ÜBER WALD UND FLUR MIT GEORG GRABHERR
Nachhaltigkeit = Der Natur ihre Ordnung lassen
Es war die Zeit, als das Waldsterben und der dazugehörige „saure Regen“ ziemlich große Besorgniskreise in der Welt zog. Manche Naturschutzorganisationen versuchten, den Weltuntergang herbeizureden, die Forstleute warfen sich in eine Art Dauerverteidigungsposition oder schwiegen streckenweise gänzlich, und das angstgebeutelte Volk verlangte nach fundierten Antworten und nach Lösungen. In dieser Situation wagte es Professor Georg Grabherr, der Naturschutzprofessor der Nation, eine Studie zu starten, die die Hemerobie, also die Natürlichkeit der heimischen Wälder untersuchen sollte. Die Aufregung darob war groß, besonders unter den Forstleuten. Heimlich ballte man die Fäuste. Einer aus der Naturschutzszene, der sich über den geliebten Wald Gedanken macht? Ja, darf denn der das überhaupt?
Er durfte und tat. Was am Ende der Studie herauskam, belegte wissenschaftlich, dass es um den Wald in Österreich gar nicht so schlecht bestellt war und dass die generationenübergreifende, naturnahe Waldwirtschaft der heimischen Forstleute einen wesentlichen Teil zu diesem – im Vergleich zu anderen Ländern – ausgezeichneten Befund beigetragen hatte. Die Fäuste entspannten sich. Entsprechende Gesetze wurden geschaffen, die zu einer deutlichen Verbesserung der Situation beitrugen. Das Waldsterben geriet allmählich in Vergessenheit. Manchmal flammt es hie und da noch kurz auf – Bedrohungsszenarien bringen immer gute Schlagzeilen. Aber Dauerhiobsbotschaften haben einen starken Abnutzungseffekt und schmälern das Vertrauenskonto der Nachrichtenempfänger. Dieser Mechanismus funktioniert von Mal zu Mal immer schlechter.
Georg Grabherr, hoch dekoriert mit unzähligen wissenschaftlichen Auszeichnungen und nicht zuletzt auch Österreichs „Wissenschaftler des Jahres 2012“, ist deshalb davon überzeugt, dass die Debatte rund um das Waldsterben der Wissenschaft und dem Ansehen der Wissenschaftler langfristig ernstlichen Schaden zugefügt hat. Die meisten Prognosen hätten sich nicht bewahrheitet. Das ist mit einem Blick hinaus in den Wald leicht verifizierbar.
Forschung hätte die Aufgabe, den Dingen auf den Grund zu gehen, für Phänomene und Entwicklungen eine fundierte Erklärung zu suchen und zu finden. Der Erklärung folge die Aufklärung, die einhergehen müsse mit konkreten Handlungsempfehlungen und Lösungsansätzen. Diese „nützliche“ Seite der Wissenschaften sei nicht minder zu achten. In Abwandlung des PR-Grundsatzes „Tue Gutes und rede darüber“ müsste es für die Wissenschaft heißen: „Erforsche die Wahrheit und teile sie mit.“ Die Wissenschaft müsse heraus aus dem Elfenbeinturm und habe die Aufgabe, „begründete Zuversicht zur Lösbarkeit von Problemen zu vermitteln“. Dabei dürften niemals Hypothesen als die absolute und einzige Wahrheit oder als finale Erkenntnis kommuniziert werden. Ein Wissenschaftler müsse sich diesbezüglich „beherrschen“ können. Die Unterscheidung zwischen Hypothese und absoluter Erkenntnis ist für den Laien nur schwer erkennbar und führt oft zu Fehleinschätzungen. Beim Erkennen der Fehleinschätzung aber schwindet das Vertrauen und nutzt sich ab.
Interessant für einen Wissenschaftler ist auch Grabherrs Erkenntnis, dass es manchmal eben keine Erkenntnis, keine Erklärung gebe. An dieser Stelle sei der Punkt gekommen, an dem Bescheidenheit und Demut gefragt sind, weil manches Erkenntnisstreben an der menschlichen Begrenztheit scheitert. Ein Beispiel gefällig? Ein Mammutbaum kann bis zu 4000 Jahre alt werden. Den Lebenszyklus eines solchen Gewächses bis ins Detail zu studieren, ist für einen einzigen Wissenschaftler – im wahrsten Sinne des Wortes – menschenunmöglich. Alle Erkenntnisse dazu können immer nur Momentaufnahmen sein und können nur schwer ein Endergebnis bieten. Ähnlich verhält es sich mit anderen Langzeitthemen, wie eben dem Waldsterben oder etwa dem Klimawandel. Es kann immer nur Hypothesen und Theorien dazu geben, keine absoluten Wahrheiten. Es kann alles ganz anders kommen, als erwartet: deutlich freundlicher, aber auch deutlich heftiger als vorhergesagt. Wesentlich ist, sich bewusst zu machen, dass alles auf der Welt in Systeme eingebunden ist. Wer an einer Stelle im System eine noch so kleine Veränderung vornimmt, kann unter Umständen das gesamte Gefüge verändern. So kann der Ausfall auch nur einer Pflanzen- oder Tierart unter Umständen eine ganze, ungewollte Kettenreaktion in Gang setzen. Grabherr, der begnadete Kommunikator und beseelte Pflanzenliebhaber, hat seine eigenen Bilder, dies zu erklären: Jede Pflanzenart ist wie ein Buchstabe in der Natur. Diese Buchstaben bilden miteinander Wörter und ganze Sätze. Wer nur einen Buchstaben verändert, kann den Sinn eines Wortes, eines ganzen Satzes, einer ganzen Welt verändern. Alles, was wir tun und denken, ist Teil eines großen Ganzen. Eine zu mechanistische Sichtweise ist allerdings fehl am Platz. Verglichen mit einer Präzisionsmaschine sind die ökologischen Systeme und Funktionsstrukturen „lose Werkel, die scheppern, knirschen und krachen“. Daher sind präzise ökologische Prognosen so schwierig.
Der zauberhafte Garten von Georg Grabherr im Wienerwald bietet hier ein verblüffendes Beispiel. Ebendort, in diesem „Garten für das 21. Jahrhundert“ steht ein Bambus. Von dieser Pflanze wurden über Generationen hinweg zahllose Klone, sprich Setzlinge, genommen, die eigentlich nicht mehr miteinander verbunden sind. Alle Klone dieser Pflanze, blühen – wie von Zauberhand geführt – überall auf der ganzen Welt exakt zur gleichen Zeit.
Erst im Laufe des Gesprächs mit dem Wissenschaftler Georg Grabherr ist mir bewusst geworden, wie viele menschliche Züge auch die Pflanzen tragen. Pflanzen stehen genauso in Konkurrenz zueinander wie Menschen und ergehen sich mitunter in brutalen Ausleseverfahren. Wenn sich jedoch die Richtigen am geeigneten Ort treffen, bilden sie friedvolle Gemeinschaften und beschützen und fördern einander. Wo hingegen viele von einer einzigen Art an einem Platz sind, wie es bei Monokulturen der Fall ist, kann sich das Einzelindividuum nur spärlich entfalten. Das geschieht sogar nach einer exakt berechenbaren mathematischen Gesetzmäßigkeit. Wenn jedoch mehrere Arten an einem Ort stehen, ist die gegenseitige Förderung sehr viel wahrscheinlicher und damit das System wesentlich stabiler. Alleine das ist schon ein besonders schlagkräftiges Argument für Artenvielfalt.
„Die Natur hat ihre eigene Ordnung – und die ist nicht der rechte Winkel“, sagt der Biologe Georg Grabherr. In diesen Worten ist unglaublich viel Liebe spürbar und tiefster Respekt für die Pflanzen, die er ein Leben lang erforscht hat. Es ist fast eine Art Zärtlichkeit, die da mitschwingt, eine Eigenschaft, die man bei Wissenschaftlern wahrscheinlich nur selten vorfindet. Woher kommt diese Zuneigung für sein Wissenschaftsgebiet? Es sind wieder einmal die Zusammenhänge, die persönlichen Umstände, einzelne Begegnungen, welche die Summe des Ganzen ergeben. Da war der vogelkundige Vater, der fachkundige Naturgeschichtsprofessor, das Wiener Ehepaar, das sogar die wissenschaftlichen Pflanzennamen kannte. Da war irgendwann dieses Geschenk, ein Buch über Orchideen, die eigenständige Beschäftigung mit dem neuen Wissen, die Reflexion in der Natur. Mit dem Wissen geht die Faszination einher, die ständig vorantreibt zu noch mehr „wissen wollen“. Je größer das Wissen, umso größer auch die Neugierde, hinter das Wissen zu schauen. Erkenntnis durch Kenntnis. Ideale Bedingungen für ein Wissenschaftlerleben. Mit dem fundierten Wissen und dem wachsenden Verständnis für die Zusammenhänge kommt auch die Bereitschaft, sich für die geliebte Sache einzusetzen. Und so war es dann auch. Ein Leben lang.
Ein erstes Mal machte der Naturschützer Grabherr im Alter von 16 Jahren von sich reden. Damals machte er die Eingabe für die Unterschutzstellung der „Schmelwiese“ in seiner Vorarlberger Heimatgemeinde Hörbranz. Der besagte Feuchtbiotopkomplex war ein Raritätenkabinett ersten Ranges und ist es heute noch.
Georg Grabherr ist das jüngste von fünf Kindern. Die meisten Familienmitglieder sind seit Generationen Lehrer. Nur der Vater betreibt eine Schuhmacherwerkstatt im kleinen Ort Hörbranz am Bodensee. Nach dem Krieg ist hochqualitative Handwerkskunst für den Durchschnittsbürger aber nicht leistbar. Die Familie lebt deshalb in bescheidenen Verhältnissen. Auch die Kinder müssen ihren Arbeitsbeitrag leisten. Freiheit, Kindheit, Friede, Abenteuer findet der Familienjüngste in der Natur. „Alles, was im Leben schön ist, hat im Wald stattgefunden“, wird Grabherr später einmal über seine Jugend resümieren. „Die Natur, der Wald lehrt uns Bescheidenheit und Demut.“ Eigenschaften, die auch der hochangesehene Wissenschaftler nicht verloren hat, ja, sie sogar einfordert. Bescheidenheit und Demut führen auch zur Erkenntnis, dass nur ein Leben in Sparsamkeit ein nachhaltiges Leben sein kann. Sparsamkeit...