Begriffe, Irritationen, Ordnungsversuche
Auf den ersten Blick scheint der Salafismus ein Phänomen zu sein, das sich durch die gesamte Geschichte des Islams zieht, denn auch nicht-salafistische Muslime berufen sich auf die as-salaf as-sālih, die «frommen Altvorderen», das heißt die ersten drei Generationen der islamischen Gemeinschaft. Der Damaszener Gelehrte ʿAbdalghanī an-Nābulusī (gest. 1731)[1] schreibt über Vertreter einer dem Salafismus recht ähnlich anmutenden puristischen Strömung seiner Zeit:
Sie nennen sich selber Asketen und Mahner und sehen andere weder als Muslime noch als tugendhaft. […] Sie forschen Tag und Nacht nach Fehlern der Menschen. […] Sie nennen Leute aus nichtigen Gründen Ungläubige. Sie erlegen den Menschen ohne ausreichenden Beweis Beschränkungen auf.[2]
Man könnte meinen, der Autor spreche über moderne Strömungen.
Wenden wir uns nach den historischen Erscheinungen den zeitgenössischen Vorgängen zu. Die Terroranschläge in Paris, Brüssel, Berlin, Orlando, aber auch in Beirut, Istanbul und Sousse, im Irak, in Jakarta und an vielen anderen Orten lassen nach der Gedankenwelt der Täter fragen, und in den Antworten kommt immer wieder der Salafismus zur Sprache. Wenn Netzwerke von potentiellen Attentätern entdeckt, «Gefährder» observiert und verhaftet, fromme Vereine verboten und Moscheen geschlossen werden, wird auf den Salafismus verwiesen. Der Islamische Staat gilt ebenso wie das Terrornetzwerk al-Qaida als salafistisch. Aber was genau ist der Salafismus? Auf welche Ideen stützt er sich? Woran erkennt man Salafisten? Politische Hilflosigkeit führt zu gesetzgeberischen Notlösungen wie dem Verbot, einen Gesichtsschleier zu tragen. Aber wie kann man einer Bedrohung durch Salafisten wirkungsvoll begegnen? Antworten auf diese Fragen sind nicht leicht, es gibt kein Patentrezept, denn der Salafismus ist zunächst ein irritierendes Phänomen.
Im Dezember 2016 wurden in einem südostasiatischen Land die Teilnehmer einer internationalen Konferenz eingeladen, eine islamische Schule zu besuchen, die als Musterbeispiel für interreligiöse Toleranz gilt. Nach Abschluss der Vorträge und Darbietungen von Schülerinnen, Lehrerinnen und Lehrern der Schule machten sich alle zum Aufbruch bereit. Der Botschafter Saudi-Arabiens meldete sich aber noch zu Wort und verkündete, Saudi-Arabien wolle die Schule mit einer Schenkung in beträchtlicher Höhe bedenken.[3] Handelte es sich um die persönliche Begeisterung des Botschafters für diese Schule, die finanziell nicht auf Rosen gebettet ist? War es ein symbolischer diplomatischer Akt, der Saudi-Arabien als den Unterstützer des Islams weltweit ins rechte Licht setzen sollte? Oder handelte es sich um eine gezielte Einflussnahme, die die saudische Version des (wahhabitischen) Islams fördern sollte, da die Schulleitung einem großzügigen Spender schlecht etwas abschlagen kann? Es ist schwer, eine solche Geste ohne Weiteres richtig zu verstehen.
Die gleiche Schwierigkeit zeigt sich bei einem anderen Beispiel. Im November 2016 lehnte eine – offenkundig mit Teilnehmern aus dem salafistisch-wahhabitischen Spektrum besetzte – internationale Konferenz in Kuwait zu dem Thema «Das richtige Verständnis [des Glaubens] für die Anhänger der Sunna und der [wahren] Gemeinschaft» (ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa)[4] in der Abschlusserklärung den «Extremismus» (ghulūw, tatarruf) zwar ab, erhob aber zugleich einen Absolutheitsanspruch: «Die Methode der ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa ist eine einzige; es gibt in ihr keinen Pluralismus.» Diejenigen, die den ersten Generationen der Muslime (salaf) folgten, seien nicht irgendein Teil der sunnitischen Gemeinschaft, sondern sie seien die ahl as-sunna waʾl-dschamāʿa selbst und daher nicht verschiedenen Strömungen zuzuordnen – auch nicht einer salafistisch-dschihadistischen.
Folgende alternative Bezeichnungen für ahl al-sunna waʾl-dschamāʿa werden genannt: «die Gefolgsleute der Überlieferung des Propheten» (ahl al-hadīth), «die Anhänger der Überlieferung» (ahl al-athār), «die gerettete Gruppe» (al-firqa an-nadschīya), «die siegreiche Gruppe» (at-tāʾifa al-mansūra),[5] «die Gemeinschaft der Mitte» (al-umma al-wasat) oder eben «Salafisten».[6]
Signalisiert die Schlusserklärung dieser Konferenz eine klare Grenzziehung zwischen Salafisten und gewalttätigem Dschihadismus? Steht der Exklusivismus der Erklärung nicht andererseits der dschihadistischen Verwerfung aller anderen Glaubensüberzeugungen nahe? Zeigen die terminologischen Überschneidungen der Erklärungen mit dschihadistischen Diskursen eine gedankliche Nähe an?
Eine gedankliche und praktische Nähe zwischen Salafismus und Dschihadismus bildet auch den Hintergrund der salafistischen Gruppe «Die wahre Religion», die in Deutschland durch die Koranverteilungskampagne «Lies!» bekannt geworden ist. Ihr wird vorgeworfen, antidemokratische Ideen zu verbreiten, Ausreisen nach Syrien und in den Irak zu organisieren und dadurch Gewalt zu unterstützen. Das Problem ist jedoch, solche Verbindungen auch zu beweisen.[7]
Bestehen aber gedankliche Verbindungen zwischen salafistischem und dschihadistischem (und wahhabitischem) Denken, die einen solchen Vorwurf rechtfertigen können? Ist der Salafismus eine Art «Durchlauferhitzer» für den Dschihadismus?
Die Dschabhat al-Nusra, die sich inzwischen aus taktischen Gründen umbenannt hat, war die wichtigste Organisation des al-Qaida-nahen dschihadistischen Spektrums in Syrien. In einem häufig angeklickten Video preist einer ihrer maßgeblichen Prediger die Paradiesjungfrauen, die den getöteten Kämpfer erwarten. ʿAbdallāh ibn Muhammad ibn Sulaimān al-Muhaisinī, so der Name des Prediger-Stars, ist ein erfolgreicher Fundraiser und Rekrutierer; er ist auch Oberrichter der Dschabha Fath al-Schām, der jüngsten Verpuppung der Dschabhat al-Nusra. Er stammt aus Saudi-Arabien und hat dort auch seine Ausbildung erhalten. An der saudischen Umm al-Qurā-Universität schrieb er an einer Dissertation zur Stellung der Kriegsflüchtlinge im islamischen Recht. Diese Arbeit brach er jedoch ab, um nach Syrien in den Krieg zu ziehen.[8]
Gibt es nun einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung von al-Muhaisinī in Saudi-Arabien und seiner Hinwendung zum militärischen Dschihad? Besteht also eine Affinität zwischen wahhabitischem und dschihadistischem Denken jenseits personeller Überschneidungen?
Solche Fragen stellen sich auch im Hinblick auf den Islamischen Staat (IS). Einer der lange Zeit führenden Gelehrten des IS, Turkī Binʿalī[9] – inzwischen wird angenommen, dass er in internen Kämpfen unterlegen ist[10] –, hat ebenfalls seine Ausbildung bei wahhabitischen Gelehrten erhalten und empfiehlt wahhabitische Schriften zur Lektüre. Ist die Ideologie des IS also vom wahhabitischen Islam beeinflusst? Entspricht sie ihm gar?
All diesen Fragen wird im vorliegenden Buch nachzugehen sein. Die Hypothese, von der wir ausgehen, ist, dass es ein gedankliches Milieu gibt, in dem sich Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus mischen und berühren. Zu widersprechen ist dabei der auch von Islam-Kritikern gerne vorgetragenen Annahme, Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus drückten irgendeine Form des authentischen Islams aus. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem Salafismus, wie von dessen Vertretern behauptet, tatsächlich ein «Angriff auf den Islam». Notwendige muslimische Kritik am Salafismus wäre dann unmöglich. Die Islam-Kritiker hätten Recht, die kritische Muslime als Heuchler denunzieren, welche den Islam verharmlosen wollen. Recht hätten dann auch diejenigen, die liberale Muslime als die Verbündeten der Feinde des Islams bekämpfen.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Salafismus, Wahhabismus und Dschihadismus ist nur dann möglich, wenn man die ganze Breite der islamischen Tradition in den Blick nimmt und sie nicht nur am koranischen Text und den Hadithen, den Überlieferungen vom Propheten, misst. Im Islam wird...