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E-Book

In der Mitte schlägt das Herz

Von der großen Verantwortung für ein kleines Leben

AutorRené Prêtre
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644001046
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Was empfindet ein Arzt, wenn er ein Neugeborenes operiert, dessen Leben am seidenen Faden hängt? Was sagt er einem schwerkranken Mädchen, das Angst hat, zu sterben? Und wie reagiert ein erfahrener Kinderherzchirurg, wenn in einem improvisierten OP in Kambodscha während des Eingriffs der Strom ausfällt? René Prêtre wuchs auf einem Schweizer Bauernhof auf - und wurde zu einem der angesehensten Herzchirurgen der Welt. Sein Weg war außergewöhnlich, und ebenso außergewöhnlich sind die Schicksale, mit denen Prêtre heute zu tun hat. In seinem Buch zeichnet er seinen Weg nun nach und berichtet vom Kampf gegen einen viel zu frühen Tod, von Hoffnung und Zweifeln und vom Glück, das er empfindet, wenn ein operiertes Kinderherz wieder zu schlagen beginnt. 'René erzählt auf faszinierende Weise von Geheimnissen des Herzens, die mir ganz unbekannt sind. Ich empfinde seine Art, darüber zu sprechen, fast als lyrisch.' Henning Mankell

René Prêtre studierte an der Universität Genf Medizin. Nach dem Studium zog er nach New York, dann arbeitete er in England und Frankreich. Ab 2001 war Prêtre Chefarzt der Kinderherzchirurgie am Kinderspital Zürich und Professor an der Universität Zürich. Seit 2012 ist er Professor und Klinikdirektor der Herz- und Gefäßchirurgie für Erwachsene und Kinder am Universitätsspital Lausanne Seine Stiftung «Le Petit Coeur» ist in Mosambik und Kambodscha tätig und operiert dort einmal im Jahr Kinder und Jugendliche. 2009 wurde er zum Schweizer des Jahres gewählt.

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Leseprobe

New York, 1988–1990


«Trauma team, trauma team, call 4344 stat, 4344 stat!»

Dieser keinen Widerspruch duldende Befehl aus den über alle Etagen und in allen Winkeln des Bellevue Hospitals verstreuten Lautsprechern, zweimal wiederholt, lässt buchstäblich die Meute los. Die Meute, das sind wir, junge Chirurgen in der Ausbildung und im Bereitschaftsdienst auf der «Trauma». Gierig nach Nervenkitzel, aber vor allem unserer Verantwortung und Fähigkeiten gewiss, lassen wir alles stehen und liegen, stürmen die Treppen hinunter und finden uns schnellstmöglich im Trauma-Slot ein, dem Bereich der Notaufnahme, der Schwerstverletzten vorbehalten ist. Der Tonfall der Ansage, die Eingeweihte elektrisierende Nummer, gefolgt von dem einem Peitschenknall ähnlichen «stat», lösten bei uns jedes Mal den gleichen Pawlow’schen Reflex aus: Wir – je nachdem – nahmen die Stethoskope von Patientenoberkörpern, stürmten aus Zimmern oder würgten die Reste eines Hamburgers runter und rannten in «the slot», die Notaufnahme.

«Young man. Stabbed in the abdomen on 28th street. Blood pressure 120 over 60. Pulse 90 on arrival. Remained stable during transfer. One peripheral line. No known allergy.»

Während sie uns ihre Litanei herunterbeten, ziehen die Rettungssanitäter die Fahrtrage heraus und übergeben uns, dem chirurgischen Team, ihren Verletzten wie einen Staffelstab. Mein Team, das aus drei Assistenten besteht, hantiert eifrig rund um den liegenden jungen Mann, dabei einem gut eingespielten Vorgehensmuster folgend, jeder weiß genau, was er zu tun hat, und führt die knappen Befehle aus, die ich ihnen gebe.

Als ich das Gesicht des Verletzten bewusst wahrnehme, fällt mir seine Blässe auf. Tatsächlich hat er das Stadium der einfachen Blässe bereits überschritten: Seine Haut ist fahl, durchzogen von grauen Streifen, glanzlos. Er schlottert, dabei haben wir erst Herbst, eine hier noch recht milde Saison. Vor allem ist er bedrückt, verängstigt. Zähneklappernd:

«I feel it, I am dying!»

Ich mochte es nie, wenn die Patienten mir von diesem Gefühl des bevorstehenden Todes erzählen, einem Symptom, das uns die Fakultät nie beigebracht hatte. Nach einigen Monaten in der «Trauma» weiß ich nur zu gut: Manche hatten recht, erschreckend recht. Der Tod hat sie wirklich geholt, trotz all unserer Bemühungen, ihn daran zu hindern. War es möglich, dass dieser kalte Schatten die Angst mit sich brachte, wenn er sich über sie legte? Dass sich das verlöschende Leben bemerkbar machte? Ein Gefühl, das Wissenschaftler nie wirklich genau beschrieben haben, das manche vielleicht spüren, wenn sie sich jenem letzten, dämmrigen Moment nähern, nach dem das Bewusstsein für immer erlöschen wird.

Auf Adrien Rohners Rat hin arbeite ich in New York. «Monsieur Rohner», wie alle Welt ihn nannte, leitete die Chirurgie der Universitätsklinik Genf. Er war der Archetyp des Chefarztes mit angeborenem Charisma und Noblesse, was ihm eine natürliche Autorität verlieh. Er hatte mich eingestellt und nach einigen Wochen in seiner Abteilung zu sich ins Büro gerufen.

«Prêtre, welche Ziele in der Chirurgie haben Sie?»

«Ich will so gut wie möglich ausgebildet sein, damit ich die medizinische Leitung des Krankenhauses zu Hause, in Porrentruy, übernehmen kann. Die Stelle wird in einigen Jahren frei.»

Ungehalten hatte er sich aus seinem Sessel erhoben, hatte die Stirn gerunzelt, einen Augenblick nachgedacht und nach einigen Sekunden erwidert:

«Nein, nein. Sie, Sie müssen eine Universitätskarriere machen. Haben Sie das amerikanische Staatsexamen?»

«Nein.»

«Das ist ärgerlich, denn ich würde Sie zu gerne rüberschicken. Man mag die Amerikaner kritisieren, doch man muss anerkennen, dass sich noch heute auf unserem Gebiet bei ihnen das meiste bewegt. Amerika ist das Gravitationszentrum unserer Medizin geblieben.»

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit einem Bleistift auf seine Hand klopfte, den Blick eher in die Ferne als auf mich gerichtet, und dann fortfuhr:

«Ich habe einige gute Kontakte dort drüben und würde mich von meiner Seite aus darum kümmern, dass die Fakultät Sie unterstützt. Aber Sie brauchen das Staatsexamen.»

Dies Gespräch und vor allem die Worte «Universitätskarriere» und «Gravitationszentrum» gingen mir tagelang durch den Kopf. Wie Versuchsballons schickte ich schließlich Stellenbewerbungen an einige Universitäten in den USA, darunter auch in New York. Ihre chirurgische Abteilung hatte gerade ein paar Stellen für ausländische Ärzte geschaffen, und meine Anfrage wurde in Betracht gezogen, doch mit der unabänderlichen Bedingung: ihr berühmtes Staatsexamen.

Im Rahmen meiner Facharztausbildung rotierte ich gerade durch die unterschiedlich spezialisierten Stationen und hatte vor kurzem in der Orthopädie begonnen, einer angenehmen Fachabteilung, in der exzellentes Fachwissen wichtiger ist als subtile Strategien. Ihre Patienten sind zumeist jünger und widerstandsfähiger als die anderer Abteilungen, ganz abgesehen davon, dass ein Bruch den Organismus weniger belastet als eine eitrige Peritonitis oder ein Myokardinfarkt. Bei ihnen bleiben also, wenn man das Krankenhaus verlässt, nur wenige Probleme in der Schwebe, die einem den Abend verderben könnten. So setzte ich mich fortan jeden Abend, nachdem ich einige gebrochene Knochen zusammengeschraubt oder verschobene Oberschenkelköpfe und -hälse repositioniert hatte, an die langwierige Arbeit, mein medizinisches Basiswissen zu entstauben.

Und ich bestand ihr verfluchtes Examen.

Ich konnte also in New York auflaufen, mit dem Stethoskop um den Hals.

Mit Scheren entledigen wir unseren Neuankömmling seiner Kleidung: Jacke, Hemd, Hose werden von oben nach unten zerteilt und der Körper enthüllt, als würde man eine Languste aus ihrem Panzer schälen. Eine glatte Wunde sticht ins Auge, markiert von einem feinen Blutfluss, unterm Rippenbogen rechts. Beim Umdrehen, eine zweite, kleiner, im Bereich der Lende. Die Frage schießt heraus:

«Haben Sie nur zwei Messerstiche abbekommen?»

«Nein, nicht zwei, einen. Nur einen! Es war nur ein Messerstich!»

Ich blicke ihn einen Moment an, anfangs ungläubig, dann betroffen. Die Klinge hatte den Bauchraum komplett durchstoßen, von einer Seite zur anderen und war hinten wieder ausgetreten. Eine transkorporale Verletzung! Eine von der Art, die zwingend innere Organe beschädigt und Blutungen verursacht. Das Drama noch steigernd, liegt hier die Leber im Verlauf des Stichkanals, ein wahrer Blutschwamm. Nun gilt es keine Sekunde damit zu verlieren, die Diagnose zu bestätigen oder zu verfeinern. Er muss sofort in den Operationssaal, die Hämorrhagie, die ohne Zweifel heimtückisch weiterblutete, und das seit dem Angriff auf ihn, muss gestoppt werden. Die Sanduhr seines Lebens leert sich wie seine Blutbahnen. Die verbleibende Zeit, um diese Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, ist knapp.

«Bloody hell! Sagt im OP Bescheid, wir kommen!»

Narkose, Intubation, Transfusion. Die Bremsen an seiner Fahrtrage lösen und den Unbekannten, noch ohne Namen und Alter, in den Operationssaal befördern. Unser Konvoi stürmt durch die Flure, drängt zur Seite, was sich ihm in den Weg stellt, überwindet jedes Hindernis, bis er in der Mitte des Operationssaals zum Halten kommt. Nun werden Brust und Bauch mit einem Desinfektionsmittel bepinselt, während sterile Abdecktücher rundum ein großes Rechteck Körperoberfläche isolieren.

Ein Schnitt mit dem Skalpell: Die Haut öffnet sich über nahezu die gesamte Länge des Abdomens. Fast keine Blutung! Rar geworden, hat das Blut bereits die peripheren, strategisch weniger wichtigen Körperschichten verlassen, zugunsten der lebenswichtigen Organe. Die Muskelschicht ist durchtrennt, nun bleibt nur noch das Peritoneum, diese feine Membran, die die Eingeweide umgibt. Sie wölbt sich durch den Druck des Bluts. An der Oberfläche wirkt alles friedlich, doch man ahnt darunter eine große Unruhe. Oft hat mich diese falsche Ruhe an attackierende Haifische erinnert, die aus den Tiefen empor auf die Oberfläche eines arglosen Wassers zuschießen. Szenen aus Der weiße Hai blitzen dann in meinem Kopf auf. Ein Seitenblick zu den Anästhesisten …

«Bereit? Oder wollt ihr vorher noch mehr Blut übertragen?»

«Nein, wir sind bereit, wir haben etwas Spielraum.»

… einer zu meinen zwei Assistenten und zu meiner Instrumenteurin.

«Für euch auch okay? Na dann … der große Sprung, los geht’s!»

Diese Stadt, dann die Arbeit stürzten sich auf mich.

Da war zuerst ihre Hektik. Alles war laut, schnell, stroboskopisch. Ein unablässiger Hintergrundlärm, rhythmisiert durch das Fauchen der Sirenen, die durch eine Art dissonantes Brüllen noch gesteigert wurden, was mich jedes Mal zusammenzucken ließ. Ich erinnere mich an den ersten Tag in diesem Tohuwabohu, an einen Konvoi aus Polizeimotorrädern, gefolgt von einem Rettungswagen, heulende Sirenen, Blaulichter peitschten die Straßen, auf das Bellevue Hospital zurasend … exakt dorthin, wo ich arbeiten würde. Verdutzt hielt ich auf dem Bürgersteig inne, von dieser Prozession ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert. Und langsam keimte dieser erregende Gedanke: «In ein paar Tagen werde ich auf der anderen Seite des Empfangsschalters stehen.» Eine gewisse Furcht, dem nicht gewachsen zu sein, vermischt mit Stolz, im Herzen des Geschehens zu sein, durchströmten mich.

Dann war da diese...

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