Einleitung
Es ist heute schwer vorstellbar, aber als ich in den frühen 1980ern meine medizinische Ausbildung machte, schenkten Forscher der dauerhaften Beeinträchtigung, die ein psychologisches Trauma hervorrufen kann, wenig Beachtung. Noch weniger Aufmerksamkeit wurde darauf gerichtet, auf welche Weise Traumata Kinder schädigen könnten. Es wurde nicht als wichtig angesehen. Man glaubte, dass Kinder eine natürliche »Widerstandskraft« besitzen, die mit der angeborenen Fähigkeit einhergeht, rasch wieder »auf die Beine zu kommen«.
Als ich Kinderpsychiater und Neurobiologe wurde, hatte ich nicht das Ziel, diese fehlgeleitete Theorie zu widerlegen. Ich machte jedoch als junger Forscher im Labor die Beobachtung, dass Stress auslösende Erfahrungen – vor allem, wenn sie in frühen Jahren auftreten – das Gehirn von Jungtieren verändern können. Zahlreiche Tierstudien erbrachten Nachweise dafür, dass selbst scheinbar geringfügiger Stress während der Kindheit einen dauerhaften Einfluss auf die Architektur und Chemie des Gehirns, und damit auf das Verhalten, ausübt. Ich dachte mir: »Warum sollte das nicht auch für Menschen gelten?«
Diese Frage bekam für mich eine noch größere Bedeutung, als ich meine klinische Tätigkeit mit problembelasteten Kindern begann. Ich fand bald heraus, dass die überwiegende Mehrheit meiner Patienten aus einem Leben voller Chaos, Vernachlässigung und/oder Gewalt kam. Es war offensichtlich, dass diese Kinder nicht wieder »auf die Beine kamen« – sonst wären sie nicht in eine kinderpsychiatrische Klinik aufgenommen worden! Sie hatten Traumata wie Vergewaltigung oder das Miterleben eines Mordes erlitten. Wären sie nicht Kinder, sondern Erwachsene mit psychiatrischen Problemen gewesen, so hätten die meisten Psychiater wohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Betracht gezogen. Diese Kinder wurden jedoch behandelt, als ob ihre traumatischen Erfahrungen irrelevant wären und als ob sie bloß »zufällig« Symptome wie Depression oder Aufmerksamkeitsprobleme entwickelt hätten, die häufig sogar eine medikamentöse Behandlung erforderlich machten.
Sicher, auch die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung selbst wurde erst 1980 in die Psychiatrie eingeführt. Anfangs wurde sie als etwas Seltenes angesehen, ein Leiden, das nur eine Minderheit von Soldaten befällt, deren Kriegserlebnisse verheerende Auswirkungen auf sie gehabt hatten. Doch schon bald wurden dieselben Symptome – aufdringliche Gedanken über das traumatische Erlebnis, Rückblenden (»Flashbacks«), Schlafstörungen, ein Gefühl von Unwirklichkeit, verstärkte Schreckhaftigkeit und extreme Angst – bei Vergewaltigungsopfern, Opfern von Naturkatastrophen und bei Menschen, die lebensbedrohliche Unfälle oder Verletzungen erlitten bzw. miterlebt haben, beschrieben. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass mindestens sieben Prozent aller Amerikaner unter solchen Auswirkungen leiden. Die meisten Menschen sind mit der Idee vertraut, dass ein Trauma tiefgreifende und anhaltende Auswirkungen haben kann. Vom Grauen der Terrorangriffe des 11. September 2001 bis zu den Folgen des Hurrikans Katrina – es wird sichtbar, dass verhängnisvolle Ereignisse unauslöschliche Spuren in der Psyche hinterlassen können. Wir wissen heute – wie meine Forschungen und die so vieler anderer letztendlich gezeigt haben –, dass die Auswirkungen bei Kindern sogar noch viel weitreichender sind als bei Erwachsenen.
Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, zum einen zu verstehen, auf welche Weise Traumata auf Kinder einwirken, und zum anderen innovative Wege zu entwickeln, um ihnen beim Umgang damit zu helfen. Ich habe Kinder behandelt, die Erfahrungen gemacht haben, die so schrecklich waren, dass man es sich kaum vorstellen kann – von den Überlebenden der Feuersbrunst des Davidianer-Kults in Waco, Texas, über vernachlässigte osteuropäische Waisenkinder bis zu Überlebenden von Völkermord. Ich habe Gerichte dabei unterstützt, die Trümmer einer fehlgeleiteten strafrechtlichen Verfolgung von »satanischem Ritualmissbrauch« durchzusehen, deren Grundlage erzwungene Anschuldigungen von gefolterten, angsterfüllten Kindern waren. Ich habe getan, was in meinen Möglichkeiten stand, um Kindern zu helfen, die Zeugen der Ermordung ihrer Eltern waren, sowie solchen, die Jahre ihres Lebens angekettet in Käfigen oder sogar eingesperrt in Toiletten zugebracht haben.
Während einerseits die meisten Kinder nie etwas so Schreckliches erleiden werden wie das, was viele meiner Patienten durchgemacht haben, kommt es andererseits selten vor, dass ein Kind von einem Trauma gänzlich verschont bleibt. Zurückhaltenden Schätzungen zufolge erleben rund 40 Prozent der amerikanischen Kinder bis zum Alter von 18 Jahren mindestens ein potenziell traumatisches Ereignis: Dazu gehört der Tod eines Elternteils oder Geschwisters, anhaltende körperliche Misshandlung und/oder Vernachlässigung, sexueller Missbrauch oder die Erfahrung eines schweren Unfalls, einer Naturkatastrophe, häuslicher Gewalt oder eines anderen Gewaltverbrechens.
Allein im Jahr 2004 wurden geschätzte drei Millionen offizielle Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs oder Vernachlässigung bei Kinderschutzbehörden erstattet; ungefähr 872.000 dieser Fälle wurden bestätigt. Natürlich ist die tatsächliche Anzahl missbrauchter und vernachlässigter Kinder weit höher, weil die meisten Fälle nie zur Anzeige gelangen und weil bei manchen Fällen die Beweislage nicht ausreicht, um offizielle Maßnahmen ergreifen zu können. In einer groß angelegten US-amerikanischen Befragung berichtete ungefähr jedes achte Kind unter 17 Jahren, im vergangenen Jahr in einer schwerwiegenden Form von Erwachsenen missbraucht worden zu sein. Etwa 27 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer sagen als Erwachsene aus, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. In einer nationalen Befragung, die 1995 durchgeführt wurde, gaben sechs Prozent der Mütter und drei Prozent der Väter sogar zu, ihre Kinder mindestens einmal körperlich misshandelt zu haben.
Ferner wird angenommen, dass jährlich bis zu zehn Millionen amerikanische Kinder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind und vier Prozent der amerikanischen Kinder unter 15 Jahren einen Elternteil durch Tod verlieren. Außerdem befinden sich jedes Jahr ungefähr 800.000 Kinder in Pflege und Millionen weitere sind Opfer von Naturkatastrophen und verheerenden Autounfällen.
Obwohl ich nicht unterstellen will, dass all diese Kinder aufgrund von solchen Erfahrungen »schwere Schädigungen« davontragen, gehen gemäßigte Schätzungen davon aus, dass zu jeder Zeit mehr als acht Millionen amerikanische Kinder an schweren, diagnostizierbaren psychiatrischen Problemen leiden, die mit einem Trauma in Zusammenhang stehen. Millionen weitere erleben weniger schwere, aber dennoch besorgniserregende Folgen.
Ungefähr jedes dritte Kind, das Missbrauch erfährt, wird infolgedessen eindeutige psychische Probleme haben – und die Forschung bringt laufend Nachweise dafür, dass sogar die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben von anscheinend rein »körperlichen« Problemen wie Herzerkrankungen, Fettleibigkeit und Krebs betroffen zu sein, bei traumatisierten Kindern erhöht ist. Die Art und Weise, in der Erwachsene während und nach einem traumatischen Ereignis auf Kinder reagieren, kann im Hinblick auf diese eventuellen Folgen einen enormen Unterschied machen – sowohl im Guten als auch im Schlechten.
Im Laufe der Jahre haben zahlreiche Forschungsarbeiten ein viel reichhaltigeres Verständnis dafür geschaffen, was ein Trauma bei Kindern bewirkt und wie man ihnen helfen kann, sich davon zu erholen. 1996 gründete ich die ChildTrauma Academy, eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten, die sich der Verbesserung des Lebens von stark gefährdeten Kindern und deren Familien widmet. Wir führen unsere klinische Arbeit fort und haben noch viel zu lernen. Unser vorrangigstes Ziel ist es jedoch, Behandlungsmethoden auf der Grundlage unseres derzeitigen Wissens an andere weiterzugeben. Wir lehren Menschen, die mit Kindern arbeiten – seien es Eltern oder Staatsanwälte, Polizeibeamte oder Richter, Sozialarbeiter, Ärzte, Entscheidungsträger oder Politiker –, die wirkungsvollsten Methoden zur Minimierung von Traumafolgen und zur Maximierung von Heilung zu verstehen. Wir beraten Behörden und andere Gruppen, um ihnen dabei zu helfen, die besten Methoden für den Umgang mit diesen Themen in die Tat umzusetzen. Meine Kollegen und ich reisen um die Welt, wir sprechen mit Eltern, Ärzten, Erziehern, im Kinderschutz Tätigen und Gesetzeshütern sowie mit einflussreichen Vertretern aus Politik, Justiz und Wirtschaft. Dieses Buch ist ein Teil unserer Bemühungen.
Sie werden darin einigen der Kinder begegnen, von denen ich am meisten darüber gelernt habe, wie sich ein Trauma auf junge Menschen auswirkt. Und Sie werden erfahren, was diese Kinder von uns – ihren Eltern und Erziehungsberechtigten, ihren Ärzten, ihren Politikern – brauchen, wenn sie ein gesundes Leben aufbauen sollen. Sie werden sehen, wie traumatische Erfahrungen Kinder zeichnen, wie sie ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeit zu körperlichem und emotionalem Wachstum...