2. «Niemals aufgeben.» Die bayerisch-schwäbisch-türkische Politikerin Ekin Deligöz
Auf die Donau bei Ulm blickte Ekin Deligöz, als sie noch Kind war. Zum Fluss ging sie mit ihrer Mutter Hatice immer dann hinunter, wenn sie beide Heimweh hatten. Ekin war in Tokat in der Türkei als Tochter einer alevitischen Familie geboren worden. Von Anfang an lebte sie in zwei Welten, das war Glück und Unglück zugleich, aber letztlich vielleicht der Grund ihrer erfolgreichen Biographie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Ihre Religion konnte Ekins Familie in Tokat nicht praktizieren: Das Fasten musste geheim bleiben, und ihre Eltern, beide Lehrer an der örtlichen Grundschule, taten gut daran, ihre Glaubensrichtung zu verschweigen. Die Stadt Tokat selbst hat eine Geschichte, die es offiziell nicht gab und über die niemand offen sprach, das ist bis heute so. Die Stadt war früher armenisch gewesen, was unter anderem am besonderen Baustil, den auskragenden Wintergärten aus Holz im ersten Stock der Wohnhäuser, immer noch gut zu erkennen ist. Tscherkessen und Juden hatten ebenfalls dort gelebt, mit den Aleviten waren diese beiden religiös und auch sonst recht verschiedenen Bevölkerungsgruppen ohne Konflikt ausgekommen. Ein Ort der Vielfalt – in früheren Zeiten.
Als Ekin 1971 in Tokat geboren wurde, war das lange her. Die Moderne hatte hier nur langsam Einzug gehalten und war immer noch nicht weit gekommen. Ekin war eines der ersten Kinder, die im neu erbauten Krankenhaus das Licht der Welt erblickt hatten. Bald zogen die Eltern, weil sie dort besser verdienten, nach Istanbul und ließen sie, ihr einziges Kind, bei der Großmutter zurück. Der Vater, ein begabter Mathematiker, war unzufrieden, weil die kleine Ekin häufig krank und für die ärztliche Behandlung kein Geld da war. «Meinen Samen habe ich umsonst hergegeben», fluchte er, eine Demütigung, die Ekin nie vergessen und auch nie verzeihen konnte. Als sie mit Eintritt in die Grundschule ebenfalls nach Istanbul zog, war der Vater schon so gut wie weg, bald würde er Frau und Tochter ganz verlassen. Die Mutter Hatice erzog Ekin nun alleine, der Vater spielte auch in Zukunft im Leben beider keine Rolle mehr. So lernte Ekin erst bei der Großmutter in Tokat und dann bei der Mutter in Istanbul von früh auf, dass Frauen auch unabhängig von Männern im Leben bestehen können.
Ihr Alevitentum kam ihr dabei zugute. Die Aleviten wurden von dem in der Türkei vorwiegenden sunnitischen Islam als Glaubensrichtung nicht anerkannt und in osmanischen Zeiten zuweilen erbarmungslos verfolgt. Aleviten kennen bei ihren religiösen Zeremonien keine strikte Geschlechtertrennung, was für orthodoxe Imame immer wieder Grund für Verleumdungen und Unterstellungen war. Von Sunniten wie Schiiten als Häresie verurteilt, ist das mystische, synkretistische und nach innen gewandte, aber auch sehr diesseitsbezogene Alevitentum stark auf die eigene Gemeinschaft bezogen. Hier ist auf dem rechten Pfad, wer Gutes tut und Gott im anderen sieht. Die Glaubenssäulen und Vorschriften sind von geringerer Bedeutung als im orthodoxen Islam: Weder beten Aleviten fünfmal täglich, noch besuchen sie Moscheen; weder nehmen sie am Ramadan teil noch an der Hadsch, der Wallfahrt nach Mekka, auch Alkoholgenuss ist ihnen erlaubt, und weder Sitte noch Pflicht zwingt die Frauen zu Schleier oder Kopftuch.
Die Großmutter war für Ekin die prägende Figur ihrer Kindheit. Ihr Haupt war stets unbedeckt, sie hatte eine französische Schule besucht, war als erwachsene Frau viele Jahre Stadträtin gewesen und auch in der religiösen Hierarchie der Stadt eine geachtete Autorität. Sie setzte auf Bildung und Selberdenken, bestand auf der Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Nicht verwunderlich deshalb, dass ihre Enkelin bis heute der Überzeugung ist, dass die Integration der türkischen Minderheit in Deutschland in der Hauptsache von Frauen vorangebracht wurde, kaum von den Männern, die um ihren traditionellen patriarchalischen Status fürchten.
Das starke Erbe der Großmutter und des Alevitentums sowie ihre Erfahrung als Außenseiterin in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft der Türkei: Das war das soziale Kapital, das Ekin am 29. Oktober 1979, ein unvergessliches biographisches Datum für sie, mit nach Deutschland brachte, als sie mit ihrer Mutter auf dem Münchner Flughafen landete. Hatice war damals siebenundzwanzig Jahre alt, ihre Tochter acht. Sie hatten zwei Koffer dabei, den einen voller Kleidung, den anderen mit ihren Lieblingsbüchern. Die meisten davon wurden in der Türkei bald verboten, als dort ein Jahr später wieder einmal das Militär putschte. Im Geldbeutel hatten sie nicht mehr als einhundert Deutsche Mark. Fünfzig gingen kurz nach der Ankunft für eine Barbiepuppe weg. Sie war das eine der beiden Lockmittel gewesen, um Ekin dazu zu bewegen, die türkische Heimat zu verlassen. Das andere war eine Reise nach Spanien, aber diese Sehnsucht musste lange unerfüllt bleiben. Weil das türkische Konsulat samstags geschlossen hatte und sie nicht wussten, wohin, verbrachten Ekin und Hatice das Wochenende vorerst in einem Heim in Neuperlach. Dort wohnten junge Türkinnen, die bei Siemens arbeiteten. An jenem Abend fand dort eine Party statt, auf der Kochgeschirr von AMC angeboten wurde, sündhafte teure Töpfe, die unter den Arbeitsmigrantinnen als eine Art Mercedes für die Frau galten. Wieder zurück in der Türkei, mussten die Käuferinnen dann oft feststellen, dass das Statussymbol nur auf Elektroherden funktionierte, während man in der Heimat damals überwiegend mit Gas oder Holz kochte. Da war das Geld für die heiß ersehnte Barbiepuppe schon besser angelegt.
Hatice war, anders als die meisten der Migrantinnen in dieser Zeit, nicht als Arbeiterin nach Deutschland gekommen. Als Lehrerin hatte sie sich für fünf Jahre verpflichtet, türkische Gastarbeiterkinder zu unterrichten. Aus diesem Grund galt für sie nicht der Anwerbestopp für «Gastarbeiter» aus Nicht-EG-Staaten, der von der Bundesrepublik im November 1973 verhängt worden war. Hatice genoss darüber hinaus den Vorteil eines doppelten Lehrergehalts, eines in- wie auch eines ausländischen. Darüber hinaus bedeutete ökonomische Unabhängigkeit für die junge Frau auch den endgültigen Ausbruch aus ihrer Ehe. Deutschland war ein Emanzipationsversprechen. Für Hatice. Aber auch für Ekin.
Ihr Bestimmungsort war Senden, ein Städtchen im Illertal, südlich von Neu-Ulm in Bayerisch-Schwaben, hart an der Grenze zu Baden-Württemberg. Hatices Lehrtätigkeit sollte die Kinder nicht etwa integrieren, sondern ihnen eine türkische Erziehung sowie eine vaterländische Gesinnung angedeihen und sie kein Deutsch lernen lassen. Daran war damals auch die Bundesrepublik interessiert, ihr lag an der irgendwann erfolgenden Rückkehr und nicht am dauerhaften Verbleib der sogenannten Gastarbeiterfamilien. Senden war unscheinbar, ein ehemaliges Dorf, angewachsen zu einer rein funktionalen Kleinstadt, im Laufe fortwährenden Strukturwandels hatte sich dort immer mehr Industrie angesiedelt. Ein gesichtsloser Ort, mehr Vorstadt als Stadt, für Ekin aber ein Wunder, fast eine Erlösung. Auch wenn es ihr schwergefallen war, die Türkei zu verlassen und in ein fremdes Land zu ziehen, war sie, kaum in Senden angekommen, augenblicklich froh, Istanbul hinter sich zu haben. Dort hatten Hatice und Ekin zwar viele schöne Dinge unternommen, waren ins Kino, in Konditoreien, am liebsten ins Kindertheater und anschließend Kebab essen gegangen. Dass Senden nicht schön war, fiel auch der kleinen Ekin auf. Aber der Ort war überschaubar, lag in einer grünen, hügeligen Landschaft, die Alpen waren nicht weit, und wenn es klar war, sah man die Silhouette der Berge am Horizont in bläulichem Dunst. Für Ekin sah es fast aus wie in Tokat, ein wenig ländlich, Natur und Landschaft in Sicht- und Reichweite. Zuhause.
Trotzdem quälte Mutter und Tochter oft das Heimweh. Wenn es ganz arg war, fuhren sie nach Ulm und spazierten am Donauufer entlang. Blickten sie auf das irgendwann nach Südosten fließende Gewässer, wussten sie, es würde mehr als zweitausend Kilometer entfernt in das Schwarze Meer münden, ein kleiner Teil dieses Wassers würde also irgendwann auch die Nordküste der Türkei umspülen. Das tröstete ebenso wie die Vorstellung, dass die Iller in die Donau münde und so eine direkte Verbindung von hier nach dort bestünde. Lange Zeit hing in Ekin Deligöz’ Büro das Gemälde eines lokalen Malers, es zeigte die Auen der Iller vor ihrer Mündung in die Donau in dramatisch düsteren Farben. Ihre Arbeitskollegen fanden das Bild deprimierend und mochten es nicht, aber Ekin Deligöz verstand es als Sinnbild ihrer doppelten Heimat. Irgendwann nahm sie das Gemälde von der Bürowand und hängte es in ihrem Arbeitszimmer zu Hause auf. Dort befindet es sich immer noch und erinnert an ihre zwei Welten, das anatolische Bergland und an Bayerisch-Schwaben, das doppelte Zuhause.
Immigranten geraten nach ihrer Ankunft im Aufnahmeland oft in eine Identitätskrise, die gemeistert werden muss; scheitern sie an dieser nicht leichten Aufgabe, droht Selbstisolierung. Gewohnte kulturelle Handlungs- und Deutungsmuster funktionieren in der neuen Umgebung nicht mehr, neue müssen erlernt werden. Hatice hatte bereits am Goethe-Institut in Istanbul einen Grundkurs in deutscher Sprache besucht, besaß also ein paar sprachliche Vorkenntnisse. Damit begnügte sie sich aber nicht, sondern belegte gleich nach ihrer Ankunft in Senden einen wöchentlichen Abendkurs zur Weiterbildung. Das erwies sich als schwierig, da sie ihre Tochter abends nicht allein lassen wollte und ihr auch die Sprachlehrerin nicht freigab, wenn Ekin krank war. Also...