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Der Morgen als sie uns holten

Berichte aus Syrien

AutorJanine di Giovanni
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104902241
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die vielfach ausgezeichnete Kriegsreporterin Janine di Giovanni schreibt mit ?Der Morgen als sie uns holten. Berichte aus Syrien? eine ebenso unerschrockene wie persönliche Reportage über einen der folgenreichsten Konflikte unserer Zeit: den Krieg in Syrien. Über fünf Jahre dauert bislang der brutale Krieg in Syrien. Wie konnte er zu so einem aussichtslosen Konflikt werden? Warum sind über 4,6 Millionen Menschen auf der Flucht? Janine di Giovanni berichtet unmittelbar aus dem Inneren des Landes: Sie erzählt aus der Perspektive der Menschen dort, u.a. von Nada, einer jungen Sunnitin, die Assads Gefängnisse knapp überlebt hat, und von Hussein, der aktiv im Widerstand war, aber auch von Anhängern des Regimes, die sich Syrien nicht ohne Assad vorstellen können. Und sie zeigt, wie aus friedlichen Protesten 2011 einer der blutigsten Konflikte unserer Zeit wurde. Ein schonungsloser Einblick und ein über die Zeiten gültiges Zeugnis dessen, was Krieg bedeutet. Mit einer Chronologie der Ereignisse. »Wie Swetlana Alexijewitch gibt Janine di Giovanni denen eine Stimme, die finstere Zeiten durchleben. Ein aufrüttelndes und notwendiges Buch.« M. Kakutani, New York Times »Eine kraftvolle Reportage, mitfühlend und wütend zugleich. Unverzichtbar, um Syrien heute zu verstehen.« Booklist »Jede einzelne, individuelle Geschichte macht deutlich, welchen schrecklichen Preis die Menschen zahlen müssen, wenn man für die sogenannte Stabilität einen Diktator an der Macht lässt. « Guardian »Di Giovanni ist eine Kriegsreporterin, deren Mut allein von ihrer Hingabe für ihr Thema übertroffen wird.« Evening Standard »Di Giovanni ist die Meisterin der Kriegsreportagen - besonders dann, wenn die Sichtweise der Zivilisten gezeigt werden soll. Dank ihrer aufopferungsvollen Recherche, sind wir in der Lage das Chaos zu begreifen, dass die syrische Bevölkerung weiterhin in die Flucht treibt.« Kirkus Reviews

Janine di Giovanni ist seit über zwanzig Jahren Kriegsreporterin. Für »Newsweek« ist sie als Redakteurin zuständig für den Mittleren Osten, zudem schreibt sie für »Vanity Fair« und »New York Times«. Für ihre Reportagen hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. gewann sie den National Magazine Award und den Amnesty Media Award. Sie lebt in Paris.

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Leseprobe

1 Damaskus


Donnerstag, 28. Juni 2012

An einem frühen Morgen im Mai 2012, ein Jahr nach Beginn der syrischen Revolution, reiste ich zum ersten Mal nach Damaskus. Es war ein unerträglich heißer Frühsommertag mit dunstigem, opakem Licht. In Beirut hatte ich ein Taxi genommen, das mich etwas weniger als 100 US-Dollar in bar gekostet hatte. Der Fahrer holte mich an der Straße nach Damaskus ab und machte einen Scherz über das Erweckungserlebnis des heiligen Paulus, während er mein Gepäck in den Kofferraum lud. Dann fuhren wir über die Grenze, ließen Beirut mit seinen angesagten Strandclubs und wie jeden Donnerstag überfüllten Friseursalons und duftenden Restaurants und lärmenden Diskotheken hinter uns und näherten uns diesem anderen Land, das in den Abgrund des Bürgerkriegs zu stürzen drohte.

Im Neuen Testament heißt es, dass sich Paulus irgendwann im 1. Jahrhundert nach Christus auf genau dieser Straße befand, als etwas geschah. Ich bin nicht sicher, und Historiker und religiöse Fanatiker sind es auch nicht, ob er eine Stimme hörte oder ein Zeichen Gottes erhielt oder ob ihm einfach urplötzlich und schmerzhaft klar wurde, dass er falsch lebte. Jedenfalls ereignete sich eine mystische Verwandlung. Paulus verfolgte die frühen Christen nicht länger und wurde stattdessen ein treuer Anhänger Jesu. Sein Leben änderte sich für immer.

Man braucht vom Libanon aus nicht lange, um nach Syrien zu gelangen, und der kurze Weg vermittelt auch einen Eindruck davon, wie brutal die Region nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz des Osmanischen Reichs zerrissen und neu aufgeteilt wurde. Frankreich erhielt das Völkerbundmandat für Syrien und Libanon zugesprochen, nach vielen falschen Versprechungen und nachdem die Araber von Franzosen und Briten vielfach belogen und betrogen worden waren. Den Syrern (besonders den Alawiten, die sich von der französischen Herrschaft am meisten unterdrückt fühlten) blieb der eigensinnige Wunsch nach Selbstbestimmung. Im April 1946 gewann das Land endlich als eine parlamentarische Republik seine Unabhängigkeit. Dann folgten eine Reihe von Putschen, bis 1963 die Arabische Republik Syrien ausgerufen wurde, nach einem Staatsstreich der Baath-Partei, der von mehreren Männern geplant und ausgeführt worden war: unter ihnen Hafiz al-Assad, der Vater des derzeitigen Präsidenten.

Wenn man sich diese Chronik von Verrat und Gewalt vor Augen hält, sieht man, dass der Grund für die Tragödie, die sich Jahrzehnte nach der künstlichen Grenzziehung der Kolonialmächte entwickeln sollte, damals geschaffen wurde. Es schien unausweichlich zu sein, dass sich die Zustände verschlimmerten.

Das Erste, was ich nach der Überschreitung der Grenze zum syrischen Hinterland sah, war ein riesiges Farbfoto von Baschar al-Assad, auf dem das Blau seiner ohnehin eindringlichen Augen verstärkt worden war, damit sein Blick noch intensiver wirkte. Das Zweite, was ich bemerkte, war eine Filiale der amerikanischen Restaurantkette Dunkin’ Donuts, was mir sogar in diesem hochentwickelten Land seltsam vorkam. Dieses eklatante Symbol westlichen Kommerzes – kein kleines Straßenlokal, das Kaffee ausschenkt, sondern ein zuckervergiftetes Massenparadies – auf einer Schnellstraße nach Damaskus wirkte irgendwie paradox.

Es stellte sich heraus, dass Dunkin’ Donuts nicht das war, was ich vermutet hatte. Nicht nur das Logo, sondern auch die gesamte Innendekoration sah der amerikanischen Originalversion zwar täuschend ähnlich, tatsächlich wurden aber nur getoastete Käsebrote verkauft. Ich bestellte mir eins und wurde dabei von drei schnurrbärtigen Männern beobachtet, die offensichtlich zum Muchabarat, der Geheimpolizei, gehörten. Rauchend standen sie an der Bar, während ein anderer Mann das Käsebrot zubereitete. Mein Fahrer stand nervös an der Tür und drängte mich zum Gehen, sobald ich bezahlt hatte.

 

Die Atmosphäre in Damaskus war in ähnlicher Weise paranoid aufgeladen wie im Irak in den alten Zeiten unter Saddam Hussein. Es lag etwas in der Luft, etwas wortlos Bedrängtes, was sich nicht Luft machen konnte, auch wenn im stehenden Verkehr überall gellend gehupt wurde. Menschen flüsterten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit befanden. Sobald ein Kellner an einen Tisch trat, hörte man auf zu reden. Dem Muchabarat gehörten vielleicht dieselben Männer an, die mich zehn Jahre zuvor im Irak verfolgt hatten – ich sah die gleichen billigen Lederjacken, die gleichen ungepflegten Schnurrbärte. Viele der Baathisten, die ich aus dem Umkreis Saddams kannte, waren nach seinem Tod tatsächlich in ein anderes von Baathisten beherrschtes Land geflohen – nach Syrien.

Ich war nach Syrien gekommen, weil ich das Land sehen wollte, bevor es in den labyrinthischen Kaninchenbau eines Krieges stürzte. Während dieser ersten Reise, im Mai 2012, stand Syrien am Rand des Abgrunds. Man konnte es genauer definieren und es einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Lagern (später drei, dann vier, dann noch mehr) nennen, aber ich hatte schon früher gesehen, dass ein Krieg so anfing, und ich sah, dass er mit rasender Geschwindigkeit auf Syrien zurollte. Die Welt sah zu.

Ich hatte ein Visum, hielt ich mich also legal in Syrien auf, aber dennoch fühlte ich mich unwohl: Ich wurde observiert, man folgte mir. Ich checkte im Hotel ein, dem Dama Rose, wo auch die Militärbeobachter der Vereinten Nationen wohnten: schlechtgelaunte Männer, die ihrer Tätigkeit nicht mehr nachgehen durften, weil sie zu oft dabei angegriffen worden waren. Sie tranken einen Kaffee nach dem anderen und witzelten über die Bar im Erdgeschoss, die von attraktiven Russinnen – sie nannten sie »Nataschas« – frequentiert wurde. Da Putin Assads Verbündeter war, waren sie leicht an Visa gekommen und ungehindert ins Land eingereist. Ein paar Wochen später sollten aber auch die Nataschas fliehen.

An einem Donnerstag – dem Beginn des muslimischen Wochenendes – kehrte ich nach einem Tag voller Gesprächen mit Menschen, die nicht wussten, ob ihr Land in ein, zwei Jahren überhaupt noch existieren würde, ins Hotel zurück. Meine Interviewpartner waren Christen mit liberaler Grundhaltung. Sie befürworteten weder die gewaltsame Unterdrückung friedlicher Oppositionsbewegungen durch die Regierung noch einen bewaffneten Widerstand. Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich, Anhänger und Kritiker Assads zu unterscheiden.

Es gab Rebellen, die ihn mit Waffen bekämpften; es gab Aktivisten, die einen digitalen Krieg gegen ihn entfesselten, mit Facebook, YouTube und Twitter als Munition; und dann gab es diejenigen, die an Orten wie Homs anfangs protestiert hatten, dann aber ausgestiegen waren, als ihre Gefährten sich bewaffneten. In einem Café in Paris hatte ich mich an einem bitterkalten Tag einige Monate zuvor mit Fadwa Suleiman getroffen, einer eleganten alawitischen Schauspielerin, die in den ersten Tagen und Wochen der Revolution die Proteste angeführt und dadurch eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte (vorher war sie in syrischen Soaps zum Star aufgestiegen). Weil sie Alawitin war, also zur selben religiösen Gemeinschaft gehört wie Assad, und als Demonstrantin vom Regime Freiheit einforderte, wurde sie binnen kurzem zum Gesicht der Revolution. Aber sie sagte, dass sich die Dinge inzwischen geändert hätten. Es machte sie traurig, dass »die Revolution nicht in die richtige Richtung geht, dass Waffen im Spiel sind, dass die Opposition, die friedlichen Widerstand leisten wollte, das Spiel des Regimes spielt und dass das Land auf einen religiösen Krieg zusteuert«. »Ich wollte Syrien nicht verlassen«, fügte sie hinzu, »aber ich hatte keine andere Wahl. Ich wurde bedroht, und ich wurde zur Gefahr für die Aktivisten, die mir geholfen haben.«

Dann gab es diejenigen, die ich »die Gläubigen« nannte, Assads Anhänger, von denen einige ihm so treu ergeben waren wie Paulus Jesus; andere hingegen befürchteten einfach, dass sie als Minderheit einer Minderheit – Alawiten sind eine Gruppierung innerhalb des schiitischen Islam – untergehen würden, wenn die radikalen Sunniten an die Macht kämen.

Es gab eine Unterfraktion der Gläubigen, die nur ihre eigene Haut retten wollten: Sie wollten von Assad nicht ins Gefängnis geworfen werden. Privat missbilligten sie die Folterzellen des Regimes und die Bombenangriffe auf Aleppo, aber was sie hörten, konnten sie kaum glauben, und vor allem wollten sie nicht, dass die radikalen Islamisten die Regierung übernahmen.

Dann gab es eine weitere Fraktion: diejenigen, die nichts glaubten, sondern nur lebendig bleiben und etwas zu essen haben wollten. Sie wollten die Straße überqueren können, ohne von Granatsplittern getroffen zu werden, und sie wollten, wenn sie im Auto saßen und im Verkehr feststeckten, dass neben ihnen keine Bombe explodierte.

Gelegentlich verschoben sich die Fraktionen. Je länger ich im Land war, desto größer wurde die Vielfalt der Aktivisten, denen ich begegnete. Ich kannte einige, die zu Gläubigen wurden, als der IS – der sogenannte Islamische Staat, auf Arabisch manchmal ISIL, manchmal Daesch genannt – begann, Teile Syriens zu erobern, einfach, weil sie sich dieser Art des Islam nicht unterordnen wollten. Ein Islam, in dem Ärztinnen geköpft wurden, in dem schon Kindern beigebracht wurde, jeden zu hassen, der nicht war wie sie, und nur die radikalste, buchstäbliche Form der Religion akzeptiert wurde.

Es gab auch Rebellen, die die Seiten wechselten: Erst...

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