruiert – als erzählerischer Hintergrund für den Herr der Ringe, und das viele Jahre später. Es mag daher in gewisser Weise als Monolith erscheinen, ein großes Werk in einem erhabenen Stil, angeblich aus einer sehr fernen Vergangenheit stammend, mit wenig von der Kraft und Unmittelbarkeit des Herr der Ringe. Das war wohl unausweichlich, angesichts der Form, in die ich es gebracht habe, denn die Erzählung des Ersten Zeitalters war von einer radikal anderen literarischen und imaginativen Natur. Dennoch wusste ich, dass mein Vater lange zuvor, als Der Herr der Ringe fertig, aber noch nicht erschienen war, den tiefen Wunsch und die Überzeugung geäußert hatte, dass das Erste und das Dritte Zeitalter (in dem Der Herr der Ringe spielt) als Elemente oder Teile desselben Werkes behandelt und veröffentlicht werden sollten.
Im Kapitel »Die Entwicklung der Geschichte« gebe ich Teile eines langen und sehr aufschlussreichen Briefes wieder, den er im Februar 1950, kurz nachdem die eigentliche Niederschrift von Der Herr der Ringe ihr Ende erreicht hatte, an seinen Verleger, Sir Stanley Unwin, schrieb und in dem er seinen Gedanken zu diesem Thema Ausdruck gab. Damals porträtierte er sich selbstironisch als entsetzt, als er über dieses unhandliche »Monstrum« von etwa 600 000 Wörtern nachdachte – umso mehr, als der Verlag erwartete, was er erbeten hatte, eine Fortsetzung des Hobbit, während dieses neue Buch, wie er sagte, in Wirklichkeit eine Fortsetzung zum Silmarillion war.
Er hat seine Meinung nie geändert. Er betrachtete sogar, wie er schrieb, Das Silmarillion und Der Herr der Ringe als »eine einzige lange Saga von den Juwelen und den Ringen«. Aus diesem Grund war er gegen die getrennte Veröffentlichung beider Werke. Aber am Ende gab er sich geschlagen, wie man im Kapitel »Die Entwicklung der Geschichte« sehen wird, und erkannte, dass es hoffnungslos war, diesem Wunschtraum weiter nachzuhängen, und stimmte der Veröffentlichung von Der Herr der Ringe als Einzelwerk zu.
Nach der Veröffentlichung des Silmarillion wandte ich mich einer jahrelangen Untersuchung des gesamten Konvoluts von Manuskripten zu, das er mir hinterlassen hatte. In der History of Middle-earth beschränkte ich mich als allgemeines Prinzip darauf, »die Pferde im Gespann zu treiben«, das heißt, nicht einer Geschichte um die andere durch die Jahre auf ihren eigenen Wegen zu folgen, sondern dem Verlauf des Ganzen. Wie ich im Vorwort zum ersten Band der History bemerkte:
Der Blickwinkel, unter dem der Autor seine eigene Erfindung betrachtete, veränderte sich ständig; die Welt wurde weitläufiger, größer: nur in Der Hobbit und Der Herr der Ringe gelangten zu Lebzeiten Teile daraus, die abgeschlossen waren, in Druck. Das Studium von Mittelerde und Valinor ist mithin kompliziert, denn der Gegenstand des Studiums blieb nicht gleich; er folgte gewissermaßen der Lebenszeit des Autors, war also nicht die Fixierung eines bestimmten Abschnitts, festgelegt wie ein gedrucktes Buch, das keinem wesentlichen Wandel mehr unterworfen ist.
So liegt es bei der History in der Natur der Sache, dass einzelnen Themen oft nur schwer zu folgen ist. Als die Zeit gekommen war, wie ich mir sagte, endlich diese lange Folge von Editionen abzuschließen, kam es mir in den Sinn, eine andere Vorgehensweise zu versuchen: einer einzelnen Erzählung von ihrer frühesten existierenden Form durch ihre gesamte spätere Entwicklung zu folgen. Das Ergebnis war Beren und Lúthien. In meiner Ausgabe von Die Kinder Húrins habe ich zwar in einem Anhang die wichtigsten Veränderungen der Erzählung in den aufeinanderfolgenden Versionen benannt; aber in Beren und Lúthien habe ich tatsächlich frühere Texte vollständig wiedergegeben, beginnend mit der frühesten Form im Buch der Verschollenen Geschichten. Nun, da es sicher ist, dass das vorliegende Buch das letzte ist, habe ich für Der Fall von Gondolin die gleiche ungewöhnliche Form gewählt.
Bei dieser Darstellungsweise kommen Passagen oder gar ausgereifte Konzeptionen zum Vorschein, die später aufgegeben wurden; so in Beren und Lúthien der imposante, wenn auch kurze Auftritt von Tevildo, dem Katzenfürsten....