Die erste Haftprüfung: Die Entscheidung ist längst gefallen
Es ist kein Zweifel, dass hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine große Organisation sich befindet.
FRANZ KAFKA, DER PROZESS
Ein Richter als PR-Experte
ALS ICH IN MEINE ZELLE ZURÜCKKEHRE, wartet der mürrische Wachmann bereits. »Ich habe das überprüft mit Ihrem Haftprüfungstermin heute. Dieser Termin soll um 13.30 Uhr stattfinden. Es wird ein Vier-Augen-Termin sein. Sie brauchen sich nicht umzuziehen. Sie werden schnell wieder hier sein.« Ich höre ihm zu und habe zugleich das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Dem Justizbeamten bleibt meine Reaktion nicht verborgen. Seine mürrische Miene wandelt sich in ein verlegenes, anteilnehmendes Lächeln.
Es ist der 17. November 2014, 9.28 Uhr, und meine feste Überzeugung, heute das Gefängnis zu verlassen, gerät zum ersten Mal an diesem Tag ins Wanken. Während ich zweifelnd in meiner Zelle auf- und abgehe, soweit es das Ausmaß des Raumes eben zulässt, melden die Nachrichten auf WDR 2: »… bestätigt der Sprecher des Landgerichts Essen, dass es heute Nachmittag zu Gesprächen mit den Verteidigern von Dr. Thomas Middelhoff über eine Aussetzung des Haftbefehls kommen wird.«
In der Mitte der Zelle, zwischen Holztisch und WC, verharre ich; Erleichterung breitet sich aus. Wenn der Sprecher des Landgerichts Essen den Termin für den heutigen Nachmittag mit meinen Verteidigern öffentlich bestätigt, kann die Nachricht eines Vier-Augen-Termins, die der Wachmann übermittelt hat, nicht stimmen. Ist dies ein Zufall, eine Fehlinformation des Vollzugsmitarbeiters oder ein Spiel mit mir?
Es sind nur noch wenige Stunden bis zum Haftprüfungstermin. Ich prüfe meine handschriftlichen Notizen zu »Wohnsitz, finanzielle Situation und Reisepass« mehrfach. Alles muss in diesem Termin eindeutig erklärt oder geklärt werden, es dürfen keine Fragezeichen und keine noch so leisen Zweifel bestehen bleiben. Heute Abend werde ich diese Haftanstalt verlassen haben. Die Hoffnung ist immens, die Zuversicht wächst langsam in ihrem Schatten. Das verleiht mir neue Energie.
Um 13.35 Uhr öffnet sich mit dem üblichen Geräusch erneut die Zellentür. Im Türrahmen steht der grün uniformierte Justizmitarbeiter, der mich vor einer gefühlten Ewigkeit am Freitag vom Keller des Justizgebäudes bis zu meiner Aufnahme in der JVA begleitet hatte. Nun geht es in die Gegenrichtung, in die Freiheit – hoffentlich. »Ihre Anwälte sind auf dem Weg«, verkündet der JVA-Beamte in sachlichem Ton. »In der Zwischenzeit müssen Sie aber noch hier warten.« Er weist nach rechts, wo sich einige Zellentüren in der Wand befinden, und öffnet die mächtige Stahltür mit der Nummer 3. Im Inneren des Raumes befinden sich graue Fliesen auf dem Boden, graue Kacheln an den Wänden, ein Stahl-WC und ein Handwaschbecken, ebenfalls aus Stahl. Davor ein kleiner Holztisch mit einem aus Aluminiumfolie gefalteten Aschenbecherersatz, außerdem eine Holzbank, sonst nichts. Der Raum ist so nüchtern, kalt und funktional wie ein Leichenschauhaus. In einer Ecke der Decke hängt eine Überwachungskamera. Nachdem ich auf der Holzbank Platz genommen habe, wird mir intuitiv bewusst, dass es in diesem sterilen Raum kaum möglich sein dürfte, sich umzubringen. Was ist wohl einfacher zu ertragen? Kurz überlege ich, ob ich lieber hier untergebracht wäre als in A115, wenn dafür die nächtlichen Sicherheitskontrollen ausblieben. Das Ergebnis des Abwägens ist eindeutig. Für eine Einstellung der Kontrollen hätte ich alles gegeben. Die Nebenwirkungen dieser drastischen Maßnahme sind schon nach drei Tagen überdeutlich spürbar: Sie sind sowohl physisch als auch psychisch für den Kontrollierten eine Tortur.
Noch eine letzte Sichtung meiner Unterlagen für den Termin, dann öffnet sich erneut die Stahltür. »Ihr Anwalt ist eingetroffen«, verkündet der Vollzugsmitarbeiter. »Ich werde Sie jetzt zu ihm begleiten.« Ich lasse den Zellentrakt hinter mir und gehe, der Weisung des Wachmanns folgend, rechts in den Gang mit dunkelgrauem Linoleumbelag. Es ist der gleiche Gang, über den meine Anwälte Winfried Holtermüller und Udo Wackernagel vor sechzig Stunden in die entgegengesetzte Richtung verschwunden waren. Am Ende dieses Ganges steht jener kleine Holztisch mit seinen vier Stühlen, an dem wir auch schon am Freitag gesessen haben.
Jetzt sind drei Stühle an dem Tisch frei. Auf dem vierten wartet Dr. Thomas. Ich bin unendlich dankbar, ihn zu sehen – und voller Hoffnung: Er wird dafür sorgen, dass dieser Albtraum heute endlich ein Ende hat. Er erhebt sich von dem Stuhl, kurz bevor ich am Tisch bin, und streckt mir seine Hand entgegen, ergreift meine und hält sie lange fest. Während er sie schüttelt, umfasst seine linke Hand mein Ellenbogengelenk. »Lass uns setzen«, sagt er. »Zuallererst – deiner Familie geht es gut! Nele, Jan, Carolin und Henriette warten jetzt oben auf dich. Mein Gott, was für eine großartige Frau, was hast du für tolle Kinder. Und Nele scheint sehr gefasst.« Ungeheuer große Erleichterung breitet sich aus.
»Die Kollegen Holtermüller, Fromm und Wackernagel sind ebenfalls auf dem Weg, sie werden gleich hier eintreffen. Wir sollten die Zeit jetzt nutzen und wichtige Punkte für die anstehende Unterredung besprechen.« Konzentriert wenden wir uns seinen Themen und meinen Notizen zu.
Kurze Zeit später trifft tatsächlich Hartmut Fromm ein. Er erinnert mich mit seinem Aussehen, seiner Statur und seinem feinen, trockenen Humor sehr an meinen verstorbenen Vater. Zwei dicke schwarze Mappen unter seinem Arm mit den Aufschriften »Finanzielle Situation« beziehungsweise »THOMI«. Zwei liebevoll-spöttische Bemerkungen über mein Aussehen in der Anstaltskleidung, und schon sind wir zu dritt in ein Gespräch vertieft, als gäbe es diese Umgebung hier nicht, als säßen wir nicht in einem Raum in einer Haftanstalt.
Nacheinander kommen nun auch Udo Wackernagel und Winfried Holtermüller. Letzterer hat breite, dunkle Ringe unter den Augen. Er habe seit Freitag schlecht geschlafen, berichtet er. Am Wochenende sei er von Journalisten mit E-Mails, SMS und Anrufen auf seinem Handy geradezu verfolgt worden. Erwartet er Mitleid? Eine groteske Szene, die er da abliefert. »Auch jetzt«, schildert er betont dramatisch, »stehen vor der Pforte zirka sechzig Journalisten und warten auf News in Sachen Middelhoff.« – »Woher wissen die überhaupt, dass wir uns heute hier treffen?«, fragt Hartmut Fromm nachdenklich.
Es ist 14.10 Uhr, als die Richter, gefolgt von der Justizsekretärin, den Flur hinaufkommen. Sven Thomas, zwischenzeitlich im Gespräch mit den beiden Vertretern der Staatsanwaltschaft, hat sich bereits vor den kleinen Besprechungsraum begeben, in dem schon am Freitag erfolglos über die Aussetzung des Haftbefehls verhandelt worden war.
Ein knapper Gruß, ein angedeutetes Kopfnicken, dann betreten sie als Erste das Besprechungszimmer. Der Sauerstoffgehalt scheint heute auch nicht höher als zuletzt. Der Vorsitzende Richter schaltet das Licht ein. Nervosität und Hoffnung haben sich zu einem nervenaufreibenden Gemisch vereint. Verhaltenen Schrittes folgen wir der Kammer. Die scheint die Sitzordnung vom Freitag verordnen zu wollen. Aus Platzgründen haben Sven Thomas und Hartmut Fromm direkt neben den beiden Staatsanwälten Platz genommen. Der Platz direkt gegenüber den Richtern ist mir zugedacht, eingerahmt von den Anwälten Holtermüller und Wackernagel.
Ein ungewohnter Anblick – das Gericht in Freizeitkleidung. Statt schwarzem Anzug mit weißer Krawatte wie am Freitag trägt der Vorsitzende heute eine dunkle Jeans, dazu eine ebenso dunkle Jacke sowie ein dunkelgraues Hemd mit offenem Kragen. Gut, dass man mir meinen blauen Anzug aus der Kleiderkammer nicht ausgehändigt hat. Man hätte mir mein Bedürfnis nach einem zivilisierten Auftreten vermutlich einmal mehr als Arroganz ausgelegt.
Die Anspannung in dem Raum scheint fast physisch spürbar zu sein. Richter Schmitt eröffnet die Verhandlung mit einem kurzen Rückblick auf das zurückliegende Wochenende, auf das gewaltige Medien-Echo zu seinem Urteil, zu Haftbefehl und Saalverhaftung. Er scheint gelöst und fast jovial, so wie an keinem der fünfunddreißig Verhandlungstage zuvor.
Lächelnd nickt er schließlich in meine Richtung. Es solle sich nicht falsch anhören, aber vielleicht habe es für mich ja auch sein Gutes, dass mir all das an Pressereaktionen am Wochenende erspart geblieben sei, dadurch dass ich mich jetzt »drüben« befände. Habe ich das geträumt? Ist das Zynismus in einer besonders üblen Form, ist es Naivität, Unbeholfenheit, oder entspricht diese Äußerung tatsächlich Intellekt und Sichtweise eines Vorsitzenden Richters einer Großen Wirtschaftsstrafkammer? Ganz offensichtlich hat er weder den Funken einer Ahnung, was dieses Wochenende bei mir bewirkt hat, noch scheint die Schöpfung ihn überhaupt mit der notwendigen Vorstellungskraft gesegnet zu haben.
Er kaufe sich sonst nie die BILD am Sonntag, wird dieser zutiefst irritierende Monolog fortgeführt. An diesem Sonntag habe er sie sich aber extra geholt, um das Interview zu lesen, das Winfried Holtermüller gegeben habe. Sein Blick geht bedeutsam in Holtermüllers Richtung. Was ist das hier? Eine Presseschau im Morgenmagazin nach einer Premierenveranstaltung? Eine Bühne für Selbstdarstellung und Anwaltsschelte? Es war offensichtlich ein Irrtum zu glauben, es ginge in sachlicher Form um Voraussetzungen und mögliche Bedingungen einer Haftaussetzung.
Doch das war noch immer nicht alles. In meine...