Die Welt mit Gedankenexperimenten aus den Angeln heben
Da die Materie zum Grundbaustein unserer Wirklichkeit geworden ist, ist die Frage, woraus sie nun eigentlich besteht und welche Eigenschaften sie hat, für unser Weltbild entscheidend. Verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen arbeiten seit langem daran, diese Frage immer detaillierter zu beantworten. Um noch besser beobachten zu können, was sich innerhalb von einzelnen Atomen abspielt, müssen immer feinere Messgeräte entwickelt werden.
Bevor aber diese immer feineren Geräte entwickelt sind, arbeiten die Physiker mit so genannten Gedankenexperimenten. Sie suchen in ihrem Geist nach physikalischen Theorien und den entsprechenden mathematischen Formeln, die alle bislang beobachteten Phänomene erklären können und die voraussagen, welche Phänomene man in Zukunft beobachten wird. Sie verändern bislang anerkannte physikalische Gesetze im Geiste und überprüfen, ob dadurch gedankliche Widersprüche entstehen. Mit den mathematischen Formeln berechnen sie im Voraus, welche zukünftigen Experimente nach ihrer Theorie zu welchen Ergebnissen führen müssten. Erst danach versuchen sie ihre Theorie experimentell zu überprüfen. Oft dauert es Jahrzehnte, bis die Fortschritte im Bereich der Messtechnologie es erlauben, die Theorien zweifelsfrei zu bestätigen oder zu widerlegen.
Welche Messgeräte gebaut werden, hängt allein von den Ergebnissen der Gedankenexperimente ab. Die Messungen beantworten nur die Fragen, die wir uns zuvor im Geiste gestellt haben. Die entscheidenden Fortschritte im Bereich der Physik werden demnach im Denken gemacht. Nur wer in der Lage ist, kollektive Gedankenformen über Bord zu werfen, kann wirklich Neuland betreten. Revolutionen im Bereich der Wissenschaft entstehen immer durch einen Fortschritt in der Flexibilität des Denkens.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es gleich zwei solcher Revolutionen: die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie.[8] Sie veränderten unser Verständnis der kleinsten Materieteilchen und der größten Zusammenhänge des Universums so grundlegend, dass das physikalische Fundament unseres Weltbildes Risse bekam. Die bis dahin für allgemeingültig gehaltene Newton’sche Physik – die unser Alltagsverständnis von Materie prägt – ist in beiden Theorien nur noch als physikalischer «Grenzfall» enthalten. Sie gilt lediglich unter ganz speziellen Bedingungen. Innerhalb der kleinsten und größten Dimensionen unserer Welt und des Universums gilt sie nicht.
Vielleicht haben Sie keinerlei Ahnung von Newton’scher Physik und vielleicht haben Sie noch nicht einmal Interesse daran, mehr darüber zu erfahren, und eigentlich müssen Sie das auch nicht. Es gibt da nur ein kleines Problem. Was ich Newton’sche Physik nenne, hat nichts mit irgendwelchen Schulbüchern zu tun und auch nur sehr entfernt etwas mit Ihrem Kopf. Es sitzt in Ihren Knochen. Es ist so sehr Teil unserer kollektiven Gedankenformen, dass es sich längst im Gedächtnis unserer Zellen abgelagert hat. Selbst wenn wir nichts davon wissen, wissen wir alles darüber. Und was noch schlimmer ist, wir glauben daran, auch dann, wenn wir noch nie etwas davon gehört haben. Und wir halten diesen Glauben für die Wirklichkeit.
Wenn wir also daran festhalten, unser Haus, unser Auto oder unseren Körper für eine Ansammlung von Atomen zu halten, die irgendwie zu einer stabilen Form verbunden wurden, verhalten wir uns wie Kinder, die sich nicht vorstellen können, dass es eine Welt gibt, die außerhalb ihres Dorfes liegt. Wir weigern uns, die Grenzen dieses Dorfes zu überschreiten und Neuland zu betreten. Das Dorf ist der Raum, den wir kennen und in dem wir uns sicher fühlen. Es ist, wie die Newton’sche Physik, ein ziemlich begrenztes Territorium. Es gab eine Zeit, in der es alles enthielt, was wir zum Leben brauchten: durchschaubare Naturgesetze, unerschöpfliche Bodenschätze, fruchtbare Erde und kontrollierbaren Handel. Doch diese Zeit ist vorüber. Die Vorräte des Dorfes sind aufgebraucht.
Aber glücklicherweise gibt es auch außerhalb des Dorfes eine Welt. Es ist eine Welt mit anderen Gesetzen und anderen Schätzen, eine Welt mit winzig kleinen und riesengroßen Dimensionen, eine Welt, die uns bereichern und erschüttern kann. Doch keine Angst: Ihr Dorf wird dabei nicht verloren gehen. Materie bleibt weiterhin das, was Sie anfassen können. Sie wird lediglich unendlich nach innen und unendlich nach außen erweitert. Sie wird beweglich und veränderbar.
Die Quantenphysik wird uns helfen, die Grenzen des Dorfes nach innen zu verschieben, ins Innerste unseres Körpers, ins Innerste der Natur. Sie wird uns zeigen, dass dort unendliche Möglichkeiten verborgen liegen. Sie beschreibt das Verhalten der Materie auf atomarer und subatomarer Ebene in einer Weise, die unseren bisherigen Vorstellungen völlig widerspricht. Die Relativitätstheorie wird uns auf unserer Reise nach außen ins Universum begleiten. Sie wird unser Verständnis von Raum und Zeit verändern.
Albert Einstein konnte seine Relativitätstheorie nur deshalb entwickeln, weil er in der Lage war, die bislang selbstverständlichen physikalischen Größen von Raum und Zeit infrage zu stellen. Die klassische Physik glaubte, Raum und Zeit seien absolute Größen, die überall und für alle gleichermaßen gelten. Sobald wir uns auf eine bestimmte Maßeinheit geeinigt hätten, könnten wir den Abstand zwischen zwei Punkten aus jeder Perspektive genau bestimmen und erhielten immer dasselbe Ergebnis. Genauso – so glaubte man – müsse die Zeit – auf der Grundlage eines einheitlichen Messsystems – an jedem Ort und aus jeder Perspektive des Universums im gleichen Rhythmus ablaufen. Wenn wir uns mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegen, müssten wir demnach ganz einfach berechnen können, wie lange wir brauchten, um irgendwo im Universum von A nach B zu gelangen.
Albert Einstein hat jedoch herausgefunden, dass dem nicht so ist. Selbst wenn wir uns auf eine Maßeinheit geeinigt haben, sind Raum und Zeit keine absoluten Größen. Die Abstände in Raum und Zeit verändern sich, wenn wir uns mit großer Geschwindigkeit fortbewegen. Auf einer Uhr, die sich in einem Raumschiff mit hoher Geschwindigkeit fortbewegt, vergeht die Zeit langsamer als die auf der Erde gemessene. Auch die Masse riesiger Planeten beeinflusst die Zeit.
Wenn wir also auf der Erde mit jemandem, der sich in einem solchen Raumschiff im All befindet, verabredeten, zu einer bestimmten Uhrzeit aneinander zu denken, würde das niemals gleichzeitig sein. Denn so etwas wie Gleichzeitigkeit existiert nur, wenn wir uns in der gleichen Perspektive befinden. Was aus einer Perspektive der jetzige Augenblick ist, ist aus einer anderen Perspektive bereits Vergangenheit und liegt aus einer dritten Perspektive in der Zukunft. Nur wenn wir uns am gleichen Ort mit der gleichen Geschwindigkeit fortbewegen, leben wir in derselben Zeit.
Das erscheint uns außerordentlich seltsam. Raum und Zeit sind die Koordinaten, anhand derer wir uns in unserem Alltag orientieren. Wir glauben, dass eine Minute eine Minute ist und ein Meter ein Meter, ganz gleich, ob sie sich nun in Bewegung befinden oder nicht. Raum und Zeit definieren die Ausmaße unseres universalen Baukastens. Die Vorstellung, sie könnten sich verschieben oder gar nicht wirklich existieren, raubt uns unser gesamtes Orientierungssystem. Es gibt uns Sicherheit zu glauben, dass dieses Bezugssystem an jedem anderen Ort des Universums genauso gültig ist.
Dass sich bis heute – abgesehen von einigen Physikern – nur wenige Menschen mit der Relativitätstheorie auseinandersetzen, liegt nicht allein an ihrer komplexen mathematischen Form. Es liegt vor allem daran, dass sie unser Denksystem genauso aus den Angeln hebt, wie Immanuel Kant das bereits am Ende des 18. Jahrhunderts mit der «Kritik der reinen Vernunft» getan hat. Während Kant mit philosophischen Methoden gezeigt hat, dass Raum und Zeit lediglich Formen sind, mit denen wir unsere Wahrnehmungen strukturieren, hat Albert Einstein mit naturwissenschaftlichen Methoden dargelegt, dass Raum und Zeit nur als relative Parameter dienlich sind. Er hat mathematische Formeln entwickelt, die zeigen, wie sich Raum und Zeit unter verschiedenen Umständen zueinander verhalten. Mit diesen Formeln sind inzwischen so viele Naturereignisse exakt vorausberechnet worden, dass sie zu den am besten bewiesenen Theorien der Physikgeschichte zählen. Zahlreiche technische Entwicklungen, wie beispielsweise die GPS-Ortungssysteme, könnten ohne die Relativitätstheorie nicht so präzise arbeiten. Würden die Satelliten beim Aussenden ihrer Signale die Einstein’schen Theorien nicht berücksichtigen, lieferten sie uns falsche Ortsbestimmungen.
Wenn wir gedanklich zulassen, dass Raum und Zeit zu beweglichen Größen werden, wird uns zunächst einmal schwindelig. Und vielleicht können wir dann auch verstehen, wie viel Mut und geistige Freiheit es erfordert, grundlegende Maßeinheiten eines Weltbildes ins Wanken zu bringen. Es ist gut zu wissen, dass auch die großen Philosophen und Physiker Augenblicke hatten, in denen sie das zulassen konnten, und andere Augenblicke, in denen sie gewohnte Ideen nicht aufgeben und ihr Weltbild um jeden Preis erhalten wollten. Albert Einstein hatte die geistige Größe, Raum und Zeit als naturwissenschaftliche Parameter wirklich infrage zu stellen. Was sein Weltbild erschütterte, waren die Theorien der Quantenphysik. Andere Physiker hängen an anderen Ideen und entwickeln die erstaunlichsten Theorien, um sie nicht aufgeben zu müssen. Doch darauf werden wir an anderer Stelle zurückkommen. Im Augenblick ist es lediglich wichtig zu wissen, wie viel geistige Beweglichkeit es erfordert,...