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WAS DIE GESCHEITESTEN MENSCHEN DER WELT ÜBER DAS GLÜCK DACHTEN
Mit schallendem Gelächter begann die Philosophie. Gerade war Thales von Milet in einen Brunnen gefallen, weil er wieder mal sinnierend und den Himmel betrachtend durch die Gegend geschlendert war, und eine thrakische Magd, die das sah, prustete los vor Heiterkeit. Was Thales so machte, das schien dieser Frau ohnehin ziemlich seltsam. Er dachte nach. Beruflich sozusagen. Er betrachtete die Welt und versuchte, ihr auf den Grund zu gehen – und landete doch nur auf dem Grund eines Brunnens. »Ach, Papperlapapp!«, wie meine Tante Cläre immer ausrief, wenn ich ihr von meinem Philosophiestudium erzählte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, uns Städter mit dem »Humus«, also mit Mutter Erde, in Kontakt zu bringen. Eines Tages, als ich sie besuchte, forderte sie mich auf, mit ihr auf eines ihrer Felder zu fahren. Dort lud sie einen Eimer Mist in mein Auto, den ich dann auf ein anderes Feld fahren sollte. Eine Woche danach musste ich meinen Philosophieprofessor zu einer Tagung über die Wahrheit fahren. Das war ziemlich peinlich, denn der Wagen stank immer noch zum Himmel. Auf der Tagung redete erst ein Naturwissenschaftler, so eine wissenschaftliche Tante Cläre, der in aller sympathischen Naivität, die Naturwissenschaftlern manchmal eigen ist, steif und fest behauptete, nur das, was man messen könne, das sei die Wahrheit. Doch dann trat mein Philosophieprofessor ans Pult und erläuterte brillant, dass auch die Kreuzabnahme von Rubens in der Kathedrale von Antwerpen, auch das Requiem von Mozart, ja auch das Glück eines Menschen wahr seien. Sogar der Naturwissenschaftler war ganz hingerissen. Viel später hat mir meine Tante Cläre übrigens gestanden, dass der Transport des Mistkübels gar keinen Sinn hatte, sie wollte mir nur mal wieder zeigen, was eine Harke, pardon, eine Mistgabel ist. Doch Tante Cläre sollte nicht das letzte Wort behalten und auch die thrakische Magd nicht. Als Thales von Milet behauptete, er könne eine Sonnenfinsternis voraussagen, da lachte sie wohl noch schallender. Doch dann ereignete sich die Sonnenfinsternis tatsächlich. Am 28. Mai 585 vor Christus trat plötzlich Stille ein, das hämische Lachen seiner Mitmenschen verstummte, und in die Stille hinein lachte ein einziger Mensch, der erste Philosoph: Thales von Milet.
Und weil seine Philosophie sozusagen »funktionierte«, interessierte man sich plötzlich auch für die anderen Dinge, die Thales so dachte. Was die Ur-Sache von allem sei, dafür interessierte sich Thales, was hinter den Dingen stecke, was das Eigentliche der Welt und des Lebens sei. Und auch zum Glück äußerte er sich, der erste Philosoph, allerdings nur kurz und knapp: Gesund, gescheit und gebildet müsse man sein, um glücklich zu werden.
Die Philosophie ist nicht unmittelbar nützlich, sie hilft nicht bei Ackerbau und Viehzucht und auch nicht bei den lästigen Haushaltstätigkeiten einer thrakischen Magd, doch schon früh erkannten die Menschen, dass tieferes Nachdenken zu einer tieferen Erkenntnis der Welt und dadurch auch zu einem besseren Leben führen kann. Will man unvermeidlich glücklich werden, dann kann es jedenfalls nicht schaden, kluge Menschen zu fragen, wie man aus ihrer Sicht glücklich werden könne. Philosophen sind kluge Menschen. Und fast alle haben in der langen Geschichte der Philosophie gute Ideen zum Glück entwickelt.
Thales war nur der Anfang. Platon wird später sagen, dass der Mensch Glückseligkeit dann erreicht, wenn er den Umlauf der Gestirne erkennt und die Bewegungen der eigenen Seele diesen Bewegungen angleicht. Das Glück stehe also gewissermaßen in den Sternen. Daraus wird noch 2000 Jahre später Immanuel Kant den Schluss ziehen: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« Schöner hätte man es nicht sagen können, doch kann auf diese Weise wirklich jeder glücklich werden?
Den frühesten Philosophen jedenfalls wurde sehr schnell klar, dass wirkliches Glück nicht von Äußerlichkeiten abhängig sein könne, nicht von Reichtum, von leiblichen Genüssen und auch von Sex nicht. Glück müsse etwas Innerliches sein. Wenn die Seele nicht glücklich sei, dann sei der Mensch nicht glücklich. Glück, so sagt Demokrit, sei Seelenruhe, die der Heiterkeit des Gemüts entspringe. Wenn Glück in Ergötzungen des Leibes bestünde, dann müsse man schließlich Ochsen als glücklich bezeichnen, wenn sie reichlich Erbsen zum Fressen fänden, meint Heraklit. Und unglücklich nennt Empedokles übrigens religiöse Fanatiker, die nicht in sich selber ruhten. Eine höchst aktuelle Bemerkung. Aber auch damals gab es schon Pessimisten wie den »Selbstmordprediger« Hegesias, die fanden, im Grunde könne man gar nicht glücklich sein, da die Seele ja im Körper stecke und der Körper unvermeidlich leide, und wenn man dann einmal meine, für Momente glücklich zu sein, dann werfe ein tragisches Schicksal alles über den Haufen. Nicht glücklich könne man unvermeidlich werden, sondern unglücklich. So richtig begeistert wäre die thrakische Magd des Thales wahrscheinlich über solche Ergebnisse von 200 Jahren Philosophie auch nicht gewesen, von meiner Tante Cläre gar nicht zu reden.
a)Philosophenglück: Platon, Aristoteles und meine Tante Cläre
Und dann kommen auch noch Platon und Aristoteles, die siamesischen Zwillinge der griechischen Philosophie, und erklären mit hochgezogenen Augenbrauen, wirklich glücklich könnten im Grunde nur die Philosophen werden. Fast einmütiger Beifall der Philosophenzunft, außer von Leuten wie Diogenes von Sinope, der seine Wohn-Tonne nicht verlassen wollte. Demgegenüber kennen wir zwar keine Kommentare von thrakischen Mägden zu dieser elitären These, meine Tante Cläre jedenfalls hätte sich die beiden gehörig zur Brust genommen. Doch da sie damals noch nicht lebte, konnte niemand verhindern, dass diese elitäre Glücksvorstellung in unterschiedlichen Variationen jahrhundertelang hohes Ansehen genoss. Dabei kann der Philosoph Platon selbst eigentlich nicht sehr glücklich gewesen sein, als er erleben musste, dass in Syrakus sein Philosophenstaatsprojekt immer wieder jammervoll scheiterte, weil griechische Philosophie da auf süditalienische Wirklichkeit traf. Und auch beim Philosophen Aristoteles hing der Himmel nicht immer voller Geigen, als er in Athen angefeindet wurde und dann ruhelos durchs Land zog. Da war sein ziemlich unphilosophischer Schüler Alexander der Große in seinem kurzen intensiven Leben mutmaßlich glücklicher. Meine Erfahrung im Philosophiestudium war, dass Leute, die nur Philosophie studierten, entweder irgendwann einen Lehrstuhl bekamen – das waren die wenigsten – oder kreuzunglücklich wurden – das waren die meisten –, weil sie ewig studierten. Denn ihre Begeisterung für Philosophie hatte zur Folge, dass sie glaubten, sie müssten erst mal alle Texte der großen Philosophen lesen und vor allem verstehen, bevor sie den ersten eigenständigen philosophischen Satz von sich gaben. Das war dann meistens irgendeine Bemerkung im Gespräch mit dem netten Herrn vom Arbeitsamt. Ich kann persönlich nicht bestätigen, dass das Philosophiestudium glücklicher macht als die Ausbildung zum Zahntechniker.
Dennoch kann man nicht bestreiten, dass Philosophen tiefe Einsichten zum Glück gefunden haben, die nicht nur für Philosophieprofessoren, sondern für alle Menschen außerordentlich nützlich sein können. Und als es mir gelungen war, mich vom philosophischen Einfluss meiner Tante Cläre zu emanzipieren, konnte ich auch Platon und Aristoteles wieder schätzen. Denn natürlich meinten die, wenn sie von Philosophen sprachen, nicht irgendwelche skurrilen Bücherwürmer, sondern ganz normale geistig offene Menschen, denen auf dem Marktplatz zum Beispiel Sokrates, der größte der griechischen Philosophen, begegnete, um sie in ein philosophisches Gespräch zu verwickeln, also Menschen wie Sie und ich, liebe Leserinnen und Leser.
Platon, der klügste Schüler des Sokrates, denkt tiefer über das Glück nach und rät, das scheinbare Glück durch Reichtum, Macht und Ansehen vom wahren Glück zu unterscheiden. Nur so, davon ist Platon überzeugt, könne man gegen die falschen Versprechungen der hemmungslosen wortreichen Glückspropaganda von unseriösen Salonphilosophen, den Sophisten nämlich, gewappnet sein, die das Blaue vom griechischen Himmel versprechen. Was da im glücksverheißenden Angebot sei, das klinge zwar total super, in Wirklichkeit könne man aber nicht so mal auf die Schnelle glücklich werden. An ein bisschen Nachdenklichkeit führe kein Weg vorbei, und Nachdenklichkeit nannte man damals Philosophie, deswegen die elitär wirkenden Sprüche.
Glück, das konnte nach allem, was die bisherigen Philosophen sich ausgedacht hatten, jedenfalls nicht auf der kurzfristigen Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse beruhen, da war auch Platon sicher. In der Seele des Menschen müsse das Glück begründet liegen, ein guter Mensch, der ein rechtschaffenes Leben führt, müsse auch glücklich sein. Das klingt noch in Goethes Faust nach, wo Gottvater zu Anfang verkündet: »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges stets bewusst.« Doch was heißt da eigentlich gut, fragt Platon. Jeder Mensch hat seine Macken und Schwächen, wer ist schon immer gut? Immer gut ist in Wahrheit nur der Gott, sagt Platon. Daher kann eigentlich kein Mensch wirklich glücklich werden.
Doch dann kommt die große platonische Lösung. Ausgerechnet der Staat soll’s nun richten. Zwar hält der Grieche Platon den real existierenden athenischen Staat...