Der Brahmanismus oder Ältere Hinduismus
Wie lange der Rig-Veda und die von ihm abhängigen oder ihn ergänzenden anderen drei Veden den Glauben der Arier dominierten und sowohl ihre Gottesvorstellungen als ihren Kult und ihren spirituellen Lebensrhythmus bestimmten, ist nicht genau festzustellen. Jedenfalls wurde der Ritualismus immer stärker, und die Priesterkaste gab in der frühen indischen Theokratie eindeutig und zunehmend den Ton an.
Die Schriften des Brahmanismus
Brāhmanas
Diese Entwicklung wurde deutlich sichtbar, als ab 1000 v. Chr. ausführliche Kommentare zu den Veden entstanden, die Brāhmanas genannt wurden. Man kann zwei Typen unterscheiden, die vorschreibenden und die erklärenden. Durch die ersteren war nichts mehr der Improvisation, der Phantasie oder der spontanen Eingebung überlassen, sondern alles wurde festgelegt: »Ob eine Handlung rechts oder links ausgeführt werden soll, ob ein Krug an dieser oder jener Stelle stehen soll, ob man einen Grashalm in nördlicher oder nordwestlicher Richtung hinlegen solle oder der Priester vor oder hinter dem Feuer zu stehen habe, in wie viele Stücke der Opferkuchen zu zerteilen sei – all dies und noch mehr wird bis ins einzelne behandelt.« (John A. Hardon)
Die erklärenden Kommentare erläutern ausführlich einzelne Wörter oder Sätze in den Veden – vor allem wird das in den Kommentaren zu Rig-Veda-Texten deutlich. Als Beispiel diene die Behandlung des Namens »Prajāpati« im Zusammenhang mit dem »Pferdeopfer«.
Nach den Darstellung der Brāhmanas ist die Gestalt des Prajāpati eine Schöpfung gelehrter (kosmogonischer) Spekulation und greift die archaischen Purusha-Vorstellungen vom Selbstopfer des Urmenschen auf, das erst die Schöpfung möglich machte. Auf diese Weise ist der Herr der Schöpfung (Prajāpati) identisch mit dem Urmenschen (Purusha).
Auch seine Entwicklung aus dem geistigen, nicht manifesten All-Einen, das den Urgrund von allem bildet und als innerster Kern alles Existierenden in allem verborgen ist und als das Brahman (= heilige Macht) bezeichnet wird, dient zu Vermehrung und Vielheit, und seine asketischen Aktionen, die zur Entwicklung höchster Erhitzung und damit zur Schöpfung führten, sind brahmanische Interpretationen, die als Basis für spätere Spekulationen bis hin zur hinduistischen System-Philosophie gesehen werden können.
Prajāpati ist auch ein mythologischer Name für das Jahr (also die Jahreszeiten, das Werden und Vergehen in der Natur), und seine tödliche Erschöpfung nach den vielfältigen Schöpfungsakten dient zur Veranschaulichung der natürlichen Notwendigkeit der Regeneration:
»Nachdem Prajāpati die Lebewesen aus sich entlassen hatte, waren seine Gelenke ausgerenkt. Prajāpati aber ist zweifellos das Jahr, und seine Gelenke sind die beiden Nahtstellen zwischen Tag und Nacht (gemeint sind Morgenröte und Dämmerung), sind Voll- und Neumond und der Beginn der Jahreszeiten. Er vermochte nicht, sich mit seinen ermatteten Gelenken zu erheben; die Götter heilten ihn durch das Agnihotra (= Ritual des feierlichen Trankopfers für das Feuer), indem sie seine Gelenke wieder kräftigten.« (Shatapatha-Brāhmana 1,6,3.35-36)
Diese Einrichtung der Gelenke durch die Götter korrespondiert der Errichtung des Opferaltars zum Trankopfer für das Feuer aus 360 Umfassungssteinen (für die Tage) und 360 Ziegelsteinen (für die Nächte), aus denen das indische Jahr (= Prajāpati) besteht. Wenn die Priester den Altar mit insgesamt 720 Steinen aufschichten, stellen sie – im Auftrag der Götter – den verrenkten Prajāpati (= das Jahr) wieder her und lassen das neue Jahr damit fruchtbar und lebendig werden.
Dieses Beispiel lässt tiefe Einblicke zu: auf die Glaubens- und Denkweise des älteren Hinduismus, auf die stark mythisch-mystisch-dichterische Denkweise der indischen Menschen und nicht zuletzt auf den Hochmut der Brahmanen, die von der entscheidenden Bedeutung ihrer Riten für das Funktionieren der Schöpfung überzeugt waren. In der schon mehrmals zitierten Shatapatha-Brāhmana steht der Beleg für diese Hybris: »Die Sonne würde nicht aufgehen, brächte nicht der Priester beim Anbruch der Morgenröte das Feueropfer dar.«
So kann man feststellen, dass »in den Brāhmanas die vedischen Götter ignoriert bzw. den magischen und schöpferischen Kräften des Opfers untergeordnet werden. Sie verkünden auch, dass die Götter zunächst sterblich gewesen und erst durch das Opfer göttlich und unsterblich geworden sind. Fortan hat alles in der geheimnisvollen Kraft des Ritus seinen Mittelpunkt: Ursprung und Wesenheit der Götter, sakrale Macht, Wissenschaft, Wohlergehen in dieser Welt und ›Nicht-Tod‹ im Jenseits. Das Opfer muss nur korrekt und gläubig dargebracht werden.« (M. Eliade)
Es gibt acht Brāhmanas, die jeweils den vier Veden zugeordnet sind – drei davon dem Sama-Veda. Durch die stark gewachsene Bedeutung des Brahmanen, der sich schließlich über die Götter erhob, weil er allein über die Geheimnisse des Opfers verfügte und den Willen der Götter zu lenken vermochte, hatten auch diese Brāhmanas den Rang von Offenbarungen (Mitteilungen des Gottes Brahma), die von sogenannten Rishis (= weisen Männern) gehört (d. h. in erhobenem Zustand = Trance innerlich aufgenommen) und kundgegeben wurden. Diese mediale Entstehung kommt in der Bezeichnung Shruti (= Gehörtes) zum Ausdruck, der neben den Brāhmanas auch die Aranyakas (= Texte des Waldes) und die Upanishaden (= Geheimlehren) umfasst.
Die Brāhmanas enthalten aber nicht nur Kommentare zu den Veden, sondern auch neue kosmogonische Erzählungen über den Ursprung der Welt oder Erzählungen über Götter und Göttinnen, um ihre Interpretationen zu festigen. In der Shatapatha-Brāhmana (I,8,1-6) findet sich z.B. die berühmte Geschichte von der großen Flut: Manu, der Vater der Menschheit, wird eines Morgens von einem Fisch gewarnt, dass eine weltweite Flut kommen werde, er solle ein großes Schiff bauen und ihn so lange aufziehen, bis er groß wie ein Wal geworden wäre. Im Jahr darauf war das Schiff fertig, der Fisch groß wie ein Wal geworden – und die Flut kam. Manu bestieg das Schiff, befestigte das Tau des Schiffes am Horn des Fisches und wurde von ihm zum nördlichen Gebirge gezogen, wo er als Einziger die Flut überlebte. Nach einem dargebrachten Opfer zeugte er eine Tochter, mit der er in der Folge das gesamte gegenwärtige Menschengeschlecht hervorbrachte.
In ihren Aussagen über Atman (= Person) wenden die Brāhmanas ihre übersteigerte Opfer-Ideologie auch im Sinne einer philosophischen Anthropologie bzw. Metaphysik der menschlichen Person an: Das kontinuierlich vollzogene Opfer gewährleistet nicht nur den Fortbestand der Welt und der Natur und damit das Wohlergehen der Menschheit, es vermag auch ein geistiges und unzerstörbares Wesen zu schaffen, nämlich den Atman. Damit wird das Opfer – verstanden als Gesamtheit aller rituellen Handlungen (= positives Karma), an denen die Mitopfernden Anteil haben – zur Erlösung (= Moksha) des Opfernden. Er wird als Person mit seinem Opfer jedes Mal in den Himmel erhoben, wo er wiedergeboren wird und Unsterblichkeit erlangt. Dies bedeutet, dass er nach seinem irdischen Tod endgültig zum Leben in der Form des Nicht-Todes, das die Zeit überdauert, in den Himmel zurückkehrt.
Damit ist ein frühes Fundament für die in den Upanishaden dominante Suche nach der Erlösung aus dem Samsāra (= Eingebundensein in die Notwendigkeit, immer wieder in Körper zurückkehren zu müssen) durch die Auswirkung des guten Opfer-Karmas geschaffen. Und da die Götter durch die Opfer ebenfalls positive Entwicklungsimpulse erhalten – nämlich durch das brahman, das als das unvergängliche Prinzip allen Lebens gedacht wird – und auf diese Weise unsterblich werden, wird schon in dieser frühen Zeit atman und brahman identifiziert, was ausdrücklich und konsequent erst in der Vedānta (= Ende der Veden, siehe Upanishaden) erfolgt.
Aranyakas
Zwischen den Brāhmanas und den ab 800 v. Chr. entstehenden Upanishaden gibt es fließende Übergänge, die jedoch da und dort so eigenständig werden, dass man darin eine selbstständige Gruppe vedischer Literatur sieht, die wegen ihrer esoterischen Ausrichtung Aranyakas (= Schriften des Waldes) genannt werden. Sie sind teilweise wahrscheinlich Nachträge zu den Brāhmanas, die damals bereits kanonisiert waren, lassen sich inhaltlich manchmal auch nur schwer von ihnen unterscheiden, sind andrerseits aber vielfach bereits derart philosophisch gehalten, dass sie sich auch von den etwa gleichzeitig entstehenden Upanishaden manchmal nicht deutlich abheben.
Sie werden deswegen Waldbücher genannt, weil sie von Rishis empfangen und formuliert wurden, die sich als Einsiedler und Asketen (tapas) in die Wälder zurückgezogen hatten, um diese »spekulativen Beschreibungen und allegorischen Deutungen« (H. Küng) der Rituale wegen ihrer Gefährlichkeit für Nichteingeweihte fernab von den Dörfern zu empfangen, sich darin einzuüben und sie zu lehren.
Zwei Aranyakas knüpfen an den Rig-Veda an, eines an den Atharva-Veda. Sie gehen in ihren magisch-mystischen Inhalten deutlich über...