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Der Schock - die Silvesternacht in Köln

Mit Beiträgen von Rita Breuer, Kamel Daoud, Alexandra Eul, Marieme Hélie-Lucas, Necla Kelek, Florian Klenk, Alice Schwarzer, Bassam Tibi

VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783462316414
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Das Buch zu der Nacht, die Deutschland und die ganze Welt bewegt. Köln ist zur Chiffre geworden für einen Kulturschock. Die ganze Welt fragt sich: Was geschah wirklich in der Silvesternacht?Alice Schwarzer hat die zehn Stunden, in denen der Bahnhofsplatz ein rechtsfreier Raum war, minutiös recherchiert. Sie analysiert, wie es dazu kommen konnte und spannt den Bogen vom Bahnhofsplatz in Köln über den Tahrir-Platz in Kairo bis hin zum Iran Khomeinis. Sie kritisiert die falsche Toleranz mit dem politisierten Islam. Alexandra Eul recherchierte die Folgen für die Frauen. Von einem 'Tahrir-Platz in Köln' sprechen auch zwei AlgerierInnen: der Schriftsteller Kamel Daoud und die Soziologin Marieme Hélie-Lucas. Die Deutschtürkin Necla Kelek fordert eine Reform des islamischen Familienrechts. Die Islamwissenschaftlerin Rita Breuer analysiert die fatale Rolle des 'Zentralrats der Muslime' bei der Verbreitung des Scharia-Islams. Und der Deutsch-Syrer Bassam Tibi erklärt die wahren Gründe für den Syrien-Konflikt und: Warum Bomben sinnlos sind.

Alice Schwarzer, geboren 1942 in Wuppertal, lebt in Köln und Paris. Sie begann nach einem Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten ihre publizistische Arbeit 1969 als Reporterin bei Pardon. 1969-74 politische Korrespondentin in Paris. 1975: »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen«, 1977: Gründung der Zeitschrift Emma. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. »Eine tödliche Liebe - Petra Kelly und Gert Bastian« (1994), »Marion Dönhoff - ein widerständiges Leben« (1996), »Romy Schneider - Mythos und Leben« (1998), »Lebenslauf« (2011), »Der Schock - die Silvesternacht von Köln« (2016), »Meine algerische Familie« (2018), »Lebenswerk« (2020) und mit Chantal Louis »Transsexualität« (2022).

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Leseprobe

Silvester 2015, Tahrir-Platz in Köln


Alice Schwarzer

Foto: © Bettina Flitner

13. Februar 2016, 11 Uhr. Ich bin auf dem Weg zum Einkaufen und überquere den Heumarkt in der Kölner Altstadt. Der gilt seit Silvester als einer von vier »Hotspots« der Stadt. Noch nie war hier so viel Polizei unterwegs wie in den vergangenen Wochen, zu Fuß wie im Auto. Doch der heutige Anblick übertrifft alles: Auf dem großen ovalen Heumarkt, der für Goethe der »schönste Platz Europas« war (ist lange her), steht ein gutes Dutzend Mannschaftswagen aneinandergereiht. Vor einigen vertreten sich Polizisten die Füße. Was denn nun schon wieder los sei, will ich wissen. »Fußball«, antwortet mir ein Beamter trocken. »Der 1. FC spielt heute gegen Eintracht Frankfurt.« Das kenne ich schon, randalierende Fußballfans. Der nette Polizist fügt beruhigend hinzu: »Dann gehen Sie jetzt mal einkaufen, Frau Schwarzer, und bleiben Sie heute Abend schön zu Hause.« Das hatte ich eh vor.

31. Dezember 2015, 18.30 Uhr. Im Kölner Dom findet die »Jahresabschlussmesse« statt. Einer von mehreren Tausend Menschen im Dom ist die Ex-Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner. Sie erzählt wenige Tage später der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, was sie während dieser Messe erlebt hat: Schon ab 18.30 Uhr gab es »ein heftiges Feuerwerk«. Genauer: »Einen bisher an Silvester noch nie erlebten massiven Raketen- und Böllerbeschuss. Immer wieder war das Nordfenster des Doms rot erleuchtet, weil Rakete auf Rakete dagegen flog. Und durch die Böller war es sehr laut. Ich hatte zeitweise Angst, dass Panik ausbricht.«

Befragt, ob sie das für Zufall gehalten habe, verneint Schock-Werner entschieden. Da man in der Regel nicht so früh Silvesterböller abschieße, läge es für sie nahe, dass es sich um eine »bewusste Störung« des Gottesdienstes gehandelt habe. Mehr noch: Sie vermute, dass der Kölner Dom als Symbol gemeint gewesen sei. Denn »der Dom ist ja beides: ein religiöser Ort, aber er steht auch als Wahrzeichen für die ganze Stadt. Das war also sowohl ein Angriff auf das städtische wie auf das religiöse Symbol.« Und Schock-Werner fügt hinzu: »Zudem machte das deutlich, dass die Polizei die Lage schon um 19 Uhr nicht mehr im Griff hatte.«

Erstaunlich, dass der Punkt bei den zahlreichen Schilderungen dieses Abends kaum berücksichtigt wurde. Der Tatort ist in der Tat nicht nur der Vorplatz eines besonders zentral gelegenen Bahnhofs (von umliegenden Städten und auch Nachbarländern schnell zu erreichen), er ist auch der Aufgang zum Dom. Auf der breiten Treppe hatten sich bereits am frühen Abend einige Hundert »Männer nordafrikanischer und arabischer Herkunft« eingefunden. Und sie haben sich von Anfang an so benommen, dass die Polizei eigentlich direkt hätte einschreiten müssen – indem sie Feuerwerkskörper nicht nur gegen die Portale des Doms, sondern auch in Menschengruppen geschleudert haben. Hätte die Polizei gehandelt, wäre vielen vieles erspart geblieben. Auch Familie Vosen.

22.57 Uhr. Claudia Vosen steigt zusammen mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Kindern, eine 15-jährige Tochter und ein 13-jähriger Sohn, aus der Linie 18. Die Familie wohnt in dem Kölner Stadtteil Sülz und will ans Rheinufer, denn: »Der Kölner guckt Silvester ja das Feuerwerk am Rhein.« Die vier nehmen die Rolltreppe, die innerhalb der Bahnhofshalle endet, ganz in der Nähe des Ausgangs zum Bahnhofsvorplatz. »Da fiel uns auf, dass sehr viele Männer in der Bahnhofshalle waren. Darüber habe ich mich kurz gewundert. Denn in der Halle oder auf dem Platz hält sich ja zu Silvester eigentlich niemand auf. Die durchquert man höchstens.« – Zwei Tage später wird Frau Vosen eine von 627 Frauen sein, die Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten, wie die sexuelle Gewalt so verharmlosend genannt wird (1221 »Geschädigte« sind es inklusive der Diebstähle gesamt).

Noch jedoch ahnen Vosens nichts. Sie ziehen sich allerdings »instinktiv« die Reißverschlüsse ihrer Jacken »bis zum Hals hoch« und fassen sich an den Händen. »Das war um 22.57 Uhr. Ich weiß das so genau, weil ja in der Bahnhofshalle die große Uhr hängt.« Plötzlich detoniert eine Silvesterrakete mitten in der Halle. »Und dann ging der Tumult los«, erinnert sich Claudia Vosen. »Das war wie ein Startschuss. Von draußen drängten massenhaft Männer in die Halle. Schreie, Rufe, Gedränge. Mein Mann wurde von uns weggerissen. Er verschwand in der Menge, die uns wie eine Mauer umgab. Ich hatte um meinen Sohn vor mir einen Arm gelegt und griff mit der anderen Hand nach hinten nach meiner Tochter. Die hatte sich an meinen Rücken geklammert. Das war ein Fehler, dass sie nicht vor mir war. Sie hat lange blonde Haare …«

Es war der Beginn eines Infernos, das Mutter und Tochter bis heute Albträume beschert. »Plötzlich hatten wir Hände am ganzen Körper. Sie fassten uns an die Brüste, griffen uns brutal zwischen die Beine, zerrten an Reißverschlüssen, Finger pulten nach Öffnungen. Zum Glück hatten meine Tochter und ich Hosen an. Die haben sich sogar gebückt, um uns besser zwischen die Beine fassen zu können.« Das alles passiert am Ausgang der Bahnhofshalle, durch den Vosens durchmüssen. »Die waren wie ein riesiger Schwarm, aus dem sich immer wieder eine Gruppe auf uns stürzte und sich dann wieder in die Menge zurückzog …«

Irgendwann spuckt die rasende Männermasse die drei aus, raus auf den Bahnhofsvorplatz. Der ist fast leer, nur am Rand stehen Männer. Und da taucht auch Claudias Mann wieder auf. »Ich habe auf die Uhr geguckt. Es war exakt 23.25 Uhr. Wir waren also fast eine halbe Stunde in dieser Hölle. Meine Tochter schluchzte und schrie: ›Fass mich nicht an!‹ Meinem Sohn hatten sie das Handy geklaut. Und mein Mann sagte: ›Nur weg!‹«

Während der ganzen Zeit hat Claudia Vosen weder in der Halle noch auf dem Platz auch nur einen einzigen Polizisten gesehen. Daran erinnert sie sich genau. »Mein Mann hat noch gesagt: ›Wo ist denn die Polizei?!‹« Vosens gehen quer über den Bahnhofsplatz nach rechts – und da ist sie, die Polizei. »Die standen in der Seitenstraße, so 20 bis 25 Mann, mit verschränkten Armen. Mein Mann hat sie angesprochen und gesagt: Da hinten ist was los! Da müssen Sie schnell hin! Aber die einzige Reaktion der Polizisten war: ›Sehen Sie zu, dass Sie schnell hier wegkommen. Gehen Sie nach Hause!‹«

Zu dem Zeitpunkt sind nach Aussagen der Polizei maximal 100 Polizisten am und im Bahnhof (für das Bahnhofsgelände ist der Bund zuständig). Doch wo waren diese 100 Polizisten, als Familie Vosen nicht etwa in einer dunklen Ecke, sondern im Zentrum des Getümmels in Not geriet? Warum haben sie, selbst nachdem sie informiert worden waren, nicht eingegriffen? Hatten die PolizistInnen etwa auch selber Angst? Hatten sie die Order, sich rauszuhalten? Gab es gar ein Kompetenzgerangel zwischen städtischer und Bundespolizei? Blieb deshalb ausgerechnet der heikelste Punkt, der Bahnhofsausgang, ganz und gar ungeschützt?

Anzeige erstattet hat der Lebensgefährte von Claudia dann am 2. Januar via Internet. Mutter und Tochter gingen erst mal tagelang nicht aus dem Haus. »Wir standen unter Schock.« Erst am 7. Januar – nachdem alles endlich, endlich öffentlich geworden war – schien die Polizei sich wirklich für den Fall zu interessieren. »Da haben sie angerufen und hatten es plötzlich ganz eilig. Wir sollten auf die Wache kommen und alles genau erzählen.« Im Rückblick sagt die 48-jährige Claudia Vosen: »Für mich war ganz klar, dass das Absicht war. Das war organisiert!«

Am 7. Januar veröffentlichte Bild den internen Bericht eines leitenden Beamten der Bundespolizei. Der hatte am 4. Januar rückblickend notiert: »Frauen in Begleitung oder ohne durchliefen einen Spießrutenlauf durch die stark alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann.« Und er fährt fort: »Zahlreiche verstörte, weinende, verängstigte Passanten, insbesondere Frauen und Mädchen, hatten Übergriffe gemeldet.« Eine Identifizierung der Täter sei jedoch »leider nicht mehr möglich« gewesen, denn: »Die Einsatzkräfte konnten nicht aller Ereignisse, Übergriffe, Straftaten usw. Herr werden. Dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit.« Zeugen seien bedroht worden, wenn sie Täter benannten. Und aufgrund der fehlenden Kapazitäten sei es auch unmöglich gewesen, Wiederholungstäter in Gewahrsam zu nehmen. Die Täter seien den Polizisten mit einer Respektlosigkeit begegnet, »wie ich sie in 29 Dienstjahren noch nicht erlebt habe«. Das »Chaos« sei dermaßen aus der Kontrolle geraten, dass der Verfasser mit »erheblichen Verletzungen und sogar Todesopfern« gerechnet hat. Für den Bundespolizisten waren die Vorgänge schlicht »beschämend«.

Nach einer unruhigen Nacht klickt Claudia Vosen sich am Neujahrsmorgen in ihre Facebookgruppe »Nett-Werk Koeln«. Als Erstes entdeckt sie das Posting eines gewissen Eiken. Der junge Mann erzählt, was ihm und seiner Freundin in der Silvesternacht am Bahnhof widerfahren sei. »Ich wollte gerade schreiben: Mir ist genau dasselbe passiert! – da war Eiken schon gesperrt. Eine Welle von Hasstiraden rollte über ihn weg. Du hetzt gegen Ausländer! Du beschimpfst Flüchtlinge! Und schließlich kam das Verbot, überhaupt noch über Silvester zu posten.« (»Nett Werk Köln« brauchte eine Zeit, sich zu sortieren. Die beliebte Service-Seite war erst nach zehn Tagen wieder online.)

Sodann ging das weiter, was Claudia Vosen im Rückblick als »fast noch schlimmer als die Sache selbst« bezeichnet: nämlich das Verbot, darüber zu sprechen, und...

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