Der Skeptiker
Um zu verstehen, warum ich ein Skeptiker bin, stellen Sie sich einen jungen Tunesier vor, der einen Holzkarren mit Obst und Gemüse durch die staubigen Straßen seiner Heimatstadt Sidi Bouzid zum Markt schiebt. Dieser Mann hat seinen Vater verloren, als er drei Jahre alt war. Um seinen Karren mit Waren zu füllen, muss er sich Geld leihen und hoffen, dass er genug verkauft, um seine Schulden bezahlen und seine Familie ernähren zu können. Es ist jeden Tag dieselbe Schinderei. Aber an diesem Morgen halten Polizisten den Mann an und nehmen ihm die Waage weg, weil er angeblich gegen eine Verordnung verstoßen hat. Er weiß, dass das nur eine Lüge ist. Sie wollen Geld von ihm. Aber er hat keins. Eine Polizistin gibt ihm eine Ohrfeige und beleidigt seinen toten Vater. Die Beamten nehmen seinen Karren und seine Waage mit. Der Mann geht zur Stadtverwaltung, um sich zu beschweren. Dort teilt man ihm mit, der zuständige Beamte sei in einer Besprechung. Gedemütigt, wütend und hilflos geht der Mann nach Hause.
Als er wiederkommt, bringt er einen Kanister mit. Vor dem Verwaltungsgebäude übergießt er sich mit dem Benzin, entzündet ein Streichholz und verbrennt sich selbst.
Nur das Ende dieser Geschichte ist ungewöhnlich. In Tunesien und in der ganzen islamischen Welt gibt es zahllose arme Straßenhändler. Die Polizei ist korrupt, und Schikanen wie die eben geschilderte gehören zum Alltag. Außer den Polizisten und ihren Opfern interessiert sich niemand dafür.
Doch diese spezielle Demütigung veranlasste den 26-jährigen Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010, sich selbst zu verbrennen, und dieses Fanal löste Proteste aus. Die Polizei reagierte mit der üblichen Brutalität. Die Proteste weiteten sich aus. In der Hoffnung, die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, suchte der tunesische Diktator Zine El Abidine Ben Ali das Krankenhaus auf, um Bouazizi einen Besuch abzustatten.
Bouazizi starb am 4. Januar 2011. Die Unruhen wurden größer. Am 14. Januar floh Ben Ali in ein angenehmes Exil in Saudi-Arabien und beendete seine 23-jährige Kleptokratie.
Fassungslos sah die islamische Welt zu. Dann gingen auch in Ägypten, Libyen, Syrien, Jordanien, Kuwait und Bahrain die Menschen auf die Straße. Nach drei Jahrzehnten an der Macht wurde der ägyptische Diktator Hosni Mubarak aus dem Amt gejagt. Anderswo wuchsen sich die Proteste zu Aufständen aus und die Aufstände zu Bürgerkriegen. Das war der Arabische Frühling, und er wurde angestoßen von einem armen Mann, der von der Polizei schikaniert worden war – wie so viele andere, deren Leid nicht die geringste Veränderung bewirkt hatte.
Es ist eine Sache, wie ich zurückzublicken und eine Geschichte zu erzählen, die Mohamed Bouazizi mit all den Ereignissen verknüpft, die sich aus seinem einsamen Protest ergaben. Wie so viele Experten hat Thomas Friedman ein besonderes Händchen für Rekonstruktionen wie diese, besonders wenn es um den Nahen Osten geht, den er als langjähriger Libanon-Korrespondent der New York Times gut kennt. Aber hätte selbst dieser Thomas Friedman, wenn er an jenem fatalen Morgen dabei gewesen wäre, in die Zukunft blicken und die Selbstverbrennung, die Proteste, den Sturz des tunesischen Diktators und alles Weitere vorhersehen können? Natürlich nicht. Das hätte niemand gekonnt. Vielleicht hätte sich der Nahostkenner Friedman Gedanken über die Armut und Arbeitslosigkeit machen können, über die wachsende Zahl der verzweifelten jungen Menschen, über die grassierende Korruption, über die erbarmungslose Unterdrückung, die Tunesien und andere islamische Staaten zu einem Pulverfass machte. Aber zu exakt diesem Schluss hätte ein anderer Beobachter auch schon ein Jahr zuvor kommen können und im Jahr davor auch schon. Schon seit Jahrzehnten konnte man all das in Tunesien, Ägypten und vielen anderen Ländern der Region beobachten. Jedes dieser Länder war ein Pulverfass, das nie explodierte – bis zu jenem 17. Dezember 2010, an dem die Polizei diesen einen armen Mann einen Schritt zu weit trieb.
Im Jahr 1972 veröffentlichte der amerikanische Meteorologe Edward Lorenz einen Fachartikel über Vorhersagbarkeit, in dem er die faszinierende Frage aufwarf, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings im brasilianischen Regenwald eine Windhose in Texas provozieren kann. Ein Jahr zuvor hatte Lorenz zufällig festgestellt, dass bei der Computersimulation des Wetters winzigste Veränderungen bei der Dateneingabe – etwa die Rundung des Werts 0,506127 auf 0,506 – dramatische Unterschiede bei langfristigen Wettervorhersagen bewirken konnten. Diese Erkenntnis sollte einer der Anstöße zur Chaostheorie sein, die besagt, dass in nichtlinearen Systemen wie der Erdatmosphäre selbst kleinste Veränderungen bei den Ausgangsbedingungen gewaltige Auswirkungen nach sich ziehen können. Theoretisch könnte also tatsächlich ein einsamer Schmetterling in Brasilien mit seinem Flügelschlag in Texas einen Tornado provozieren – während gleichzeitig Schwärme von Schmetterlingen ihr Leben lang wild mit den Flügeln schlagen können, ohne dass sich ein paar Kilometer weiter auch nur ein Lüftchen regt. Lorenz wollte damit natürlich nicht behaupten, dass ein Schmetterling die »Ursache« für eine Windhose ist, so wie der Hammer, mit dem ich auf ein Glas schlage, die Ursache dafür ist, dass dieses Glas zu Bruch geht. Er meinte lediglich, wenn dieser bestimmte Schmetterling nicht just in diesem Moment mit den Flügeln geschlagen hätte, dann hätte das undurchschaubar komplexe Zusammenspiel von Aktion und Reaktion in der Atmosphäre eine etwas andere Wendung genommen, und die Windhose wäre vielleicht nie zustande gekommen. So wie es vielleicht nie zum Arabischen Frühling gekommen wäre, zumindest nicht so und zu diesem Zeitpunkt, wenn die Polizisten an diesem Dezembermorgen des Jahres 2010 Mohamed Bouazizi in Ruhe gelassen hätten.
Nach Edward Lorenz kam die Wissenschaft zu dem Schluss, dass die Vorhersagbarkeit an feste Grenzen stößt. Das ist ein zutiefst philosophisches Thema.[4] Jahrhundertelang waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass wir die Zukunft immer besser vorhersagen können, je mehr Wissen wir haben. Sie glaubten, dass die Welt im Prinzip genauso funktioniere wie ein Uhrwerk; je besser sie das Innenleben dieses Uhrwerks verstanden und erkannten, wie die Rädchen ineinandergreifen, umso besser konnten sie es mit deterministischen Gleichungen erfassen und ihr künftiges Verhalten vorhersagen. Der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace trieb diesen Gedanken auf die Spitze, als er 1814 schrieb:
Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.
Diese imaginäre Intelligenz bezeichnete Laplace als »Dämon«. Wenn wir alles über die Gegenwart wüssten, so Laplace, dann könnten wir die Zukunft umfassend vorhersagen. Wir wären allwissend.[5]
Lorenz verpasste diesem Traum eine kalte Dusche. Wenn das Uhrwerk das Symbol für die Laplace’sche Vorhersagbarkeit ist, dann ist die Lorenz’sche Wolke das Gegenteil. In der Schule lernen wir, dass Wolken entstehen, wenn Wasserdampf an Partikeln in der Luft kondensiert. Das klingt einfach, doch die tatsächliche Entwicklung einer Wolke hängt von komplexen Rückkopplungen im Zusammenspiel der Tröpfchen ab. Um dieses Zusammenspiel zu simulieren, benötigen Meteorologen Gleichungen, die bei der Datensammlung extrem sensibel auf diese winzigen Schmetterlingseffekte reagieren. Selbst wenn wir also alles wissen, was es über die Wolkenbildung zu wissen gibt, werden wir nie in der Lage sein vorherzusehen, welche Form eine bestimmte Wolke annehmen wird. Wir können nur abwarten und zusehen. Es ist eine der großen Ironien der Geschichte, dass Wissenschaftler heute sehr viel mehr wissen als ihre Kollegen vor einem Jahrhundert und dass sie über beispiellose Rechenkapazitäten verfügen, dass sie aber die Möglichkeiten der Vorhersage deutlich skeptischer beurteilen.
Deshalb bezeichne ich mich als »Skeptiker«. Wir leben in einer Welt, in der die Handlung eines machtlosen Menschen Wellen schlägt, die noch auf der anderen Seite des Erdballs zu spüren sind und uns alle ganz unterschiedlich beeinflussen. Eine Frau, die in einem Vorort von Kansas City lebt, könnte glauben, dass sich Tunesien auf einem anderen Planeten befindet und nichts mit ihr zu tun hat. Doch wenn sie mit einem Piloten verheiratet ist, der in der nahegelegenen Whiteman Air Force Base stationiert ist, dann müsste sie vielleicht plötzlich erfahren, dass die Tat eines unbekannten Tunesiers Proteste provozierte, die sich zu Unruhen ausweiteten, die den Sturz des Diktators bewirkten, was Proteste in Libyen auslöste, die sich zu einem Bürgerkrieg auswuchsen, der 2012 die NATO zum Eingreifen zwang, weshalb ihr Mann plötzlich über Tripolis Flugabwehrraketen ausweicht. Dieser Zusammenhang lässt sich noch leicht nachvollziehen. Andere sind schwieriger zu erkennen, aber sie sind überall zu spüren, an der...