Die neue Suche nach Gesundheit
Unternehmer sucht Kunde – Über das neue Verhältnis von Arzt und Patient
Heute Patient oder Arzt zu sein hat mit dem Patient- oder Arztsein vor 30 Jahren nur noch wenig zu tun. Für Mediziner waren in Deutschland die 1970er und 1980er Jahre die goldenen Jahre. Im Tennisclub wie auf der Straße war der «Herr Doktor» eine angesehene Respektsperson mit einem sicheren Platz auf den oberen Rängen der Verdienst- und Beliebtheitsskala. Die Schwarzwaldklinik vermittelte im Fernsehen die medizinische Kompetenz und unbekümmerte Lebensfreude eines Halbgottes in Weiß, der in allen Lebenslagen das passende Rezept aus dem Ärmel schüttelte. Und dank der Einzelfallvergütung wurde jeder Handschlag mit einem festen Betrag honoriert. Jedes Gespräch, jede Blutdruckmessung, jede Spritze und jeder Hausbesuch. Wer viel gearbeitet hat, hat auch viel verdient.
Durch die Einführung der Fallpauschalen kam es zu einem fundamentalen Systembruch und einer stärkeren Ausrichtung medizinischer Maßnahmen auf die Zielgrößen Effektivität und Effizienz (Stichwort: Ökonomisierung). Die damit einhergehende Verdichtung der ärztlichen Arbeit, mitsamt Rechtfertigungsschreiben, Gutachten, Krankenkassenanfragen und einer akribischen Dokumentation der täglichen Arbeit, treibt Ärzte seitdem immer wieder zum Kampf um bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße. Demonstrierende Ärzte – vor nicht allzu langer Zeit schlicht unvorstellbar; heute Anzeichen für den Verfall eines ganzen Berufsstandes innerhalb nur einer Generation. Nicht wenige beklagen inzwischen offen, «dass man als Arzt in Deutschland inzwischen der Depp ist, und das gilt für Klinik und Praxis». Irgendetwas hat sich verändert.
Beim Betreten neu eröffneter Arztpraxen sucht man vergebens nach ausgeblichenen Kunstdrucken an der Wand, abgegriffenen Lesezirkel-Magazinen oder quietschenden Plastiklatschen an den Füßen der Arzthelferinnen. Stattdessen trifft man immer öfter auf gutgelauntes Personal, das einen bittet, in hellen Räumen auf loungeartigen Sitzgruppen vor dem Flachbildschirm Platz zu nehmen. Aber weshalb ähneln die Arztpraxen der neuen Ärztegeneration plötzlich einer Flughafen-Lounge?
Der Grund dafür ist, dass sich der heutige Arzt in Konkurrenz um den «Kunden» namens Patient immer stärker als Dienstleister versteht. Ansprechende Praxiseinrichtungen, schmerzfreie Behandlungen bei klassischer Musik und verlängerte Öffnungszeiten sollen für Wettbewerbsvorteile sorgen. Der Arzt avanciert zum Unternehmer. Und während sich dieser Trend am stärksten im großstädtischen Einzugsgebiet niedergelassener Ärzte spiegelt, befindet sich auch die Welt der Klinikärzte im Wandel vom mittelalterlichen, streng hierarchischen Ständesystem mit altehrwürdigen Ordinarien zum kritik- und konsensfähigen Teamwork. Der Einfluss einsamer Entscheider an der Spitze einer ausgeprägten Klinikhierarchie, einst nach dem Vorbild der 1795 in Berlin gegründeten Preußischen Militärarztakademie «Pépinière» entstanden, ist im Schwinden begriffen. Das Gewicht der individuellen Erfahrung des einzelnen Arztes nimmt genauso ab wie die klare Zuordnung einzelner Patienten zu einer Fachdisziplin.
Egal ob in der Praxis oder in der Klinik, wie bei jedem Unternehmer spielt Transparenz auch bei Ärzten eine immer wichtigere Rolle. Als Best-Practice-Beispiel gilt die Arbeitsweise am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. Jeden Tag zwischen 13 und 14 Uhr präsentieren dort Ärzte der verschiedenen Fachkliniken im sogenannten Tumorboard ihre Fälle und beraten gemeinsam über die optimale Strategie zur Krebsbehandlung ihrer Patienten. Dank der fachübergreifenden Expertenrunde gewinnen beide: Der einzelne Arzt ist angesichts der Komplexität Hunderter Tumorarten, Therapieoptionen und Einzelfälle nicht länger auf sich gestellt, sondern in das Zusammenspiel unterschiedlicher Fachkompetenzen eingebunden, und die Patienten erfahren einen transparenten Entscheidungsprozess, an dessen Ende eine individuelle Behandlungsentscheidung steht. Voraussetzung für diese neuen, flachen Kommunikationsstrukturen ist die Bereitschaft, Verantwortung mit anderen Ärzten zu teilen und das eigene ärztliche Handeln hinterfragen zu lassen. An dieser Stelle prallt der neue Anspruch aber häufig auf die alte Wirklichkeit, denn in der traditionellen Klinikhierarchie gibt es oftmals noch keine gereifte Fehlerkultur, die es zuließe, eigene Fehler zu kommunizieren, um zu vermeiden, dass andere sie noch einmal machen müssen.
Laut dem Krankenhaus-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK aus dem Jahr 2014 sterben jährlich 19.000 Menschen wegen vermeidbarer Fehler bei Behandlungen in deutschen Kliniken. Zu den häufigsten Ursachen zählen Medikamentennebenwirkungen und Infektionen aufgrund mangelnder Hygiene. Zum Vergleich: Das sind etwa fünfmal so viele Todesfälle wie im Straßenverkehr.
Verstärktes Unternehmertum, flachere Hierarchien und Transparenzansprüche führen aber nicht nur zu einem tiefgreifenden Umbruch der traditionellen Arztrolle; auch das Selbstverständnis als «Patient» ist im Wandel begriffen. Einst saß in Praxisräumen, die den Charme einer kleinstädtischen Kreissparkasse der frühen Neunzigerjahre versprühten, auf der einen Seite jemand, der Hilfe brauchte (Patient), und auf der anderen Seite jemand, der Ahnung hatte und helfen konnte (Arzt). Dieses traditionelle Verhältnis – Arzt spricht und entscheidet, Patient hört zu und befolgt – löst sich langsam auf. Patienten sind heute vielfach kritischer, informierter und anspruchsvoller, lesen im Internet oder Gesundheitsmagazinen nach und wollen mitreden. Dem Arzt wird zunehmend weniger selbstverständlich die unhinterfragte Expertenrolle eingeräumt, und der Patient mutiert vom passiven Empfänger medizinischer Therapien zum aktiven Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen.
Vergleichbar mit anderen Gesellschaftsbereichen (Lehrer, Polizisten, Beamte), findet auch in der Medizin ein allgemeiner Autoritätsverlust statt. Ein neuer Typus Patient konsultiert den Arzt zunehmend als Dienstleister und Berater in medizinischen Sachfragen, will genau wissen, welche Krankheiten ihn quälen, welche Behandlung der Arzt vorschlägt und wie diese oder jene Therapieentscheidung zu begründen sei. Als Erfüllungsgehilfe des neuen Transparenzanspruchs löst das Internet die fast 200 Jahre alte Vision von Antonio Panizzi ein. Als Direktor der damals weltweit größten Bibliothek im British Museum in London schrieb Panizzi im Jahr 1836, dass ein armer Student über dieselben Mittel zur Befriedigung seiner Wissbegierde verfügen solle wie der reichste Mann des Königreichs. Heute würde Panizzi über die Möglichkeiten des freien Zugangs zu medizinischen Fachinformationen, wissenschaftlichen Ergebnissen und Patientenforen sicherlich staunen. Bewertungsportale wie weisseliste.de oder docinsider.de bieten transparente Bewertungen ärztlicher Leistungen. Die Frage, welche Klinik gut oder schlecht behandelt, versucht die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) in Düsseldorf zu beantworten. Dort werden Krankenhausleistungsdaten zu den verschiedensten Fachbereichen und Behandlungen – von Lungenentzündungen über Geburtshilfe bis zu Lebertransplantationen – gesammelt und veröffentlicht. So kann sich jeder Patient beispielsweise vor dem Einsetzen eines Herzschrittmachers über die Eingriffsdauer, Komplikations- und Sterblichkeitsraten informieren.
Anders als in den USA jedoch, wo verschiedenste Bewertungen für Fachärzte und Krankenhäuser inklusive Wiedereinlieferungsraten und Indikatoren zur Patientensicherheit frei zugänglich und verständlich aufbereitet in der Internet-Datenbank healthgrades.com veröffentlicht werden, stellt das BQS diese Angaben in Deutschland bislang nur in anonymisierter und fachsprachlich kodierter Form bereit. Todesfälle beispielsweise, die im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff auftreten, hinter der Bezeichnung «Entlassungsgrund Tod» zu verstecken, wird dem beschriebenen Transparenzanspruch schon allein sprachlich nicht gerecht.
Wie groß dieses Informationsgefälle zwischen dem kodierten Expertenwissen auf Seiten der Ärzte, Kliniken und Krankenkassen und dem Unwissen auf Seiten der medizinischen Laien ist, zeigt der Erfolg der Anfang 2011 gegründeten Internetplattform washabich.de. Dort bieten ehrenamtlich tätige Medizinstudenten eine kostenlose Übersetzung fachsprachlich kodierter Befunde und Arztbriefe in eine für medizinische Laien verständliche Sprache an. Denn es ist eine Illusion zu meinen, der Experte (Arzt) bräuchte lediglich die relevanten Informationen über Risiken und Nutzen einer Therapie zur Verfügung zu stellen, und schon könne der Patient eine informierte und sorgfältig überlegte Entscheidung treffen. Der Arzt muss sicherstellen, dass der Patient die Informationen aufgenommen und verstanden hat. Je weniger er den Patienten aber «abholt», desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser die mitgeteilten medizinischen Informationen missversteht oder überhaupt nicht beachtet.
Den Eindruck, dass...