Sie sind hier
E-Book

Der Roman

Von der Antike bis zur Postmoderne

AutorVolker Neuhaus
Verlagmarixverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783843806176
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Seit der späten Antike ist die Gattung des Romans kein nationales, sondern stets globales Phänomen gewesen - sie entstand in der 'Oikumene', der griechisch geprägten Welt ums Mittelmeer. Auch eine Geschichte des deutschen Romans ist nur im übernationalen Geben und Nehmen zu verstehen. Dabei wird übergreifenden Phänomenen wie dem romanisch-deutschen Picaroroman oder der postmodern global wiederbelebten Familiensaga ebenso Aufmerksamkeit geschenkt wie herausragenden Einzelwerken von Cervantes' Don Quijote über Joyces Ulysses und Günter Grass' Die Blechtrommel bis zu Umberto Ecos Der Name der Rose; sei es als gigantischpostmodernem Spaß und Spiel mit allen etablierten Genrekonventionen der Moderne oder Houellebecqs postmoderner Besetzung des soziopolitischen Gesellschaftsromans. Dieses Buch bietet eine einzigartige, aus mehr als sechs Jahrzehnten intensiver wie extensiver Lektüre der Originalwerke gewonnene Übersicht zur Geschichte des Romans seit Anbeginn des Genres.

Dr. Volker Neuhaus hat in Zürich und Bonn Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft und Evangelische Theologie studiert, Dissertation wie Habilitation galten dem europäisch-amerikanischen Roman; von 1977 bis 2008 Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft in Köln mit Gastprofessuren in den USA und in Australien. Zuletzt erschien von ihm bei marixwissen: Die Bibel.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

URSPRUNG, ANFÄNGE, ANTIKE TRADITION


Wie fast die gesamte europäische Weltliteratur hat auch der Roman seine Wurzeln in der Antike. Liegen die Entstehung des Epos im Dunkel des 8. Jahrhunderts vor Christus, das Wirken des Hymnendichters Pindar im frühen und die Blütezeit des Dramas im mittleren 5. vorchristlichen Jahrhundert, wirkten Vergil, Horaz und Ovid in der augusteischen Zeit, so gehört der Roman überwiegend dem späten Hellenismus und der Spätantike an: Er blühte vom 2. Jahrhundert vor Christus bis zum 3. Jahrhundert nach Christus. Das Epos ist die Form des mythischen und heroischen Zeitalters, das Drama entstand, blühte und verfiel mit der griechischen Polis, während der Roman die Gattung einer hellenistisch geprägten kosmopolitischen Welt ist.

Eine Theorie des Romans hat die Antike nicht entwickelt, sein Aufstieg vollzog sich abseits des akademischen Betriebs der Grammatiker und Rhetoriker und erst nach der Blütezeit der alexandrinischen Philologie, was sich als Vorteil erweisen sollte: Kein anderer Zweig der antiken Literatur wirkt so »modern« auf uns, kann so unvermittelt rezipiert werden wie dieses spätgeborene und ohne gelehrte pädagogische Kontrolle aufgewachsene Kind, das so gar nichts von Winckelmanns »edler Einfalt, stiller Größe« hat, die man bis heute klischeehaft mit den »Alten« zu verbinden pflegt.

Die Theorieferne des Romans – die sich bei seiner Wiedergeburt in der frühen Neuzeit ähnlich fruchtbar wiederholen wird (s. S. 36) – geht so weit, dass es selbst während seiner frühen Blütezeit keinen Begriff für die neue Literaturform geben wird. Erst Macrobius definiert den Roman Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. als argumenta fictis amatorum casibus referta, als ›Berichte von erfundenen Schicksalen Liebender‹. Bereits hier taucht der Begriff auf, der im englischsprachigen Raum den Roman bis heute bezeichnet: fiction. Die Altertumswissenschaft hat deshalb den modernen Romanbegriff übernommen und bezeichnet damit längere fiktionale Prosaerzählungen mit erotischen Motiven und einer Serie meist auf Reisen erlebter Abenteuer. Niklas Holzberg hat in seiner umfassenden und den aktuellen Forschungsstand wiedergebenden »Einführung« aus eher beiläufigen und späten Stichwörtern wie »drama«, »dramatikon« oder »komodia« im Zusammenhang mit solchen antiken »Romanen« und der Ähnlichkeit der Liebeshandlungen in den Prosatexten wie in einigen späten Tragödien des Euripides oder Komödien von Menander, Plautus und Terenz schon für die Spätantike die Bezeichnung syntagma dramatikon (›dramatische Erzählung‹) als Gattungsbezeichnung für die, wie die Komödie als »realistisch« geltenden erzählenden Prosatexte wahrscheinlich gemacht.

Der ernsthafte Liebesroman ist die herrschende Form, daneben gibt es auch Reiseromane, biographische Romane, mythologische Romane mit fließenden Übergängen zum Historischen Roman, etwa den Alexanderroman, und bereits Parodien auf den »hohen« Liebesroman. Sogar christliche Romane in der Nachfolge der »Apostelgeschichte« des Lukas sind bekannt.

Die Entstehung des Romans wird erklärt als »Frucht einer Liaison, die das gealterte Epos mit der kapriziös reizvollen hellenistischen Geschichtsschreibung einging« (Otto Weinreich) – und mit der Komödie, muss man mit Holzberg hinzufügen. Pate standen die ethnographisch zentrierte Reiseliteratur und die leichtlebigere Reisefabulistik, wobei in der antiken Literatur generell weniger zwischen fact und fiction unterschieden wird. Lebte das Epos »vom Mythos als einer geglaubten Wirklichkeit, die Historiographie von einer erkundeten Wirklichkeit«, so bot der Roman die »glaubhaft sein sollende Erfindung als eine potentielle Wirklichkeit« (Otto Weinreich), wie es auch die Komödie tat. Schon für den antiken Roman gilt der Grundsatz, der leider bis heute noch nicht immer beherzigt wird und den die Postmoderne dann wieder in den Vordergrund treten ließ: »Die scharfe Trennung von ›ernster‹ und ›unterhaltender‹ Literatur erweist sich wieder einmal als undurchführbar.« (Michael von Albrecht)

Von seinen Anfängen an kann der Roman in seine von einer Liebesgeschichte, einer Reise, einer Biographie oder einer mythischen oder historischen Handlungsfolge gestifteten und bestimmten Kontur Exkurse, weitere Erzählungen, Abschweifungen, Dialoge, Abhandlungen zu Themen aller Art usw. aufnehmen – schon der antike Roman ist bunt und vielstimmig. Und: Alle Gestalten der komplett oder in längeren Fragmenten überlieferten Romane sind dem geistigen Klima der damaligen universellen Umbruchszeit gemäß Suchende. Wenn Georg Lukács in seiner Theorie des Romans 1920 den neuzeitlichen Roman im Gefolge von Goethes Definition als »subjektiver Epopöe« (subjektives Epos), als »Form der transzendentalen Heimatlosigkeit« – gemeint ist wohl »transzendenten« – bestimmt hat, so gilt dies schon für den spätantiken Roman. Der Held des Apuleius erlebt als letzte seiner Metamorphosen die zum Adepten des Isis-Kults, und Heliodor wurde von der späteren Tradition gar zum christlichen Bischof gemacht. David Foster Wallace hat es an der Schwelle zur Postmoderne so simpel wie drastisch auf den Punkt gebracht: Fiction’s about what it is to be a fucking human being – ›Im Roman geht es immer nur darum, was es heißt, Scheiße nochmal ein menschliches Wesen zu sein.‹

Literatursoziologisch setzt der spätantike Roman das weit entwickelte Buchhandels- und Verlagswesen des Hellenismus voraus, so wie der Neuansatz rund 1200 Jahre später nicht ohne den Buchdruck denkbar ist. Erst eine sich nach Christi Geburt rasch entwickelnde Massenproduktion machte den privaten Bücherbesitz, d. h. Bibliotheken mit in Tonröhren aufbewahrten Papyrusrollen, möglich. In Schreibsälen vervielfältigte eine ganze Schar von Sklaven nach Diktat eines Vorlesers alle gängigen Texte, und besonders marktgängig waren eben die Romane.

Fünf antike Werke haben sich dabei als besonders wirkungsmächtig erwiesen. Ohne sie ist die Neuentwicklung des Romans seit der frühen Neuzeit nicht denkbar; im Grunde hat jedes von ihnen eine eigene Gattungstradition begründet, die bis heute wirksam ist. Nacherzählungen der bekannteren Texte findet der Interessent in Rudolf Helms Werk Der antike Roman, vor allem aber in Niklas Holzbergs Der antike Roman. Eine Einführung.

PETRONIUS: SATYRIKON


Der älteste der Texte ist zugleich der vielschichtigste, doppelbödigste und am stärksten polyphone. Zugeschrieben werden die (Libri) satyrikon, ›Bücher mit Schelmengeschichten‹, dem bei Tacitus bezeugten Titus Petronius aus Neros engerer Umgebung, der in Henryk Sienkiewicz’ Roman Quo vadis (1895/96) sowie im gleichnamigen Film von 1951 eine wichtige Rolle spielt. Erhalten sind uns nur Bruchstücke, die einerseits die verschwenderische Fülle skurrilster und heterogenster Einfälle des Verfassers ahnen lassen, andererseits gerade ob ihrer Heterogenität keinen Eindruck von der Struktur des Ganzen vermitteln. Die die Fragmente durchziehenden Liebeswirren zwischen Enkolpius, dem Träger und Erzähler der Handlung, und seinem Lustknaben Giton werden als Parodie auf den griechischen Liebesroman gelesen, wie er uns in Heliodors Aithiopika vollendet vorliegt. Die Kenntnis dieser Tradition konnte Petronius offensichtlich bei seinen Lesern voraussetzen.

Die Form des Romans ist einzigartig: Angelehnt an die Stilmischung aus Lyrik und Prosa der offenen Menippeischen Satire erlaubt sie jederzeit Verseinlagen unterschiedlichster Couleur, von der Lyrik bis zur Epenparodie, und entspricht so formal der offenen Vielfalt des Inhalts. Eigene Berühmtheit erreichte das erst 1650 aufgefundene in sich recht geschlossene Fragment mit der »Cena Trimalchionis«, dem ebenso prunkvollen wie stillosen Gelage des reich gewordenen Freigelassenen Trimalchio, dessen Name so viel wie »der dreifach Üppige« bedeutet. Zum einen ist es eine Parodie auf Platons Symposion und andere uns verlorene Vertreter der Gattung, eine Art »Anti-Symposion«, zum anderen nimmt es alle möglichen gesellschafts- und bildungskritischen Themen der römischen Satire auf.

Immer dann, wenn es um kaleidoskopartiges, überbordendes Erzählen aus Lust am Erzählen ging, beriefen sich Spätere gern auf den seit 1482 neu edierten Petronius – Fellinis Film Satyricon (1969) mag das illustrieren. Der von Petronius formal überhaupt nicht beeinflusste Roman Der große Gatsby (1925) von Francis Scott Fitzgerald um den from rags to riches gekommenen Neureichen Jay Gatsby, der mit rauschenden Partys in seinem märchenhaften Anwesen in West Egg auf Long Island der verlorenen Geliebten im gegenüberliegenden East Egg imponieren will, hatte den Arbeitstitel »Trimalchio in West Egg«.

APULEIUS: DIE METAMORPHOSEN ODER DER GOLDENE...


Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Literatur - Sprache - Literaturwissenschaft

Der Gral. Mythos und Literatur

E-Book Der Gral. Mythos und Literatur
Mertens, Volker - Entwicklung einer Legende - 1., Aufl. - Reclam Literaturstudium  Format: PDF

Der Gral ist der faszinierendste, fruchtbarste der aus dem Mittelalter überkommenen Mythen. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der keltischen Vorzeit, was folgte, war eine jahrhundertlange…

Der Gral. Mythos und Literatur

E-Book Der Gral. Mythos und Literatur
Mertens, Volker - Entwicklung einer Legende - 1., Aufl. - Reclam Literaturstudium  Format: PDF

Der Gral ist der faszinierendste, fruchtbarste der aus dem Mittelalter überkommenen Mythen. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der keltischen Vorzeit, was folgte, war eine jahrhundertlange…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Instrumente in Kunst und Wissenschaft

E-Book Instrumente in Kunst und Wissenschaft
Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert Format: PDF

This volume presents a collection of original papers at the intersection of philosophy, the history of science, cultural and theatrical studies. Based on a series of case studies on the 17th…

Weitere Zeitschriften

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

Für diese Fachzeitschrift arbeiten namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fotschungs-, Lehr- und Praxisbereichen zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören Prävention, Früherkennung, ...

Die Versicherungspraxis

Die Versicherungspraxis

Behandlung versicherungsrelevanter Themen. Erfahren Sie mehr über den DVS. Der DVS Deutscher Versicherungs-Schutzverband e.V, Bonn, ist der Interessenvertreter der versicherungsnehmenden Wirtschaft. ...

ea evangelische aspekte

ea evangelische aspekte

evangelische Beiträge zum Leben in Kirche und Gesellschaft Die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland ist Herausgeberin der Zeitschrift evangelische aspekte Sie erscheint viermal im Jahr. In ...