Einleitung: Brief aus Rom – und aus anderen Ecken der Welt
Warum sich ausgerechnet in Rom, in diesem Traum einer Stadt, mit dem Bösen beschäftigen? Hier, über den Dingen, von der Dachterrasse aus auf die Ziegel und Bögen blickend, auf Kuppeln und Putten, Engel und Quadrigen, Säulen und grüne Oasen, die sich zu einer weltweit bestaunten Perfektion ergänzen; im Westen der Petersdom, im Tal dort unten die lange Schlange des Tiber, überall historische Zeugnisse und atemberaubende Kunstwerke in einer Stadt, die immer wieder eine Schicht auf die andere gebaut hat, von der Antike bis heute, in scheinbar friedlich koexistierender Folge ... Über den sieben – nicht von Bausünden wie Hochhäusern zerschnittenen – Hügeln der unendliche Himmel, durchquert nur von Möwen und einigen dreisten Dohlen, zu Füßen der wuselnde Verkehr. Was kann hier oben schon mit den Anwandlungen des Bösen zu tun haben? Das ewige Rom ist heute eine beschauliche Pracht, jedenfalls von hier aus.
Und doch erliege ich der Versuchung (professionelle Deformation einer Traumatherapeutin?), mir vorzustellen, von welchem der gegenüberliegenden Hügel Nero wohl angeblich die Stadt, die er so geliebt und deren Senatoren er so gehasst hat, in rasendem Furor entzündete, wie die Legende sagt. Tatsächlich befand er sich wohl viele Kilometer entfernt, als das Feuer in der Nacht vom 18. zum 19. Juli des Jahres 64 – vielleicht ausgehend von einem Markt, vielleicht auch durch Brandstiftung, vielleicht sogar von Nero beauftragt – sich seinen Weg die Hügel hinabfraß, durch Häuser und Gassen hindurch, rennende und schreiende Menschen vor sich hertreibend, ein loderndes Inferno aus Tod und Verwüstung hinterlassend. Danach musste Rom in vielen Stadtteilen noch einmal aufgebaut werden. Übrigens kam es daraufhin zu einem Progrom, in dem viele römische Christen büßen mussten, was andere verschuldet hatten; Christen wurden verfolgt, gefoltert, ermordet als angebliche Verursacher des Brandes.
Und dann steige ich hinunter, speise an der Stelle, an der Cäsar 80 Jahre vor dem großen Brand in Rom ermordet wurde. „Et tu, Brute!“ soll er ausgerufen haben, vermutlich sogar griechisch: „Kai sy tecnon“ – „Auch du, mein Sohn“, als er erkannte, dass die Menschen, die auf ihn einstachen, ihm nur allzu gut bekannt waren, darunter Brutus, dem er väterlich verbunden war. Die Täter rechtfertigten die Tat als Tyrannenmord. Überhaupt die römische Antike: Ein einziges Gemetzel, nicht nur bei den Löwenspielen im Colosseum, in dem ausgewählte Sklaven sich gegenseitig erschlugen oder mit wilden Tieren um ihr Leben kämpften und eine johlende Menge angeblich dadurch das Schicksal der Kämpfer entschied, indem sie den Daumen senkte oder hochreckte ...
Und dann die berühmten Adels- und Patrizierfamilien: alles Barbaren! Heute scheint erwiesen, dass sie allesamt aus germanischen Stämmen hervorgegangen sind (die italienischen Faschisten waren sich des Erbes blond! blauäugig! scheint’s überaus bewusst). Ah, die Medici – nichts als altdeutsche Medickes! Die sich mit anderen Ex-Germanen hier das Herrschen teilten, sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, gelegentlich einen Papst stellten, sich bis aufs Blut bekriegten.
Da drüben die Vatikanstadt: Wer ahnt heute noch inmitten all der gigantischen Pracht die Heuchelei und Durchstecherei, die auch hier, von christlichen und sehr profanen Machtbedürfnissen gespeist, Karrieren bahnte, verhinderte oder auslöschte?
Man kann hinschauen, wo man will: Die offiziell zur Schau gestellte Vornehmheit der Palazzi und Villen wie die kleinen Handwerksbetriebe bemühen sich um das Bild reiner Aufrichtigkeit; hier vielleicht die Pracht etwas hochgereckt-majestätischer, die Handwerksbetriebe etwas den Niederungen des Alltagslebens angepasster als anderswo. Im Verkehr, dem allgegenwärtigen, gleitet alles aneinander vorbei, haarscharf, aber meist erfolgreich, und erstaunlich selten wird geschimpft und gedroht – viel seltener, scheint mir, als bei uns im wohlgeordneten nördlicheren Europa.
A propos nördlich: Die Lega Nord möchte den reichen Norden Italiens (mit seinen hochgewachsenen, blond-blauäugigen und geschäftlich so erfolgreichen Einwohnern, heißt es gelegentlich nicht nur hinter vorgehaltener Hand) ja gern von den mafiadurchseuchten südlichen Regionen abspalten. Nur musste nur leider ein Lega-Nord-Funktionsträger nach dem anderen wegen Korruption gerade das Handtuch werfen ... Überhaupt, das italienische Regierungs-Fiasko: dass ein Land entweder eine ununterbrochene Abfolge von Kleinkriegen zahlreicher miteinander verfeindeter Parteien erlebt, oder andererseits einen derart hemmungslos alle offizielle Moral über Bord werfenden Regierungschef wie Silvio Berlusconi nicht nur so lange ertrug, sondern ihn immer wieder wählte, wirft auch ein bezeichnendes Licht auf eine italienische Mentalität, nach der man (Mann) augenzwinkernd den radikalen Machterhalt bewundert und den „Gockel“ für seine Dreistigkeit: „Der traut sich was – ein ganzer Kerl!“ Dass derweil die eigene intelligente Elite das Weite suchen muss, weil Vetternwirtschaft, Korruption und einfach Unfähigkeit von Politikern und anderen Entscheidern sie dazu nötigt, falls sie nicht für einen Hungerlohn in einem Callcenter schuften will, steht auf einem anderen Blatt. „Wir suhlen uns in unserer glorreichen Vergangenheit. Aber wem nutzen die alten Römer, wenn der Bus nicht fährt?“, stöhnt eine vorübergehend aus ihrem amerikanischen Exil heimgekommene Physikerin. Was fehle, seien Respekt und Bürgersinn, Mitmenschen, die sich nicht nur für sich selbst verantwortlich fühlen, sondern für das Gemeinwohl, die „res publica“, vertraut sie der sie begleitenden Spiegel-Redakteurin an (Nr. 32 / 2012, S. 50).
Und so kann man hier in Rom bestaunen, wie seit Jahrtausenden eine politische Schlacht nach der anderen Ruinen und Ausbeutung, aber auch wunderbare Kunst schuf und bestätigte – und eine Schicht von Steinen und Menschen nach der anderen, eine Generation von Armen und Reichen nach der anderen aufeinander aufbaute. Man schlägt sich so durch, und selbst die kleinen Leute versuchen noch auf bewundernswerte Weise, „bella figura“ zu machen. Die Grandezza der Herrschenden im Alltäglichen widerspiegelnd. Zivilisation und Barbarei – selten lassen sie sich so schön studieren wie hier.
Gut oder böse?
Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein. Haben wir doch alle, überall auf der Welt, den Wunsch nach Schönheit und Würde in uns – zusammen mit den primitivsten Machtbedürfnissen und Gewaltfantasien Auch diejenigen unter uns, die keine Menschen erschlagen, vergewaltigt oder gefoltert haben, kennen sie. Ob sie angeboren und damit genetisch verankert sind oder ob die verschiedenen Impulse in uns deshalb koexistieren, weil und wie sie uns vorgelebt wurden, wer weiß. Macht scheint bei all dem ein wichtiges Stichwort zu sein. Macht und die erzwungene Nähe von Menschen, die miteinander leben müssen, die ringen und kämpfen ums Überleben, um das Oben oder Unten, um Sein oder Nichtsein, um Gewinnen oder Unterliegen.
Dieses Thema beschäftigt mich seit Jahrzehnten: Was können wir wissen über die Tendenzen in Menschen, sich gut oder böse zu verhalten? Noch genauer, denn ich bin ja Psychotherapeutin und beschäftige mich mit den Heilungsprozessen von früh und langjährig gequälten Menschen: Wie können sich Erfahrungen von Gewalt im Innern von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verwandeln in „böse“ Gedanken, Impulse und Handlungen – oder auch transformiert werden in gute? Falls Böses Böses gebiert: Wer wird sie dann auch ausführen, die bösen Taten? Schwache Menschen, Männer eher als Frauen, schwerer gestörte eher als „Neurotiker wie du und ich“? Diese Fragen können wir stellen, weil wir heute in einer anderen als in einer Sklavengesellschaft leben (jedenfalls die meisten von uns; über die Ausnahmen werde ich auch sprechen – Kinder, die eingesperrt, gequält und mit dem Tode bedroht werden). Wir wurden nicht entführt und zum Bösen unter Folter gezwungen wie die Kindersoldaten im Kongo (jedenfalls die meisten von uns; es gibt Ausnahmen auch in westlichen Industrieländern, über die wir sprechen sollten: Kinder zum Beispiel, die zu sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“ gezwungen werden). Wir werden nicht unter Todesdrohungen zum Schweigen verpflichtet wie in einer Diktatur (Ausnahmen auch hier: AussteigerInnen aus organisierten Formen von Ausbeutung – das sollten wir uns ansehen!).
Wir dürfen, ja, wir müssen uns in einer (ansonsten) freiheitlichen Gesellschaft Gedanken machen um böse und gute Handlungen. Unsere Kinder wachsen auf und werden Tausende von Entscheidungen treffen müssen, jeden Tag. Sie werden sich gut, böse und neutral verhalten. Wer von ihnen wird zum Täter, wer nicht? Wieso können manche Menschen fast alles an Furchtbarem erleben: Einsamkeit, Verlassenheit, abrupte Verluste, Gewalt, und doch nicht selbst grausam werden? Wie kann es sein, dass ein Kind, dass viele Jahre einem Sadisten ausgesetzt war, nicht selbst sadistisch wird – ein anderes aber doch? Können wir etwas darüber wissen, was Erbe und was Umwelterfahrungen sind, wenn es um zerstörerische Handlungen geht?
„Was du ererbt von deinen Vätern hast – erwirb es, um es zu besitzen.“ Und dieser Besitz kann froh und glücklich – aber auch unzufrieden und verzweifelt machen. Goethe, der seine vielleicht schönste Zeit in Rom verbrachte und seinen „Faust“, aus dem das Zitat stammt, hier schon durchdachte, hat mit diesem Menschheitsdrama eine Parabel auf den zum Letzten, auch zum Bösen bereiten Sucher der Neuzeit verfasst, der mit den Mythen des Mittelalters versucht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen –...