VORWORT
In den heutigen Demokratien muss man nicht lange nach Menschen suchen, die sich nach einem »starken Führer« sehnen. Und in Ländern, die sich von der Demokratie abkehren, sind »starke Männer« eifrig damit beschäftigt, ihre Macht zu festigen. In den letzten Jahren wurden die großen Demokratien von gravierenden inneren Konflikten erschüttert und mit großen äußeren Herausforderungen konfrontiert. In solchen Zeiten wirkt die Vorstellung verlockend, man müsse nur den richtigen politischen Führer finden, eine heroische Figur, die alle Probleme resolut in Angriff nehmen wird.
Kaum ein Land kennt die vom Führerprinzip ausgehende Gefahr besser als Deutschland. Die schlimmen Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg und die positive Entwicklung von Wirtschaft, politischer Kultur und Bildung seit dem Krieg haben die deutschen Bürger besonders gut darauf vorbereitet, dem Mythos des starken Führers zu widerstehen. Doch selbst in Deutschland ist die Zahl derer, die es für vorteilhaft halten, von einem »starken Führer« regiert zu werden, der nicht auf die Zustimmung des Parlaments und der Bevölkerungsmehrheit angewiesen ist, in den letzten Jahren deutlich gewachsen.1 Ähnliches ist in vielen anderen Ländern zu beobachten, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten und – was weniger überraschend ist – in Russland und der Türkei. Wie eine deutsche Studie gezeigt hat, befürwortet zwar die große Mehrheit der Bürger die Demokratie, aber lediglich die Hälfte ist mit der Demokratie »in ihrer derzeitigen Form« zufrieden. Mehr als ein Fünftel der Befragten stimmt der Aussage zu, dass Deutschland heute »eine einzige starke Partei« braucht, die »das Volk vertritt«.2 Im politischen Alltag kann es kaum überraschen, dass Angela Merkels Popularität nach einer sehr langen Amtszeit (und aufgrund der wachsenden Sorge über die Einwanderung) schwindet. Doch sie ist die angesehenste und einflussreichste politische Führerin nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Sie ist gefeit gegen Selbstüberhöhung und hat sich den wohlverdienten Ruf erworben, eine abwägende und ruhige Politikerin, eine gute Zuhörerin, eine Teamspielerin und eine pragmatische Führungspersönlichkeit zu sein, die durch politische Argumente überzeugt werden kann. Und wie von einer Physikerin zu erwarten, bevorzugt sie eine auf Fakten und Vernunft beruhende Politik.3
Niemand kann Angela Merkel Narzissmus oder einen Hang zur Selbstdarstellung vorwerfen. Sie zeichnet sich durch Realismus aus und ist eine sehr kompetente politische Führerin, weshalb sie nicht als »starke Führerin« gemäß der in diesem Buch vorgenommenen Definition einzustufen ist. Der Kontrast zwischen der Bundeskanzlerin und dem amerikanischen Präsidenten Donald J. Trump könnte nicht größer sein, und zwar sowohl in Bezug auf den Führungsstil als auch was die politische Substanz anbelangt. Trump verdankte seinen Sieg bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 nicht zuletzt der Tatsache, dass viele Wähler ihn als »stark« wahrnahmen. Die Sehnsucht nach einem starken Führer hatte im Jahr 2016 doppelt so große Bedeutung für die Wähler wie bei der Präsidentenwahl im Jahr 2012: Damals hatten 18 Prozent der befragten Amerikaner erklärt, sie wünschten sich vor allem einen starken Politiker an der Spitze der Regierung; vier Jahre später war dieser Anteil auf 36 Prozent gestiegen.4 Trump versuchte im Wahlkampf, Härte zu demonstrieren, und wurde tatsächlich von großen Teilen der Öffentlichkeit als starker Führer wahrgenommen. Außerdem war er seit langem als Bewunderer von Machtfülle und Politikern bekannt, die Stärke zur Schau tragen. Seine demokratische Rivalin Hillary Clinton erinnert daran, dass Trump die brutale Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 gutgeheißen und erklärt hatte, das kommunistische Regime habe mit seinem Vorgehen »Stärke bewiesen«. Clinton fügt hinzu: »Stärke ist das Einzige, was zählt. Trump interessiert sich nicht für Moralität oder Menschenrechte. Für ihn zählen nur Macht und Herrschaft.«5 Tatsächlich stellte Trump im März 1990 in einem Interview die vom chinesischen Regime unter Beweis gestellte »Macht der Stärke« Michail Gorbatschows Unfähigkeit gegenüber, in der Sowjetunion »mit ausreichend harter Hand« durchzugreifen, womit Gorbatschow das Land »zerstört« habe. (Zumindest räumte Trump ein, das Vorgehen der chinesischen Machthaber sei »grausam« gewesen.)6
Es gibt zahlreiche Gründe für Trumps Wahlsieg im Jahr 2016,7 aber die Tatsache, dass er von vielen Wählern als »starker Führer« wahrgenommen wurde, spielte eine wichtige Rolle. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass Hillary Clinton ins Weiße Haus eingezogen wäre, hätte nicht eine Eigentümlichkeit des amerikanischen Wahlrechts dafür gesorgt, dass sie die Wahl verlor, obwohl sie fast 3 Millionen Stimmen mehr erhielt als Trump. Dies ist ein gravierender Fehler im politischen System der Vereinigten Staaten. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich trotz Trumps Mangel an Erfahrung und seiner offenkundig dürftigen politischen Kenntnisse ein großer Teil der Wähler für diesen Kandidaten entschied. Unter seinen Anhängern waren Angehörige sozialer Gruppen, die sich eigentlich von der demokratischen Kandidatin eher als von einem Immobilienmagnaten eine Politik erwarten durften, die ihren Interessen dienen würde. Nach Trumps Wahl hoben Mitglieder seiner Regierung wiederholt hervor, der Präsident sei ein »starker Führer«, selbst wenn das für sie bedeutete, in der Öffentlichkeit Ziel seiner Wut zu werden. Beispielsweise reagierte Trump erbost auf die Entscheidung von Innenminister Jeff Sessions, sich in der FBI-Untersuchung zur russischen Einflussnahme auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf (durch Cyber-Attacken auf die Demokraten und Kontakte zu Trumps Wahlkampfstab) für befangen zu erklären. Nach seiner Meinung zur öffentlichen Rüge des Präsidenten gefragt, erklärte Sessions gegenüber Fox News: »Es ist schmerzhaft, aber der Präsident der Vereinigten Staaten ist ein starker Führer« (ich habe die Worte kursiv gesetzt, weil der Minister sie betonte).8
Eine Studie zur Wahrnehmung des amerikanischen Präsidenten (sowie der Vereinigten Staaten) in 37 Ländern hat gezeigt, dass Trump auch international als starker Führer eingeschätzt wird. Die Studie des angesehenen Pew Research Center zeigt, dass ein »starker« Führer keineswegs automatisch ein effektiver Führer ist. Die Forscher haben festgestellt, dass im Mittel 55 Prozent der Befragten in verschiedenen Ländern Trump für einen »starken« Führer halten. Gleichzeitig bezeichnet ihn jedoch eine Mehrheit als »arrogant, intolerant und gefährlich«.9 Selbst in den ersten Monaten seiner Amtszeit, das heißt in einer Zeit, in der das Ansehen des Präsidenten normalerweise sehr viel höher ist als nach einigen Jahren im Amt, erhielt Trump im Ausland sehr viel weniger Zustimmung als Barack Obama am Ende seiner zweiten Amtszeit. Nur 22 Prozent der vom Pew Research Center befragten Personen trauten Trump zu, »in der internationalen Politik das Richtige zu tun«. Zum Vergleich: 64 Prozent hatten diesbezüglich Vertrauen zu Obama. In nicht weniger als 35 von 37 Ländern, in denen die Studie durchgeführt wurde, wurde Obama besser bewertet als Trump. Die beiden Ausnahmen waren Russland und Israel.10
Die geringe Meinung der Weltöffentlichkeit von Trump hat sich auch auf das internationale Ansehen der Vereinigten Staaten ausgewirkt. In den letzten Jahren der Regierung Obama hatten im Mittel 64 Prozent der Befragten ein vorteilhaftes Bild von den USA. Im Frühsommer 2017 war dieser Anteil auf 49 Prozent geschrumpft. Besonders deutlich ist die Wertschätzung für die Vereinigten Staaten in Europa und in den Nachbarländern Kanada und Mexiko gesunken.11 In Deutschland bezeichneten im Februar 2017 nur noch 22 Prozent der Befragten die Vereinigten Staaten als vertrauenswürdigen Verbündeten, nachdem dieser Anteil drei Monate früher, kurz vor Trumps Wahlsieg, noch bei 59 Prozent gelegen hatte.12 Hier ist ein politischer Führer, der versucht, sich als stark zu präsentieren, und von der Öffentlichkeit auch so wahrgenommen wird, an der Aufgabe gescheitert, weltweit Freunde zu gewinnen und Einfluss auszuüben. Und in den USA war die Zustimmung zu Trumps Amtsführung in seinem ersten Jahr im Weißen Haus historisch gering (obwohl er in der republikanischen Kernwählerschaft weiterhin beträchtliche Unterstützung genießt). Mitte Oktober 2017 stimmten 27 Prozent der Amerikaner Trumps Amtsführung uneingeschränkt zu, während 47 Prozent sie »vollkommen ablehnten«; insgesamt waren 43 Prozent mit seiner Amtsführung einverstanden, während 56 Prozent sie ablehnten.13 Seit Einführung der modernen Meinungsumfragen ist Donald Trump der erste amerikanische Präsident, der zu keinem Zeitpunkt nach seiner Amtseinführung die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung genossen hat.
Abgesehen davon, dass Trumps Umfragewerte sowohl international als auch in den Vereinigten Staaten historisch schlecht für einen Präsidenten im ersten Amtsjahr sind, hat er nur minimale gesetzgeberischen Erfolge vorzuweisen. Im Weißen Haus herrscht ständiger Aufruhr. Bis Ende Juli 2017 verlor der Präsident den Nationalen Sicherheitsberater seiner Wahl, seinen Wunschkandidaten für die Leitung der Präsidialverwaltung sowie zwei...