Unterwegs nach Europa: 25 Jahre Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
Verständigung setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus zu verstehen – und sie beruht auf Sprache. Während der feierlichen Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung ist die Idee, die hinter der Ehrung steht, häufig ganz buchstäblich, im Wort-Sinn, zu erleben. So war es auch 1998, als die Filmkritikerin und Drehbuchautorin Maja Turowskaja ihre Laudatio auf die Hauptpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in einem vom russischen Akzent gefärbten Deutsch vortrug. Auch die Bassstimme István Eörsis machte aus der Budapester Herkunft kein Hehl – er überraschte die Freundin und Kollegin Ilma Rakusa, damals Trägerin des Anerkennungspreises, mit der Übersetzung eines Gedichts ins Ungarische. Csupasz fáj között a lékekben: hó – «Schnee» ist das Schlusswort seiner Laudatio, nicht als trennender «Strich durch alles», sondern als verbindendes Element. Eine Republik der freien Geister, auf keiner Landkarte verzeichnet, irgendwo zwischen Moskau, Budapest, Zagreb, Krakau, Ljubljana und Berlin. Die Literatur, die der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stellt, liegt quer zu tagesaktuellen Debatten und politischen Konjunkturentwicklungen. Die in 25 Jahren ausgezeichneten Bücher und Autoren verweisen stattdessen auf die antizipatorische Kraft der Literatur, die uns Fremdes nahebringen kann, bevor das nächste politische Strohfeuer unsere Aufmerksamkeit beansprucht.
Leipzig, so sagte es Ilma Rakusa in jenem Jahr 1998, sei für sie «ein Ort der Hellhörigkeit für die Zeichen des anderen Europa. Hier besinnt man sich auf die Tatsache, dass die Begriffe Zentrum und Rand mehr als relativ sind, dass die Impulse womöglich von den Rändern kommen.» Leipzig, begünstigt durch seine Lage an der Schnittstelle der bedeutendsten europäischen Fernhandelsstraßen, via regia und via imperii, ist ein historisch erprobter und geografisch ausgezeichneter Ort für das Gespräch über politische und mentale Grenzen hinweg. Das Wort von der Drehscheibe zwischen Ost und West – hier war es immer schon mit Leben erfüllt. Die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sahen in der Verständigung mit Mittel- und Osteuropa eine besondere Aufgabe der traditionsreichen Buch- und Buchmessestadt, die sie seit 1994 mit der gemeinsamen Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung unterstützen. Kein einfach durchzuwinkender Zugang im schier endlosen Reigen der Literaturpreise, auch kein kleiner Friedenspreis, wie mancher mit dem Blick zur Frankfurter Paulskirche meinte: Vier Jahre, nachdem die mittel-osteuropäischen Länder mit ihren Revolutionen die Freiheit erkämpft hatten, ging es darum, Europas kulturelle Einheit neu zu gestalten. Eine große Chance, eine große Herausforderung. Zugleich stand der neue Preis für die Vielzahl der schöpferischen Potenziale, die ein Buch ermöglichen – bis 2004 wurde neben dem Hauptpreis auch ein Anerkennungspreis vergeben, häufig an Übersetzerinnen und Übersetzer, die im Stillen wirkenden Transporteure der Literatur.
Bis 2004 fand die Preisverleihung im Festsaal des Leipziger Alten Rathauses statt. Eindrucksvolle Reden sind es, die den in Öl gemalten Ratsherren zu Ohren kommen, und es handelt sich hier beileibe nicht um Harmonisierungsfolklore: 1999 wird die Feier vom Krieg im Kosovo überschattet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs drohte in Europa erneut ein Vorhang zu fallen, der europäische Einigungsprozess zu einem nur westeuropäischen zu werden. Seit 2005 gehört die Leipziger Buchmesse zum Kreis der Zustifter; der inzwischen mit 20.000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus an eine Persönlichkeit verliehen, die sich in Buchform um das gegenseitige Verständnis in Europa verdient gemacht hat. In Zeiten, in denen sich Autoritarismus, Populismus und rechte Nationalismen auf dem Vormarsch befinden, wird die Frage, was «Verständigung» und «Integration» bedeuten, neu gestellt. Längst geht der Blick dabei nicht mehr vorrangig nach Osten. In einer global vernetzten Welt, in der der Hass auf das vermeintlich Fremde bedrohlich zunimmt, wird der Kreis der Preisträgerinnen und Preisträger weiter, internationaler. 2014, im 20. Jahr des Preises, wurde der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra für sein epochales Werk «Aus den Ruinen des Empires» geehrt. Es ist auch der nicht-europäische Blick, der für das um Selbstverständigung über seine Rolle in der heutigen Welt ringende Europa unverzichtbar ist.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wurde 1994 als Ausdruck der Hoffnung auf ein vereintes und stärker integriertes Europa gegründet. Die dreizehn Preisträgerinnen und Preisträger, die anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums aus heutiger Perspektive auf die Preisverleihung in Leipzig und ihre gehaltenen Reden zurückschauen, sehen im Licht der jüngsten politischen und kulturellen Entwicklungen wenig Grund zur Hoffnung. Die Selbstverständlichkeit Europas steht mehr denn je auf dem Spiel. «In einer völlig anderen Zeit und in einem völlig anderen Europa» findet sich der Niederländer Geert Mak zehn Jahre nach seiner Preisrede wieder, und dem rumänischen Autor Mircea Cărtărescu, obwohl erst vor drei Jahren im Leipziger Gewandhaus geehrt, kommt es vor, «als wären seitdem drei Jahrzehnte vergangen». Claudio Magris, Preisträger 2001, hält uns Karl Valentins schwarzhumoriges «Früher war die Zukunft auch besser» entgegen – und erinnert sich bei einem Besuch der Danziger Lenin-Werft, dem Ort, an dem die Solidarność entstanden war, desillusioniert an den «Geist der Freiheit und Brüderlichkeit dieser Kämpfe jener Jahre, an Havels Prag, an Masowieckis Polen oder an Árpád Göncz’ Ungarn». Wo Gefahr ist, wächst das Rettende mitunter aus Ironie oder Sarkasmus: Slavenka Drakulić entwirft mit «Euroskansen» die Dystopie eines «Museums der europäischen Lebensweise» im Jahr 2050, eine Mischung aus Disneyland und Freiluft-Zoo, Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Jury Andruchowytsch, der im eisigen März 2006 gemeinsam mit seinem Freund und Laudator Ingo Schulze für eine der denkwürdigsten Buchmesse-Eröffnungen und standing ovations im Gewandhaus sorgte, hat 13 Jahre später wenig Lust, «schon wieder so ein Mittelding zwischen Sisyphos und Sacher-Masoch zu sein». Doch er, als Autor mit den Paradoxien des Weltgeistes auf du und du, rollt den Stein weiter, listig lächelnd wie ein weiser Indianer: «Je seltener die lauten Phrasen über die Unvermeidlichkeit unserer Mitgliedschaft in der EU erklingen, desto näher kommen wir ihr. Es ist so, als herrsche in den politischen Milieus beider Seiten – der Ukraine und der EU – ein schweigender Konsens, keinesfalls unsere Perspektive zu zerreden, sondern sich in absoluter Stille an sie heranzuschleichen. Solche Zeiten sind angebrochen. Sie erfordern Vorsicht.» Einen Monat, nachdem György Dalos in einem Seitenstrang seiner Leipziger Rede über die «ungarischen Zustände» sinnierte, siegte im April 2010 die bis dahin oppositionelle Fidesz-Partei unter Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen. Was seither in Ungarn geschieht, stellt die schlimmsten Befürchtungen des Autors in den Schatten. «Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf, setze mich an den Computer und führe die seltsame Kommunikation mit dem Bildschirm, einem Medium, das glückliche oder unglückliche Autoren früherer Zeiten noch nicht kannten.» Ein like, eine Polemik, irgendwo da draußen in Digitalien – zumindest elektronische Verständigung ist noch möglich.
Was man dem Klima der Angst und Verunsicherung, das die Rechten in vielen Ländern Europas schaffen, entgegensetzen, wie man eine Veränderung herbeiführen kann, weiß auch Martin Pollack nicht. Dennoch beharrt er, seine südburgenländischen Streuobstwiesen fest im Blick, beinahe mantrahaft: «Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen Widerstand leisten und uns neue Strategien ausdenken. Wir müssen uns zusammenschließen und dürfen, trotz allem, unsere Freunde in Osteuropa, in Polen, Belarus und der Ukraine, in der Slowakei, Russland und in Ungarn, nicht vergessen. Das sind wir ihnen schuldig, auch im eigenen Interesse.» Von Mircea Cărtărescu, der sich dem zivilgesellschaftlichen Straßenprotest unter dem Zeichen #rezist angeschlossen hat, erfahren wir, dass sich seine Heimat Rumänien in den letzten sechs Monaten vom «europafreundlichsten Land des Kontinents» zu einem der europaskeptischsten gewandelt hat: «Rumänien hat sich als Staatsprojekt neu erfunden, seit es Mitglied in...