Vorwort
Ende des Jahres 2011 enttarnte sich der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) selbst. Wenige Tage nach dem mutmaßlichen Doppelselbstmord von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach tauchten an den verschiedensten Orten in Deutschland Videos auf, in denen sich der NSU zu einer rassistisch motivierten Mordserie an Menschen nichtdeutscher Herkunft, zum Mord an einer Polizistin und Sprengstoffanschlägen bekannte. Über ein Jahrzehnt lang hatte die Terrorzelle, bestehend aus den beiden Männern und Beate Zschäpe, gewütet, ohne einen Hinweis auf ihr Motiv zu geben.
Sie töteten in Hamburg, in München, in Kassel, in Dortmund, in Nürnberg und einmal auch in Rostock. Sie töteten mit perfider Raffinesse Menschen, die sie nicht näher kannten und die nichts miteinander zu tun hatten. Dies stellte die Ermittler lange Zeit vor Rätsel. Profiler verglichen die Taten unter anderem mit den Verbrechen der RAF, stellten aber keine typischen Gemeinsamkeiten fest. Rechter Terror? Obwohl die Neonaziszene bis ins nächste Umfeld des NSU von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt war, hielt niemand das Vorhaben dreier berufs- und arbeitsloser Verlierer aus Thüringen für möglich. Ausgerechnet sie sollten beabsichtigt haben, »die Welt zu retten«, was selbst einer ihrer Unterstützer, Holger G., ihnen kopfschüttelnd vorwarf? Durch das willkürliche Erschießen von Blumen- und Gemüsehändlern etwa?
Die Ermittler, die damals noch nicht länderübergreifend arbeiteten, erkannten nicht den rassistischen Hintergrund der Taten und dass sie von ein und denselben Tätern verübt wurden, denn es gab kein Bekennerschreiben. Stattdessen wurde im Osten halbherzig nach Bankräubern gefahndet, die in regelmäßigen Abständen vor allem Post- und Sparkassenfilialen überfielen. Auf die Idee, dass diese Überfälle mit den Tötungsdelikten im Westen Deutschlands zusammenhingen und dazu dienten, drei Ausländerhassern aus Jena den Lebensunterhalt zu sichern und das Morden zu ermöglichen, kam lange Zeit niemand.
Dann stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Plötzlich wurde klar, woran vorher niemand gedacht hatte. Ein Jahr später, am 5. November 2012, erhob der Generalbundesanwalt Anklage. Der Prozess sollte vor dem Oberlandesgericht München stattfinden.
Die Erwartungen waren übergroß. Es sollte ein historischer Prozess werden, einer von außergewöhnlicher Dimension, ein Mahnmal. Denn erstmals seit dem Ende des NS-Regimes standen wieder Nazis vor Gericht unter dem Vorwurf, allein aus rassistischen Gründen gemordet zu haben oder in solche Mordtaten verwickelt gewesen zu sein. Die Abgründe und das Ausmaß der modernen Hitlerei sollten nun endlich ans Licht der Öffentlichkeit kommen.
Auch ein politischer Prozess wurde beschworen, weil der Generalbundesanwalt staatliche Interessen verfolge, nämlich den Schutz seiner Dienste, denen bei der Aufklärung der Verbrechen verheerende Fehler unterlaufen waren. Angebliche Versuche des obersten Anklägers, diese Pannen und Irrtümer zu kaschieren, sollten im NSU-Prozess aufgedeckt werden. Vor allem für die Opferangehörigen galt es, viele Ungereimtheiten zu klären und Fragen beantwortet zu bekommen, die die Ermittler in ihrer Ignoranz und Voreingenommenheit absichtlich oder weisungsgemäß übergangen hätten.
Fünf Personen, vorweg Beate Zschäpe, wurden angeklagt. Für die gerichtlichen Feststellungen allerdings, ob und wie sich die Angeklagten schuldig gemacht hatten, spielten die Fragen der Angehörigen keine entscheidende Rolle. Trotzdem wurden sie wieder und wieder gestellt: Wieso musste ausgerechnet mein Vater, mein Bruder, mein Sohn sterben? Wer außer den verstorbenen Komplizen Zschäpes, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, hat noch gemordet? Es gab doch sicher viele Mittäter und Mitwisser! Wie viele? Gibt es sie noch immer? Warum wurden jahrelang die Opfer und ihre Angehörigen verdächtigt und nicht jene zwei Radfahrer, die von mehreren Zeugen an Tatorten beobachtet worden waren? Weil diese so deutsch aussahen? Oder weil Terroristen nicht mit dem Fahrrad zum Tatort fahren? Warum kam man nicht eher auf Rechtsterrorismus?
Die Antworten schienen so einfach zu sein. Man glaubte zu wissen – und wusste in Wahrheit nichts. Am Ende blieb erwartungsgemäß vieles offen, sehr zum Unmut der Opfer, die auf eine Ausleuchtung der rechten Szene bis in den letzten Winkel gehofft hatten. Immer wieder zitierten sie den Satz von Angela Merkel vom 23. Februar 2012, als die Kanzlerin versicherte: »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.« Es war eine politische Aussage zur Beruhigung der verunsicherten Menschen. Die Opfer entnahmen ihr, dass es noch weit mehr Helfer und Hintermänner geben müsse als nur Ralf Wohlleben, André E., Carsten Sch. und Holger G., die neben Zschäpe auf der Anklagebank saßen.
Vielen Hinterbliebenen und Verletzten schien nicht klar gewesen zu sein, dass in einem Strafprozess weder das Vergangene eins zu eins rekonstruiert, noch so etwas wie die reine, eherne Wahrheit herausgefunden werden kann. Es ist immer nur der Versuch möglich, Eindrücke, Gefühle wiederzugeben und Zusammenhänge neu herzustellen, um das Maß an Wirklichkeit sichtbar zu machen, über das sich die Beteiligten als gemeinsame Wahrheit verständigen können. Nur in diesem Rahmen kann Schuld benannt und Strafe verhängt werden. Wer andere Ziele verfolgt und andere Versprechungen durchsetzen will, wird enttäuscht werden.
Das Ziel eines Strafprozesses, nämlich der versöhnende Rechtsfrieden, trat daher mit dem Urteil des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München nicht ein. Neue Erwartungen wurden geschürt. Es dürfe nun keinesfalls ein Schlussstrich gezogen werden, hieß es, die Suche nach den wahren Tätern und Hintermännern beginne erst. Die Chance auf umfassende Aufklärung sei vom Gericht vertan worden. Die Richter hätten die Opfer abgespeist mit dürren juristischen Bewertungen der einzelnen Anklagepunkte und seien mit keinem Wort auf die Belange der Nebenklage, die Auswirkungen der Verbrechensserie auf die Gesellschaft und die Bedeutung des Strafverfahrens eingegangen.
Dessen ungeachtet zeigt sich jetzt in einigem Abstand, dass der NSU-Prozess in Wahrheit ein bedeutendes Stück deutscher Justizgeschichte darstellt. Einzelne Beobachter setzen ihn sogar mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den sechziger Jahren gleich. Doch da ging es um millionenfachen Mord an Juden und anderen von den Nationalsozialisten verfolgten Bevölkerungsgruppen. Es ging um eine in der Menschheitsgeschichte einmalige, weil industriell perfektionierte Menschenvernichtung, die zu ahnden eigentlich einer speziellen Rechtsanwendung bedurft hätte (wie sie Jahrzehnte später erst im Münchner Demjanjuk-Verfahren vollzogen wurde). Die NSU-Täter hingegen erschossen zehn Personen, brachten viele in Lebensgefahr und begingen 15 Raubüberfälle. Um die Angeklagten abzuurteilen, bedurfte es keiner neuen Interpretation des Gesetzes. Das Verfahren gegen Beate Zschäpe und ihre Helfer und Unterstützer folgte den üblichen Regeln der Strafprozessordnung, und der Senat hielt sich peinlich genau daran. Er befragte an den 374 Tagen Beweisaufnahme mehr als 600 Zeugen und Sachverständige, beschied 264 Beweisanträge, überstand 43 Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und seine Mitrichter, hörte sich an 51 Tagen die Schlussvorträge der Prozessbeteiligten an – zwischen den Plädoyers der Bundesanwaltschaft und dem Urteil verging ein ganzes Jahr – und legte bei alledem keine anderen Maßstäbe an als in anderen Mordprozessen auch.
Selbst wenn einzelne Hinterbliebene und Geschädigte enttäuscht auf den NSU-Prozess zurückblicken, da sie vom Gericht etwas anderes erwartet hatten als dessen Pflichterfüllung: Es war nicht Aufgabe des Senats, sich mit der Flut von Verschwörungstheorien, den Fiktionen von Thrillerautoren oder den Überzeugungen von Bloggern auseinanderzusetzen. Er hatte sich an Recht und Gesetz zu halten und sich mit der Anklage – und nicht mit Spekulationen und Fantasiegespinsten – gewissenhaft auseinanderzusetzen. Verjährungsfristen waren zu berücksichtigen, das Schweigerecht von Angeklagten und gegebenenfalls auch von Zeugen war zu beachten. Verschiedentlich wurde dem Vorsitzenden Manfred Götzl vorgeworfen, er habe Zeugen aus dem rechten Milieu nicht harsch genug angegangen und zur Wahrheit gezwungen. Haben diese Kritiker bedacht, dass der Vorsitzende dann umgehend von der Verteidigung wegen Befangenheit abgelehnt worden wäre? Und zwar erfolgreich.
Die beiden Haupttäter sind tot, die mit ihrer Komplizin 13 Jahre lang in der Illegalität gelebt hatten. Sie standen als unmittelbare Auskunftspersonen nicht mehr zur Verfügung. Beate Zschäpe und die Mitangeklagten schwiegen zu vielen Themen. Durch die Brandlegung in Zschäpes letzter Wohnung in Zwickau wurden überdies viele Beweismittel vernichtet. Der Senat drehte und wendete jedes verkohlte Fetzchen Papier aus dem Brandschutt, um in mühsamster Kleinarbeit Beweise für die mörderischen Absichten des NSU zusammenzutragen. Weitere Beweismittel gingen möglicherweise verloren durch das fatale Schreddern von Akten, durch Dummheit und/oder das Bestreben von Ermittlern, eigenes Fehlverhalten zu vertuschen. Aussagefreudige Informanten aus jener Zeit gab es nicht in großer...