KAPITEL 1
VERBORGENE PERSPEKTIVEN
Vom Anfang seiner Karriere in den frühen 1590er-Jahren bis zu ihrem Ende rang Shakespeare immer wieder mit einer zutiefst beunruhigenden Frage: Wie ist es möglich, dass ein ganzes Land einem Tyrannen in die Hände fällt?
»Ein König herrscht über willige Untertanen, ein Tyrann über unwillige«, schrieb der einflussreiche schottische Gelehrte George Buchanan im 16. Jahrhundert. Die Institutionen einer freien Gesellschaft sind dazu geschaffen, jene abzuwehren, die, mit Buchanans Worten, »Macht nicht für ihr Land, sondern für sich ausüben würden, denen nicht am Gemeinwohl liegt, sondern an ihrem eigenen Vergnügen«.1 Unter welchen Umständen, fragte sich Shakespeare, erweisen sich solche hochgeschätzten Institutionen, die tief verwurzelt und unüberwindlich schienen, plötzlich als fragil? Warum lassen sich so viele Menschen in die Irre führen, obwohl sie wissen, dass man sie belügt? Wie kommt eine Gestalt wie Richard III. oder Macbeth auf den Thron?
Ein solches Unheil war für Shakespeare ohne einen weiten Kreis von Mittätern nicht denkbar. Seine Dramen erkunden die psychischen Mechanismen, die eine ganze Nation dazu bewegen, ihre Ideale und sogar ihr Eigeninteresse aufzugeben. Wie kann es sein, so fragte er, dass jemand sich von einem Führer angezogen fühlt, der zum Regieren offensichtlich ungeeignet ist, der keine Selbstbeherrschung kennt, durch Hinterhältigkeit und Niedertracht brilliert oder sich nicht um die Wahrheit schert? Unter welchen Umständen wirken Zeichen von Verlogenheit, Rohheit oder Grausamkeit nicht abstoßend, sondern attraktiv, ja, erregen sogar glühende Bewunderung? Warum geben sonst stolze Menschen ihre Selbstachtung auf und unterwerfen sich der Unverfrorenheit des Tyrannen, seiner Überzeugung, ungestraft sagen und tun zu können, was er will, seiner spektakulären Schamlosigkeit?
Shakespeare stellte wiederholt den tragischen Preis dieser Unterwerfung dar – die moralische Korrumpierung, die ungeheure Vergeudung von Ressourcen, den Verlust an Menschenleben – und die verzweifelten, schmerzhaften, heroischen Anstrengungen, die nötig sind, um die Gesundheit einer angeschlagenen Nation wenigstens einigermaßen wiederherzustellen. Gibt es eine Möglichkeit, fragen die Dramen, das Abgleiten in eine gesetzlose Willkürherrschaft aufzuhalten, bevor es zu spät ist, irgendein wirksames Mittel, um die gesellschaftliche Katastrophe abzuwenden, die Tyrannei unabdingbar mit sich bringt?
Der Dramatiker bezichtigte Englands Herrscherin Elisabeth I. nicht der Tyrannei. Ganz gleich, was Shakespeare insgeheim wohl dachte – es wäre Selbstmord gewesen, so etwas auf der Bühne anzudeuten. Seit 1534, unter der Regierung ihres Vaters Heinrichs VIII., erklärte ein Gesetz es zum Hochverrat, den Herrscher als Tyrannen zu bezeichnen.2 Die Strafe für solch ein Verbrechen war der Tod.
In Shakespeares England gab es keine freie Meinungsäußerung, weder auf der Bühne noch sonst irgendwo. Die Aufführungen eines angeblich umstürzlerischen Stücks mit dem Titel Die Hundeinsel brachte den Dramatiker Ben Jonson 1597 ins Gefängnis und zog einen – zum Glück nicht ausgeführten – Befehl der Regierung nach sich, alle Londoner Theater niederzureißen.3 Spitzel besuchten die Aufführungen in der Hoffnung, den Behörden etwas als subversiv Deutbares anzeigen zu können, um eine Belohnung dafür zu kassieren. Besonders riskant waren Versuche, sich kritisch zu aktuellen Ereignissen oder prominenten Persönlichkeiten zu äußern.
Wie in modernen totalitären Regimen entwickelten die Menschen Techniken der verschlüsselten Rede, mit denen sie mehr oder weniger indirekt über das sprechen konnten, was sie am meisten bewegte. Doch Shakespeares Vorliebe für die Verschiebung von Zeit und Ort war nicht allein durch Vorsicht motiviert. Er scheint gespürt zu haben, dass er klarer über die Fragen nachdachte, die seine Welt bewegten, wenn er sie nicht direkt anging, sondern eine verborgene Perspektive wählte. Seine Stücke legen nahe, dass er der Wahrheit durch den Kunstgriff der Fiktion oder der historischen Distanz gerecht werden konnte, ohne daran zugrunde zu gehen. Darum faszinierten ihn der legendäre römische Feldherr Gaius Marcius Coriolanus oder der historische Julius Cäsar, daher reizten ihn Figuren aus englischen und schottischen Chroniken wie York, Jack Cade, Lear und vor allem die exemplarischen Tyrannen Richard III. und Macbeth. Und daher auch zogen ihn frei erfundene Figuren an wie der sadistische Kaiser Saturninus in Titus Andronicus, der korrupte Statthalter Angelo in Maß für Maß, der paranoide König Leontes im Wintermärchen.
Shakespeares Popularität lässt darauf schließen, dass viele seiner Zeitgenossen dasselbe empfanden. Befreit von den aktuellen Umständen sowie den endlos wiederholten Floskeln über Patriotismus und Gehorsam, konnte das, was er schrieb, schonungslos ehrlich sein. Der Dramatiker blieb seinem Ort und seiner Zeit verbunden, war aber nicht ihr bloßer Sklave. Was zum Verzweifeln unklar schien, das wurde nun in aller Schärfe deutlich, und er brauchte nicht über das zu schweigen, was er sah.
Shakespeare verstand auch etwas, das in der heutigen Zeit zutage tritt, wenn ein bedeutendes Ereignis – das Ende der Sowjetunion, der Zusammenbruch des Immobilienmarktes, ein verblüffendes Wahlergebnis – ein grelles Licht auf eine beunruhigende Tatsache wirft: Selbst jene, die zum innersten Zentrum der Macht gehören, haben oft keine Ahnung, was geschehen wird. Obwohl sich auf ihren Schreibtischen Berichte, Hochrechnungen und Prognosen türmen, obwohl sie ein kostspieliges Netzwerk von Spionen und Experten unterhalten, tappen sie fast völlig im Dunkeln. Am Rande stehend, hegt man den Traum, wenn man nur nahe genug an diese oder jene Schlüsselfigur herankäme, dann wüsste man, was wirklich vor sich geht und was zu tun wäre, um sich selbst oder sein Land zu retten. Doch dieser Traum ist eine Illusion.
Zu Beginn eines seiner Historiendramen führt Shakespeare die Figur des Gerüchts ein. Ihr Kostüm ist »mit Zungen bemalt«, und ihre Aufgabe besteht darin, unablässig durch »Argwohn, Misstrauen, Mutmaßung« (2 Heinrich IV., Einführung, 16) aufgeblasene Geschichten in Umlauf zu bringen.4 Die Wirkungen sind schmerzhaft offenkundig – fatal fehlgedeutete Zeichen, trügerischer Trost, blinder Alarm, plötzliche Umschwünge von wilder Hoffnung zu abgrundtiefer Verzweiflung. Und am meisten getäuscht sind nicht die Angehörigen der breiten Masse, sondern eher jene, die über Privilegien und Macht verfügen.
Für Shakespeare war es also leichter, klar zu denken, wenn das Geräusch dieser schwatzenden Zungen verebbte, und leichter, die Wahrheit aus einem strategischen Abstand zur Gegenwart zu sagen. Die verborgene Perspektive erlaubte es ihm, falsche Annahmen, altehrwürdige Überzeugungen und Glaubensirrungen beiseitezuschieben und unbeirrt das in den Blick zu nehmen, was darunter lag. Darum sein Interesse für die Welt der Antike, wo christliche Frömmigkeit und monarchische Rhetorik keinen Platz haben; seine Faszination für das vorchristliche England von König Lear oder Cymbeline; seine Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Schottland des 11. Jahrhunderts in Macbeth. Und selbst wenn er seiner eigenen Welt näher kam, in der bemerkenswerten Folge von Historiendramen von der Herrschaft Richards II. im 14. Jahrhundert bis zum Sturz Richards III., blieb Shakespeare mindestens ein Jahrhundert von den dargestellten Ereignissen entfernt.
Als er schrieb, regierte Elisabeth I. schon seit mehr als dreißig Jahren. Mochte sie bisweilen reizbar, schwierig und herrschsüchtig sein, so zweifelte doch im Allgemeinen niemand an ihrem grundsätzlichen Respekt vor der Unantastbarkeit der politischen Institutionen des Königreichs. Selbst wer für eine aggressivere Außenpolitik plädierte oder forderte, härter gegen innere Feinde vorzugehen, als sie erlauben wollte, anerkannte für gewöhnlich ihren klugen Sinn für die Grenzen ihrer Macht. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Shakespeare, selbst in seinen innersten Gedanken, in ihr eine Tyrannin sah. Doch wie seine Mitbürger hatte er allen Grund zur Sorge über das, was kommen würde. 1593 feierte die Königin ihren sechzigsten Geburtstag. Obwohl unverheiratet und kinderlos, weigerte sie sich beharrlich, einen Nachfolger zu benennen. Glaubte sie, sie werde ewig leben?
Für mit Vorstellungskraft begabte Menschen gab es noch mehr Grund zur Sorge als das stete Verrinnen der Zeit. Man fürchtete, das Königreich sei durch einen unerbittlichen Feind bedroht, eine skrupellose internationale Verschwörung, deren Führer im Ausland fanatische Geheimagenten ausbildeten und losschickten, um Terror zu verbreiten. Diese Agenten waren überzeugt, Menschen zu töten, die als Irrgläubige galten, sei keine Sünde, vielmehr täten sie dadurch Gottes Werk. In Frankreich, den Niederlanden und anderswo hatten sie bereits Attentate, Massengewalt und Massaker zu verantworten. Ihr unmittelbares Ziel in England war die Ermordung der Königin, die Krönung eines Sympathisanten ihres Glaubens und die Unterwerfung des Landes unter ihre verzerrte Form der Frömmigkeit. Ihr oberstes Ziel war die Weltherrschaft.
Die Terroristen auszumachen fiel nicht leicht, denn die meisten von ihnen waren im Land aufgewachsen. Nachdem sie radikalisiert, in ausländische Trainingslager gelockt und dann zurück nach England geschleust...