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E-Book

Zwangsgeräumt

Armut und Profit in der Stadt

AutorMatthew Desmond
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783843717748
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Pulitzer-Preisträger für das beste Sachbuch 2017 - eine erzählerische Studie des modernen urbanen Amerika, anhand des Themas Wohnen wird ein neues Bild von Armut und Ungleichheit gezeichnet.  Matthew Desmond nimmt den Leser mit in die ärmsten Viertel von Milwaukee, einer mittelgroßen, normalen amerikanischen Großstadt. Er erzählt die Geschichte von acht Familien am Rande der Gesellschaft. Die meisten armen Mieter stecken heute über die Hälfte ihres Einkommens in die Miete, so dass Zwangsräumungen zu einem alltäglichen Phänomen geworden sind - vor allem für alleinerziehende Mütter. Matthew Desmond zeigt in seinem scharf beobachteten und erzählerischen Meisterwerk die unfassbare Ungleichheit in Amerika. Das Buch verändert unseren Blick auf Armut und wirtschaftliche Ausbeutung und erinnert mit seinen unvergesslichen Szenen von Hoffnung und Verlust daran, wie wichtig es ist, ein Zuhause zu haben.  »Wer Zwangsgeräumt liest, versteht, dass man kein ernsthaftes Gespräch über Armut führen kann, ohne über Wohnraum zu sprechen. Außerdem möchte man es dringend jedem Politiker in die Hand drücken.« The New York Times

Matthew Desmond ist Professor für Soziologie und Sozialwissenschaften an der Harvard University und Co-Direktor des Justice and Poverty Project. Für seine Forschung und seine Bücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem McArthur »Genius« Grant. Er schreibt regelmäßig für die New York Times und Chicago Tribune.

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Leseprobe

PROLOG
KALTE STADT


JORI UND SEIN Cousin trieben Unfug. Sie warfen Schneebälle auf vorbeifahrende Autos. Von Joris Straßenecke in Milwaukees South Side rollten die Wagen auf der Sixth Street an gedrungenen, zweistöckigen Häusern mit Verandas vorbei, deren hölzerne Stufen auf einem von Löwenzahn übersäten Gehsteig endeten. Die, die Richtung Norden fuhren, näherten sich der St. Josaphat-Basilika, deren Kuppel in Joris Augen wie eine riesige Saugglocke aussah. Es war Januar 2008, und die Stadt erlebte gerade einen der kältesten Winter in ihrer Geschichte. Wenn ab und zu ein Auto von der Sixth Street in die von Schneehaufen gesäumte Arthur Avenue einbog, wurde es von den zwei Jungs ins Visier genommen.

Jori packte einen harten Schneeball zusammen und warf ihn. Mit einem Ruck hielt der Wagen an, der Fahrer sprang heraus. Die Jungs rannten ins Haus und schlossen die Tür ihrer Wohnung von innen ab. Hier wohnte Jori mit seiner Mutter Arleen und seinem jüngeren Bruder Jafaris. Das Schloss war billig, und der Mann brach es mit ein paar gezielten Fußtritten auf. Bevor Schlimmeres geschah, verschwand er wieder. Als die Vermieterin von der Sache mit der Tür hörte, entschloss sie sich, Arleen und ihre Jungs auf die Straße zu setzen. Acht Monate hatten sie dort gewohnt.

An dem Tag, an dem Arleen mit ihren Söhnen aus der Wohnung musste, war es sehr kalt. Doch wenn sie noch länger wartete, würde die Vermieterin den Sheriff rufen. Der würde dann auftauchen, und zwar mit einer Pistole, einem Team stiefeltragender Umzugsleute und einer Räumungsverfügung, die besagte, dass ihr Zuhause ab jetzt nicht mehr ihr Zuhause war. Man würde ihr zwei Optionen bieten: Bordstein oder Laster. »Laster« bedeutete, dass ihr Besitz in einen Kastenwagen geladen und eingelagert wurde. Für 350 Dollar konnte sie ihr Hab und Gut dann wieder auslösen. Doch Arleen hatte keine 350 Dollar, also hätte sie sich für »Bordstein« entschieden, was bedeutete, dass sie den Umzugsleuten hätte zuschauen müssen, wie sie ihren ganzen Besitz auf dem Gehsteig anhäuften. Die Matratzen. Den Fernseher. Ihr Exemplar von Don’t be Afraid to Discipline, einem Erziehungsratgeber. Den schönen gläsernen Esstisch und die Spitzentischdecke, die gerade so darüber passte. Kunstblumen. Bibeln. Das Fleisch aus der Tiefkühltruhe. Den Duschvorhang. Jafaris’ Asthma-Maschine.

Arleen brachte ihre Jungs – Jori war dreizehn Jahre alt, Jafaris fünf – zu einer Obdachlosenunterkunft, die von allen nur »Die Herberge« genannt wurde, damit man den Kindern sagen konnte: »Heute übernachten wir in der Herberge«, so als sei es ein Motel. Und man hätte das zweistöckige Gebäude auch glatt mit einem verwechseln können, wären da nicht die vielen Schilder der Heilsarmee gewesen.

Arleen blieb bis April in dieser 120-Bett-Unterkunft, dann fand sie ein Haus an der Nineteenth Street Ecke Hampton Avenue, in der hauptsächlich afroamerikanisch geprägten Inner City von Milwaukees North Side. Es lag nicht weit von dort, wo sie aufgewachsen war. Das Haus hatte breite Blenden um Türen und Fenster und war einmal graugrün angestrichen gewesen, doch die Farbe war über die Jahre ausgeblichen und abgeblättert, sodass die Holzverkleidung durchschien, was dem Haus eine Tarnfleck-Optik verlieh. Irgendwann einmal musste jemand begonnen haben, das Haus weiß anzustreichen. Doch es sah aus, als habe diese Person mitten im Strich den Pinsel beiseite gelegt – mehr als die Hälfte des Hauses blieb unangestrichen. Oft kam kein Wasser aus der Leitung, und Jori musste den Klokasten ausschöpfen, damit sie überhaupt welches ­hatten. Aber Arleen gefiel, dass es geräumig war und etwas von den anderen Häusern entfernt stand. »Es war so ruhig«, erinnerte sie sich, »und nur fünfhundertfünfundzwanzig für ein ganzes Haus, zwei Schlafzimmer oben und zwei unten. Es war mein Lieblingshaus.«

Nach ein paar Wochen erklärte die Stadt Arleens Lieblingshaus zu »menschenunwürdigem Wohnraum«. Man verwies sie des Gebäudes, vernagelte Fenster und Türen mit grünen Brettern und legte ihrem Vermieter eine Geldstrafe auf. Arleen zog mit Jori und Jafaris in einen tristen Wohnkomplex an der Atkinson Avenue, der noch tiefer in der Inner City lag und – wie ihr bald klar wurde – ein Paradies für Drogendealer war. Sie hatte Angst um ihre Jungs, vor allem um Jori mit seinem braunen Teint, seinen schlaksigen Schultern und seinem gewinnenden Lächeln – ein Junge, der alles außer misstrauisch war.

Vier lange Sommermonate hielt es Arleen in der Atkinson Avenue aus, bevor sie eine Meile weiter ins Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses an der Thirteenth Street Ecke Keefe Avenue zog. Sie trugen ihre Sachen zu Fuß zur neuen Wohnung. Arleen hielt die Luft an und drückte auf den Lichtschalter. Als es hell wurde, lächelte sie erleichtert. Eine Zeit lang konnte sie Strom auf Kosten von jemand anderem beziehen.

Im Wohnzimmerfenster klaffte ein faustgroßes Loch, die Vordertür musste mit einem hässlichen Holzbalken verriegelt werden, der von zwei Metallwinkeln gehalten wurde, und der Teppichboden war dreckig und abgewetzt. Doch die Küche war geräumig und das Wohnzimmer schön hell. Arleen stopfte ein Stück Stoff in das Loch in der Scheibe und hängte elfenbeinfarbene Vorhänge auf.

Die monatliche Miete betrug 550 Dollar ohne Nebenkosten. Im Jahr 2008 war das der gängige Preis für eine Dreizimmerwohnung in einem der schlimmsten Viertel von Amerikas viert­ärmster Stadt. Arleen konnte nichts Billigeres finden, zumindest nichts, was als menschenwürdiger Wohnraum galt, und eine kleinere Wohnung wollten ihr die meisten Vermieter wegen der zwei Jungs nicht anbieten. Die Miete würde 88 Prozent von Arleens monatlichem Sozialhilfescheck in Höhe von 628 Dollar aufbrauchen. Vielleicht würde sie über die Runden kommen. Vielleicht konnten sie wenigstens den Winter über hierbleiben, bis die Krokusse und Tulpen durch den aufgetauten Boden stachen. Der Frühling war Arleens Lieblingsjahreszeit.

Es klopfte an der Tür. Es war die Vermieterin, Sherrena Tarver, eine schwarze Frau mit Bobfrisur und frisch gemachten Nägeln. Sie war mit Einkäufen beladen. Sie hatte vierzig Dollar aus eigener Tasche gezahlt und den Rest von einer Hilfsorganisation geholt, weil sie wusste, dass Arleen die Lebensmittel gut gebrauchen konnte.

Arleen dankte Sherrena und schloss die Tür hinter ihr. Das war doch schon mal ein guter Anfang.

Selbst in den ärmsten Stadtvierteln der USA waren Zwangsräumungen früher eine Seltenheit. Wenn es dazu kam, sammelten sich Menschenmengen an. Während der Great Depression in den Zwanzigerjahren brachen Krawalle bei Zwangsräumungen aus, obwohl die Anzahl der Familien, die damals pro Jahr auf die Straße gesetzt wurden, im Vergleich zu heute viel geringer war. In einem Artikel der New York Times vom Februar 1932 über den Widerstand eines Viertels gegen die Zwangsräumung der Wohnungen von drei Familien aus der Bronx fand sich folgende Formulierung: »Es war wohl der Kälte geschuldet, dass die Menschenmenge nur tausend Köpfe zählte.«1 Manchmal sahen sich die City Marshals* mit Nachbarn konfrontiert, die sich auf die Möbel der Familie setzten und so die Zwangsräumung verhindern oder gar erzwingen konnten, dass die Familie trotz gerichtlicher Anordnung wieder einziehen durfte. Schließlich hatten auch die Marshals selbst gemischte Gefühle, wenn es darum ging, Zwangsräumungen durchzuführen. Ihr Abzeichen und ihre Waffe trugen sie nicht, um Familien auf die Straße zu setzen.

Heutzutage beschäftigt das Sheriffbüro ganze Teams, deren einzige Aufgabe es ist, Zwangsräumungen und Zwangsvollstreckungen durchzuführen. Es gibt Speditionsunternehmen, die sich auf Zwangsräumungen spezialisiert haben und deren Mannschaften ununterbrochen im Einsatz sind. Dazu kommen Hunderte von Data-Mining-Firmen, bei denen Vermieter Berichte kaufen können, die über vergangene Zwangsräumungen und Gerichtsvorladungen eines Mieters Aufschluss geben.2 Inzwischen sind die Gerichte so überlastet, dass Verfahren in Fluren oder in improvisierten, mit alten Schreibtischen und kaputten Archivschränken vollgestellten Büros abgeschlossen werden müssen – und das, obwohl die meisten Mieter erst gar nicht zum Termin erscheinen. Einkommensschwache Familien haben sich an den Lärm der Lastwagen der Spediteure, das frühmorgendliche Klopfen an der Tür und den Anblick ihres Hab und Guts auf dem Bürgersteig gewöhnt.

Familien haben erleben müssen, dass ihr Einkommen stagnierte oder sogar fiel, während gleichzeitig die Wohnkosten in den Himmel schossen. Heute gibt die Mehrheit der einkommensschwachen, zur Miete lebenden Familien über die Hälfte ihres Einkommens dafür aus. Mindestens eine von vier Familien benötigt sogar mehr als 70 Prozent ihres Einkommens für Miete und Stromkosten.3 Millionen US-Bürger werden jedes Jahr zwangsgeräumt, weil sie ihre Miete nicht zahlen können. In Milwaukee, einer Stadt mit weniger als 105 000 Miethaushalten, setzen Vermieter pro Jahr etwa 16 000 Kinder und Erwachsene per Gerichtsbeschluss auf die Straße – also etwa sechzehn Familien pro Tag.

Doch es gibt auch noch andere, schnellere und billigere Wege für Vermieter, eine Familie aus einer Wohnung zu vertreiben, und zwar ohne einen Beschluss vom Gericht: Einige Hausbesitzer zahlen Mietern ein paar Hundert Dollar, wenn sie dafür bis zum Ende der Woche die Wohnung geräumt haben. Andere heben einfach die Eingangstür aus den Angeln und nehmen sie mit. Fast die Hälfte aller erzwungenen Wohnungswechsel, die Mieterfamilien in Milwaukee erleiden müssen, sind »informelle...

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