Gewaltige Väter und Mütter
„Die Hilfe von meiner Mutter in meiner Kindheit war der Schlüssel zum Erfolg.“ Jane Goodall
Es fing im Hühnerstall an und endete im Urwald. Die 1934 geborene britische Verhaltensforscherin Jane Goodall verbrachte mit ihrer Mutter Ferien auf dem Bauernhof der Großeltern. Beim Einsammeln der Hühnereier ging ihr eines nicht aus dem Kopf: „Wo ist bei einer Henne die Öffnung so groß, um ein Ei herauszulassen?“ Die kleine Jane folgte einer Henne in ihr Hühnerhaus, aber diese floh vor lauter Schreck. Daraufhin kroch sie in den nächsten kleinen Hühnerstall und wartete still in einer Ecke mit Stroh getarnt. Sie beobachtete eine Henne so lange, bis diese aufstand und etwas rundes Weißes langsam aus den Federn zwischen ihren Beinen fiel. Jane war mehrere Stunden im Stall. Familie, Freunde und die alarmierte Polizei suchten sie schon. Sie wird nie vergessen, dass ihre Mutter, als sie wieder auftauchte, nicht mit ihr schimpfte, sondern sich ihre Geschichte von dem Wunder mit dem Ei geduldig anhörte: „Ich sage meinem Publikum immer, dass die Hilfe von meiner Mutter in meiner Kindheit und darüber hinaus eigentlich der Schlüssel zu meinem Erfolg war. Sie hat mich stets darin bestärkt, hart für meine Träume zu arbeiten, positiv zu denken und daran zu glauben, was ich erreichen will. Sie war auch in den ersten Monaten meiner Forschungsarbeit in Gombe in Afrika eine große Stütze für mich, denn sie begleitete mich und war an meiner Seite. Das Gleiche gilt für Schimpansen-Mütter. Es gibt gute und schlechte. Der Nachwuchs der unterstützenden Mütter ist erfolgreicher. Ich erzähle diese Geschichten den Eltern von heute, um sie darin zu bestärken, dass auch sie ihre Kinder unterstützen sollen.“ Die amerikanische Baby-Forscherin Alison Gopnik hat in ihrem Buch „Kleine Philosophen“ festgestellt, dass Kinder Forscher, Beobachter, Nachahmer und Denker sind. Es geht um die „Zuwendung“, sagt der Erziehungswissenschaftler Jörg Ramseger von der Fachuniversität Berlin in einem Thesenpapier für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung.4
„Du musst versuchen, schneller zu sein als die anderen.“ Vater zu Susie Wolff
Diese Zuwendung beider Elternteile durfte auch die Britin Susie Wolff erfahren. „Ich wurde angstfrei erzogen“, erzählt sie mir bei unserem Treffen im Café Français in Wien. In der Königsklasse der Autorennen, der Formel 1, gibt es auch keinen Platz für Angst. Wolff sitzt als einzige weibliche Testfahrerin im Cockpit für Williams. Das nächste Training in Barcelona steht an, für das Rennen am 15. März 2015 in Melbourne in Australien muss alles perfekt sein. Ihre Eltern lernten sich im Motorbike-Shop ihres Vaters kennen. Es ist ihre Mutter, die ihre Tochter angstfrei alles probieren ließ. Das erste Rennen auf einem Mini-Motorbike absolvierte sie mit nur zwei Jahren. Mit vier Jahren fuhr sie jeden Hang mit den Skiern runter. Nie hörte sie „Pass auf!“ oder „Vorsicht, ich habe Angst!“ Einmal hatte sie keine Handschuhe an und ihre Finger waren schon ganz blau. Da meinte ihre Mutter nur: „Warum hast du nichts gesagt?“ Sie erinnert sich, dass sie einfach nicht wusste, dass überhaupt etwas passieren kann. Auch rückblickend gesehen ist für Wolff ihre Mutter eine starke, unabhängige Frau und eine große Unterstützung für ihren Vater. Die Beziehung ihrer Eltern ist von gegenseitigem Respekt geprägt. Die großen Entscheidungen treffe der Vater, er sei der „Chef“. Ohne ihre Eltern wäre sie nicht dort, wo sie heute ist, sagt sie.
Ihr Vater half ihr schon als Kleinkind, Entscheidungen selbst zu treffen, die wegweisende war das erste Gokartrennen. Sie empfand es als furchtbar, weil alle anderen besser und schneller waren und immer wieder gegen ihr Auto fuhren. Sie war kein „Naturtalent“. Die achtjährige Susie kam zu ihrem Vater und sagte: „Ich mag das überhaupt nicht, das ist alles nicht mein Ding!“ Seine Reaktion: „Okay, wir haben zwei Möglichkeiten. Wir stellen das Auto zurück in den Lastwagen und wir fahren nach Hause, das ist alles kein Problem. Oder du gehst zurück und versuchst, schneller zu sein als die anderen, und wenn die anderen dich schlagen wollen, dann schlägst du doppelt zurück.“ Ihr um 18 Monate älterer Bruder David Stoddard war immer ein Vorbild für sie, weil ihre Eltern in der Erziehung nie einen Unterschied zwischen den beiden gemacht haben. Sie lernte: Gewinnen zu wollen, ist keine Frage des Geschlechts und „was David kann, kann ich auch“. Das kleine Mädchen ging zurück zu seinem Gokart und machte weiter. Das war der Moment, „wo ich selbst spürte, jetzt ist die Entscheidung gefallen, ich will Rennen fahren“. Sie fuhr schon kurz darauf Rennen gegen Lewis Hamilton. Der zweifache Formel-1-Weltmeister hat bereits damals alle Rennen gewonnen und für Wolff war er immer schon einer der talentiertesten Fahrer. Wenn sie sich jetzt an der Rennstrecke treffen, dann schwelgen sie ab und an in der Vergangenheit: „Schau, wie weit wir es geschafft haben. Wir waren Kinder, die einfach einen Traum verfolgt haben. […] Jetzt bist du Formel-1-Weltmeister und ich bin Testfahrerin bei einem der bekanntesten und besten F1-Teams.“
Mit 13 fuhr sie zum ersten Mal in der Formel 3, dem Trainingsplatz für die Formel 1. Sie fing an, Meisterschaften zu fahren. Die Berufsentscheidung, Rennfahrerin werden zu wollen, traf sie aber erst mit 14: „In diesem Moment wusste ich, das ist mein Job, das bin ich, ich kann Rennen fahren.“ Der Lohn folgte gleich, sie wurde im selben Alter „British Woman Kart Racing Driver of the Year“. Sie liebt das prickelnde Gefühl von Geschwindigkeit. Wenn sie nicht Autorennfahrerin wäre, wäre sie Skirennläuferin geworden.
Jane Goodall und Susie Wolff fühlten bei ihren Eltern keine Panik. Angstfreiheit hat nach Kenntnis der Entwicklungspsychologie entscheidend mit einer festen Bezugsperson zu tun, die Zeit mit dem Kind verbringt. Gewalt und Frustrationserlebnisse in dieser frühen Phase prägen sich unauslöschlich ins Gehirn ein. Erziehung bedeutet, Kindern Liebe und auf positive Weise die richtige Zeit und den richtigen Ort für ihr Handeln zu zeigen. Kinder brauchen das Gefühl, ein verlässliches Zuhause zu haben, wo man sich wohlfühlt und gerne hinkommt.
„Wenn man Kinder hat, die keine Angst haben, dann muss man auch solche Eltern haben!“ Marc Girardelli
„Angstfreiheit ist eine Grundvoraussetzung für Risikosportarten“, sagt Marc Girardelli. Er zählt noch immer zu den Allergrößten im internationalen Skirennsport: 100-mal auf dem Siegerpodest, 46 Weltcupsiege, elf Weltmeisterschaftstitel sowie zwei olympische Medaillen und vielleicht ein Rekord für die Ewigkeit: fünfmal Sieger des Gesamtweltcups. „Wenn man Kinder hat, die keine Angst haben, dann muss man auch solche Eltern haben“ und man dürfe „keine Angst vor dem Risiko haben“, meint Girardelli. Das gelte für beide Seiten. Viele Eltern kontaktieren ihn wegen ihrer Kinder, die sie für talentierte Rennsportler halten. Er scheut sich nicht, die Eltern darauf hinzuweisen: „Wenn ein Kind für diesen Sport ein Talent hat, dann müssen Sie jeden Tag Angst haben, dass das Kind nicht lebendig nach Hause kommt. Wenn Ihr Kind durch die tiefsten Flüsse schwimmt, die gefährlichsten Sachen macht, die kein anderes Kind sonst macht, dann hat es die richtige Mentalität, Rennsportler zu werden.“ Ein Kind ist für Girardelli ein Rohdiamant, das für den Feinschliff viel Training braucht, aber wenn ein „Kind schon Angst hat, von einem Stuhl runterzuspringen, vergiss es, vielleicht ist es dann für Minigolf oder einen anderen Sport talentiert“. Um seine beiden Kinder braucht er sich diesbezüglich keine Gedanken zu machen, sie streben gar keine Sportlerkarriere an. Und das war auch nicht Girardellis erstes Ziel. Er war vier, als ihn sein Vater das erste Mal auf die Skier stellte. Er war ständig in den Schnee gefallen und hatte nur geheult. Sein Vater, erzählt er, wollte offenbar seinem besten Freund beweisen, dass sein Sohn auch so gut fahren könne wie dessen Nachwuchs. Die Ski wurden bis zum nächsten Winter in den Keller gesperrt und da hatte er plötzlich den Spaß daran entdeckt. Er hatte mit fünf Jahren keinen Buckel im Wald und keine Naturschanze ausgelassen. Wenn sein Vater vergessen hatte, ihm zu sagen, dass er mit „schönen Schwüngen“ ins Tal fahren soll, war er automatisch Schuss gefahren.
Sein erstes Rennen, mit sieben Jahren die Landesmeisterschaft in Vorarlberg, war ein Fiasko. Eine Minute nach dem Start hatte er gleich zwölf Sekunden verloren, „da hätte ich gleich zu Fuß runterlaufen können, dann wäre ich wahrscheinlich schneller gewesen“. Sein Vater wollte ihn deshalb am nächsten Tag nicht starten lassen, aber Marc Girardelli wollte unbedingt und er erinnert sich an einen richtigen Wutausbruch am Start. Er fuhr und verlor dann nur mehr zwei Sekunden auf die Besten, die...