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Der Pranayama-Effekt in der Trauma-Arbeit

Wie Pranayama die Affekttoleranz steigert und damit die Traumatherapie unterstützt

AutorDietmar Mitzinger
VerlagJunfermann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783955717056
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Traumaklienten sind meist nicht auf die Belastungen vorbereitet, die in einer Traumatherapie auf sie zukommen. Ihr Nervensystem ist geschwächt und sie pendeln zwischen Angst und Panik auf der einen und Erstarrung auf der anderen Seite. Was fehlt, ist Affekttoleranz: ein weniger erregbares Nervensystem und gleichzeitig eine ausgeprägte Wachheit bzw. Wahrnehmungsfähigkeit. Pranayama - ein System von Atemübungen im Yoga - stellt diese Affekttoleranz her. Es setzt Auslöseschwellen im Nervensystem herauf und der Traumaklient wird dadurch robuster bzw. sein Nervensystem wird resilienter gegenüber Reizen. Ein weiterer Prozess, im Yoga Pratyahara genannt, nutzt die nun hergestellte Affekttoleranz und führt in eine entsprechende Traumaexposition. Pratyahara zielt auf eine intensive Körperwahrnehmung ab. Am Ende kann der Klient körperlich auch Sicherheit spüren, nicht nur Gefahr. Dieser Prozess kann zusätzlich durch Körperhaltungen des Yogas (Asanas) unterstützt werden.

Dietmar Mitzinger, Yogalehrer, Psychologischer Psychotherapeut. 2000-2008 Ausbildungsleiter für Yogalehrer beim BDY. Leiter der Arbeitsgruppe 'körperorientierte Verfahren in der Traumatherapie' bei der DeGPT, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Yogatherapie e.V. (DeGYT), Leiter einer psychologischen Praxis in Neuss.

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Leseprobe

2. Wie wirken Affekte und Reflexe auf Traumatisierung?


2.1 Was passiert bei einem Trauma?


Es gibt bereits sehr viele gute Bücher über Traumatisierung, Beschreibungen darüber, woran sie zu erkennen ist und wie sie diagnostisch festgestellt werden kann, wie zum Beispiel bei Michaela Huber (2012). In diesem Buch sollen die traumarelevanten Anteile dargestellt werden, die im direkten Zusammenhang mit dem Pranayama-Effekt stehen. Vor allem soll dargestellt werden, wie es zur Überlastung des Gehirns durch Aktivierung des Traumas kommen kann und wie dieser Vorgang sich durch den Pranayama-Effekt abmildern oder sogar verhindern lässt.

In Abbildung 2.1 sind die drei Phasen dargestellt, durch die der Betroffene während seiner Traumatisierung geht. Zunächst versucht er, mithilfe von Sprache und Kommunikation eine Gefahr oder Bedrohung abzuwenden. Wenn das nicht gelingt, versucht er, durch Kampf oder Flucht die Bedrohung zu kontrollieren. Erst wenn auch das nicht gelingt, gleitet er über die Hilflosigkeit – bedingt durch die wahrgenommene Unmöglichkeit, die Gefahr abzuwenden – in die Erstarrung.

Abbildung 2.1: Wie entsteht ein Trauma?

Ein bedeutsamer Aspekt in der Beschreibung von Trauma ist die Überflutung des Gehirns. Der Begriff Überflutung hat einen dramatischen Unterton, der, bezogen auf das Erleben eines Traumas, jedoch gerechtfertigt ist. Etwas sachlicher ausgedrückt kann man auch von einer Überlastung bestimmter Hirnareale sprechen. Welche genau an der Überbelastung beteiligt sind, geht aus Abbildung 2.2 hervor. Ausgehend von der Amygdala, bei der durch Traumatisierung die Reizauslöseschwelle gesenkt wurde, steigen die Signale weiter auf zu den Regionen Thalamus, Hypothalamus und dem zentralen Höhlengrau. Kommt es gleichzeitig im Blut zu einer Hypoxie (Sauerstoffsenkung), hervorgerufen durch reduzierten oder angehaltenen Atem, dann findet eine Signal-Überschwemmung (Huber 2012, S. 48) des Kortexes statt.

Was dann passiert, entscheidet sich je nachdem, ob der Hypothalamus oder das zentrale Höhlengrau stärker aktiviert werden. Über den Hypothalamus kommt es zu einer Aktivierung des Sympathikus und damit zur Aktivierung des Kampf-Flucht-Reflexes. Über die Aktivierung des zentralen Höhlengraus (Porges 2010) kommt es zur Aktivierung des Erstarrungsreflexes und damit zu Dissoziationssymptomen.

Abbildung 2.2: Überlastung von Hirnarealen und die Folgen

2.2 Das Dilemma der Traumatherapie: der neuronale Pendeleffekt


In der Psychotraumatherapie gibt es eine besondere Schwierigkeit. Das ist der Pendeleffekt zwischen dem Kampf-Flucht-Reflex auf der einen und dem Erstarrungsreflex auf der anderen Seite. Nimmt durch eine Konfrontation in der Therapie beim Klienten die Erregung stark zu, was häufig der Fall ist, wird mit Interventionen gearbeitet, welche die Erregung wieder senken sollen. Dabei führt häufig die Erregungssenkung den Klienten nicht in eine mittlere Aktivierung zurück, sondern das Nervensystem pendelt in den Erstarrungsreflex. Auch umgekehrt pendelt oft ein Klient, der zu sehr in die Erstarrung geht, durch Interventionen, die ihn aktivieren sollen, zu schnell in die Übererregung hinein und zeigt Kampf-Flucht-Reflexe. Das ganze Nervensystem weist nicht genug Resilienz auf, um mit diesen Schwankungen robust umgehen zu können.

In Abbildung 2.3 wird das eingeschränkte Resilienzfenster sichtbar gemacht. Es reicht von den Werten 4 (Auslöseschwelle nach Trauma DVC) bis 7 (Auslöseschwelle nach Trauma Sym.) auf der vertikalen Achse. Das robuste Resilienzfenster reicht vom Wert 3 (robuste Auslöseschwelle DVC) bis zum Wert 8 (robuste Auslöseschwelle Sym.). Der Graph, der von 5 auf 9 steigt (Zustand ZNS) und von dort auf 2 sinkt, zeigt den Pendeleffekt. Im oberen Bereich befindet sich die Auslösung des Kampf-Flucht-Reflexes, im unteren Bereich die Auslösung des Erstarrungsreflexes (dorsal-vagale-Aktivierung). Im mittleren Bereich (zwischen 5 und 6 auf der vertikalen Achse) befindet sich der Bereich der ventral-vagalen Aktivierung, innerhalb dessen die normale Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit besteht (zur Vertiefung der Begriffe dorsal-vagaler-Complex [DVC] und ventral-vagaler-Complex [VVC] siehe nächsten Abschnitt).

Abbildung 2.3: Der Pendeleffekt

Das zweite Problem in der Psychotraumatherapie besteht in der geringen Robustheit der Ankertechniken, welche im Gegensatz zum Pranayama-Effekt von kognitiven Ressourcen abhängig sind. Letztere sind abhängig vom Zustand des Gehirns. Im Fall einer Überflutung mit Reizen kann es seine kognitiven Ressourcen oft nicht mehr nutzen. Daher sollten robustere Verfahren gefunden werden, die vom Zustand des Gehirns weniger abhängig sind. Mehr zum Vergleich zwischen Pranayama-Effekt und Ankertechniken finden Sie in Abschnitt 2.8.

2.3 Die Polyvagaltheorie nach Steven Porges


2.3.1 Die zwei Vagusnerven


Steven Porges stellt in seiner Polyvagaltheorie dar, dass sich der Vagusnerv, ausgehend vom Hirnstamm, in zwei unterschiedliche Zweige aufteilt. Der eine ist der entwicklungsgeschichtlich ältere Zweig, welcher dorsaler Vagusnerv genannt wird. Der entwicklungsgeschichtlich neuere Zweig wird ventraler Vagusnerv genannt. Beide haben unterschiedliche Funktionen. Der dorsale Vagusnerv hat eher die Funktion der Organbremse und sorgt u. a. für eine Herzfrequenzreduktion. Der ventrale Vagusnerv hat eher die Funktion der Aktivierung von Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit in höheren Hirnstrukturen. In Abbildung 2.4 ist die alte Aufteilung des Nervensystems in Sympathikus und Parasympathikus bzw. Vagus dargestellt und im weiteren Verlauf die durch Steven Porges vorgenommene Differenzierung.

Abbildung 2.4: Die Aufteilung des Nervensystems mit der weiteren Differenzierung von Porges

2.3.2 Das Vagus-Paradox


In seiner Forschung kam Steven Porges nicht sofort zu dem Ergebnis, dass es zwei Vagusnerven gibt. Zunächst einmal fand er heraus, dass die Aktivierung des Vagusnervs gesundheitsförderlich ist. Weil eine Aktivierung der Organbremse (Vagusnerv oder Parasympathikus) die Herzfrequenz und damit den Blutdruck senkt, kann das Bluthochdruckrisiko bei Erwachsenen auf diese Weise erheblich reduziert werden. Folglich galt der Vagusnerv als der gesundhaltende Nerv. Doch dann wurde erkannt, dass die Vagusaktivierung bei Neugeborenen zur Bradykardie und damit oft zum Tod führt.

Porges stand nun vor einer paradoxen Situation: Bei Erwachsenen führt eine Vagusaktivierung zur Gesundheit, bei Neugeborenen führt sie zum Tod.

Abbildung 2.5: Das Vagus-Paradox

Erst später fand er heraus, dass die Herzfrequenzvariabilität einen entscheidenden Einfluss auf die Auswirkungen der Vagusaktivierung hat. Bei vorhandener Herzfrequenzvariabilität hat das Herz Einfluss auf den Hirnstamm; ein Bottom-up-Effekt, der schon länger bekannt war: Organe können Einfluss auf übergeordnete Nervenstrukturen nehmen. Bei Vorhandensein der Herzfrequenzvariabilität fand Porges keine Aktivierung des dorsal-vagalen Komplexes (DVC)1.

Nach längerer Suche in den anatomischen Strukturen des Hirnstammes fand er einen neuen aufsteigenden Zweig, der im Nucleus Ambiguus (NA) entspringt, den ventralen Vagus-Komplex (VVC), der ventral zu höheren Hirnstrukturen emporsteigt. Seine Funktion ist die Steigerung der Wahrnehmung und des Denkens. Der (schon länger bekannte) dorsale Vagus-Komplex entspringt im dorsal-motorischen-Nukleus (DMNX).

Das Vagus-Paradox war somit gelöst und Porges entwickelte die Polyvagaltheorie. In Abbildung 2.6 wird das noch einmal verdeutlicht.

Abbildung 2.6: Die Lösung des Vagus-Paradoxes (Porges 2010, S. 55)

Auch das Resilienzfenster (siehe Abschnitt 2.2) lässt sich mit Blick auf die jeweils beteiligten Hirnstrukturen darstellen (Abbildung 2.7).

Abbildung 2.7: Das Resilienzfenster

2.4 Der Erstarrungsreflex


Die Auswirkungen des Erstarrungsreflexes sind erheblich. In der Muskulatur kommt es zu einer deutlichen Anspannung (Agonisten und Antagonisten), die den gesamten Bewegungsapparat erfassen kann. Um diesen Zustand der Anspannung halten zu können, benötigt der Körper sehr viel Energie. Die Herztätigkeit ist herabgesetzt und somit auch der Blutdruck. Oft ist die Herztätigkeit so gering, dass kein Wohlempfinden möglich ist. Auch sind der Präfrontalkortex und andere an der Wahrnehmung beteiligte Hirnareale so wenig aktiviert, dass Wahrnehmung und Denken eingeschränkt sind. Informationen können nicht mehr hinreichend integriert werden und es entsteht ein Zustand der Dissoziation.

Weiterhin wird die Atmung reduziert und die Muskulatur in den Verdauungsorganen vermindert ihren Tonus. Die Speiseröhre ist weniger tonisiert und der Magen ist nicht mehr fest genug gehalten. Er beginnt zu pendeln, was durch Übelkeit spürbar wird. Der Darm und besonders der Verschluss des Darmausganges haben nicht mehr genug Spannung, sodass es zu Defäkation kommen kann.

Abbildung 2.8: Auswirkungen des Erstarrungsreflexes

Eine Folge des Erstarrungsreflexes ist also die, dass es durch eine verringerte Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit zur Dissoziation kommt. Auch Saß et al. (2003, S. 575) weisen darauf hin, dass das Gehirn Gedächtnis, Identität und Wahrnehmung der aktuellen Situation nicht mehr integrieren kann. Durch mangelnde Integrationsfähigkeit entsteht Dissoziation.

Abbildung 2.9: Dissoziative Störung, Definition nach Saß et al. 2003

2.5 Der Kampf-Flucht-Reflex


Um aus dem Stand besser flüchten oder...

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