Schwimmen in der Wüste
Eine Einleitung
Als das Wasser zurückwich, kamen die Schlangen. Durch die anhaltende Dürre wurden sie aus ihrem natürlichen Habitat im irakischen Schwemmland getrieben. Giftige Wüstenkobras und Hornrasselvipern suchten nun verzweifelt Nahrung in der Nähe der Siedlungen und kreuzten auf unglückliche, schicksalhafte Weise die Wege von Mensch und Vieh. Immer wieder sind solche biblischen Plagen in den vergangenen Jahrzehnten über die mesopotamischen Marschen hereingebrochen, die mehr als eine Landschaft sind: ein uraltes Natur- und Kulturerbe, welches manche sogar für die letzten Überreste des Garten Eden halten.
Die Ma‘dan, die Marsch-Araber, haben im Irak viele Namen: etwa »Marschleute« (Ahl al-Hor) oder »Ochsenvolk« (Ahl al-Jamus), weil ihr liebstes Zuchttier der Wasserbüffel ist. Von sich selbst sagen sie, sie seien die letzten Nachkommen der Sumerer, die einst die Schrift und den Städtebau erfanden und sich schließlich dorthin zurückzogen, wohin ihnen fremde Eroberer, die das Zweistromland unterwarfen, nicht folgen würden. Sie lebten auf Inseln, Einbauten und in schilfgeflochtenen Behausungen.
Der Despot Saddam Hussein wollte das Schwemmland am Unterlauf von Euphrat und Tigris trockenlegen, um die Marschleute zu strafen, die er verachtete und als Aufrührer ansah. Schiitische Guerillas versteckten sich bei den Ma‘dan; während des Golfkriegs lieferten sich iranische und irakische Soldaten erbarmungslose Schlachten im Schilf. Mensch und Tier verendeten durch die Starkstromkabel, die Saddams Republikanische Garden durch das Wasser legten, um die Feinde zu vernichten. Garten Eden oder nicht: In der eintönig-idyllischen Marschlandschaft liegen Paradies und Hölle sehr eng beieinander. Die Marschen haben vermutlich nicht nur alles an zivilisatorischer Größe und blutrünstiger Barbarei gesehen, sie sind auch ein Sehnsuchtsort und stehen sinnbildlich dafür, dass alles mit allem zusammenhängt: Hier liegt nicht nur das Herz des Irak, sondern auch eine Keimzelle seiner religiösen und politischen Ideologien, die zum Teil weit über seine Grenzen hinausstrahlten. Shi‘i, shuyu‘i, shurugi – Schiit, Kommunist, Landei, so charakterisieren sich die Bewohner manchmal selbst. Säkularismus und Euphorie hatten hier genauso ihren Platz wie Stammesdenken, politischer Schiismus und tiefe Religiosität. Über ein Jahrzehnt haben die irakischen Behörden mit internationaler Hilfe versucht, die Marschen als Kulturland wieder zum Leben zu erwecken, und dazu besteht immer noch Hoffnung. Aber der Klimawandel, Umweltverschmutzung, Versalzung und vor allem Staudämme und Dammprojekte in der Türkei, in Syrien und im Nordirak bedrohen ein Ökosystem, das einerseits sehr empfindlich, andererseits aber auch erstaunlich widerstandsfähig ist. Ein wenig wie der Nahe Osten selbst.
Pulverfass, Krisenherd, Flächenbrand – seit Jahrzehnten gehören solche Begriffe zum Standardvokabular deutschsprachiger Medien, wenn es um den Nahen Osten geht. So oft, wie die Region medial schon aus den Fugen geraten, aus den Angeln geflogen, ja sogar explodiert ist, muss man sich eigentlich wundern, dass es sie noch gibt. Dass im Globus dort, wo sich die nördlichen Breitengrade 20 bis 40 mit den 20er bis 40er östlichen Längengraden kreuzen, nicht längst ein rauchendes schwarzes Loch klafft. Tatsächlich mögen Krieg und Krise verlässliche Begleiter des Vorderen Orients unserer Zeit sein. Allemal gilt das aber für die Kriegs- und Krisenpublizistik, die nicht nur in schlechten, sondern auch in besseren Zeiten konstant daran erinnert, dass der Nahe Osten zwar bereits am Boden liege, aber noch viel, viel tiefer fallen könne. Mit schlechten Prognosen zur arabischen Welt ist man nicht nur unter Marketinggesichtspunkten auf der sicheren Seite. Man geht auch sonst wenig Risiken ein. Wer eine negative Entwicklung voraussagt, die dann doch nicht eintritt, kann immerhin noch behaupten, das liege nur daran, dass die Akteure die Warnungen gehört und sich zu Herzen genommen hätten. Und außerdem mache eine Schwalbe ganz gewiss noch keinen Sommer. Wer aber einen positiven Blick in die Zukunft wagt, der sich nicht bewahrheitet, muss mit dem Vorwurf der Naivität rechnen: Haben Sie denn immer noch nicht verstanden, wie die arabische Welt tickt?
An den Untergang zu glauben, gilt im Mediendiskurs zum Nahen Osten daher als »realistisch«. Das Bedürfnis, diesen Diskurs zu hinterfragen und zugleich eine wirklichkeitsbezogene, also realistische Einordnung der Ereignisse vorzunehmen, war der Antrieb, dieses Buch zu schreiben.
Der Arabische Frühling brachte diese Logik für kurze Zeit ein wenig durcheinander. Plötzlich war es nicht nur zum ersten Mal seit Langem schick, Araber zu sein. Auch schlug eine Welle der Sympathie den jungen Aktivistinnen und Aktivisten entgegen, die siegesgewiss waren, im Glauben, die arabische Welt könne sich selbst von jenen Geißeln befreien, die viele, vor allem in Europa und den USA, eher für genetische Defekte halten: Despotismus, Stammesdenken, Korruption, Gewaltherrschaft. Für die besagte Kriegs- und Krisenpublizistik immerhin war es ein Glück, dass die Hoffnungen des Arabischen Frühlings vorerst scheiterten, zumindest in den meisten betroffenen Ländern.
Die Umbrüche von 2011 und ihre Folgen sind nicht das eigentliche Thema dieses Buches, aber sie kommen natürlich immer wieder vor und bilden gewissermaßen die Kulisse für die hier dargestellten Personen, Geschichten und Ereignisse. Deshalb möchte ich ihm – ausnahmsweise – ein Gesinnungsbekenntnis voranstellen, eine Prämisse, die man durchaus kritisieren kann: Der Arabische Frühling ist nicht gescheitert. Und er ist vor allem nicht am Ende.
Es wird vermutlich noch Jahrzehnte dauern, bis wir eine ausgewogene Bilanz der Ergebnisse des Arabischen Frühlings zu ziehen vermögen. In jedem Fall handelt es sich um eine epochale Entwicklung, die sich trotz etlicher Bemühungen autoritärer Kräfte in der arabischen Welt nicht mehr ungeschehen machen lässt. Denn sie hat gezeigt: Kein Diktator, kein Autokrat kann mehr sicher sein zu herrschen, bis er an Altersschwäche stirbt. Und absolute Macht ist eine Illusion.
Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach würdigt die epochale Bedeutung des Arabischen Frühlings mit dem Begriff »Dritte Arabische Revolte«: Für Steinbach ist sie ebenso bedeutend wie der Aufstand der Araber gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg (1916) oder die Abschaffung der Monarchien und die Errichtung von Republiken unter Führung nationalistischer Militärs in den 1950er und 1960er Jahren.1 Nicht auszuschließen, dass schon bald eine vierte Revolte kommt. Die Frage ist hierbei weniger, wogegen sie sich richten würde, sondern vielmehr, wofür sie kämpfen würde. Was für einen Staat wollen die Menschen in den arabischen Ländern in der Zukunft?
Staaten, staatliche Institutionen und politische Eliten haben vielerorts in der arabischen Welt in einer Weise versagt, die sie an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Insbesondere in denjenigen Staaten, in denen der Arabische Frühling Kriege und Bürgerkriege zur Folge hatte, ist der Staat eine Ruine. Im günstigsten Fall ist er abwesend und überlässt anderen das Feld. Im schlimmsten bewirft er die eigene Bevölkerung mit Bomben. Heute muss deshalb nicht nur neu verhandelt werden, in was für einem Staat die Menschen leben und welche Verfassungen sie sich dazu geben wollen. Die Gesellschaft an sich steht zur Diskussion, und in vielen arabischen Ländern, etwa in Libyen, Jemen, Syrien, Irak oder Saudi-Arabien, muss ein neuer Gesellschaftsvertrag her. Ein Pakt, der das Zusammenleben zwischen Minderheiten und Mehrheiten, ethnischen und religiösen Gruppen, Gläubigen und Atheisten, Geschlechtern, armen und privilegierten Schichten, Jung und Alt in einer Weise definiert, die das Zusammenleben nicht nur möglich macht, sondern auch allen Gruppen zum Vorteil gereicht. Der autoritär geführte Staat kann die Gesellschaft zwar verändern und neu formen. Wir sehen allerdings, wohin solche Versuche führen: Sie enden meist in Gewalt, Vertreibung, Unterdrückung. Die Gesellschaft ihrerseits kann allerdings nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst verändern. Wo aber sind die gesellschaftlichen Kräfte, die dazu in der Lage wären? Diese Frage wird uns in den folgenden Kapiteln immer wieder beschäftigen.
Das vorliegende Buch ist keine umfassende Darstellung der politischen Ereignisse in der arabischen Welt. Ebenso wenig kann es alle Perspektiven und Zukunftsszenarien analysieren. Seine Kapitel sind eher Streifzüge, mitunter auch Schlaglichter auf Entwicklungen, die mir relevant erscheinen, um eine Antwort auf die vorangestellte Frage zu finden. Es will klarmachen, dass die schnellen Antworten und einfachen Konstruktionen selten geeignet sind, eine so komplizierte Gemengelage wie die des Nahen Ostens zu erfassen – dass man aber Komplexität auch nicht mit aussichtsloser Undurchschaubarkeit gleichsetzen sollte. Nahezu jede Autorin und jeder Autor wirbt damit, neue Perspektiven auf ein Thema zu eröffnen, weshalb das Versprechen eines Perspektivwechsels oft droht, zur Floskel zu werden. Insgesamt versucht dieses Buch aber tatsächlich, Geschehnisse und Erwartungen primär aus der Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner und der handelnden Akteure in der nahöstlichen Region zu schildern und nicht aus dem von eigenen Hoffnungen und Befürchtungen geprägten Blickwinkel der Gesellschaften in Europa oder den USA.
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Staaten Syrien und Irak, in Teilen die Golfregion, mit kleineren Ausflügen nach Nordafrika. Ein Konflikt, der vielen in Deutschland wohl zuerst in...