Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Geschichte
Vorbemerkung
In den folgenden Tabellen und den einschlägigen Textstellen ist die ägyptische Chronologie dem jetzigen Stand der Forschung angeglichen worden, weil Spengler seinerzeit aus morphologischen Gründen wesentlich tiefere Ansätze, insbesondere für den Beginn der ägyptischen Geschichte, für wahrscheinlich gehalten hatte als die zu damaliger Zeit üblichen.
Da durch Arbeiten von fachägyptologischer Seite (insbesondere von A. Scharff, H. Stock und J. v. Beckerath) inzwischen die ägyptischen Daten der Frühzeit weitgehend gesichert sind, und da angesichts des exemplarischen Charakters gerade dieser Hochkultur die Bereinigung und Ordnung der ägyptischen Chronologie Spengler stets am Herzen lag, hielt ich die genannten Änderungen für angebracht.
Weiterhin hat Spengler seine Ansicht über die Hyksoszeit nach Abschluß des »Untergang des Abendlandes« wesentlich geändert: damals sah er in ihr gegen die herrschende Auffassung eine Zeit innerer Revolution an der Wende von der »Kultur« zur Zivilisation und war deshalb geneigt, den Hypothesen Weills Glauben zu schenken. Später erkannte er in den Hyksos, die nach der Revolutionsperiode des 18. Jahrhunderts einbrachen, Ausläufer der Streitwagenbewegung, die er im »Untergang des Abendlandes« noch nicht von den sehr viel späteren Reitervölkern geschieden hatte.
Ansichten Spenglers über Frühgeschichte, Chronologie usw. sind außer in den nachgelassenen, unveröffentlichten »Urfragen« enthalten in folgenden Aufsätzen:
Das Alter der amerikanischen Kulturen. 1933
Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte. 1934
Zur Weltgeschichte des 2. vorchristlichen Jahrtausends. 1935 (sämtlich wiederabgedruckt in: Reden und Aufsätze. 1937, Verlag C. H. Beck)
I. TAFEL »GLEICHZEITIGER« GEISTESEPOCHEN
INDISCHE KULTUR SEIT 1500 | ANTIKE KULTUR SEIT 1100 | ARABISCHE KULTUR SEIT CHR. | ABENDLÄNDISCHE KULTUR SEIT 900 |
FRÜHLING
Landschaftlich-intuitiv. Mächtige Schöpfungen einer erwachenden traumschweren Seele. Überpersönliche Einheit und Fülle
1. Geburt eines Mythos großen Stils als Ausdruck eines neuen Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht
1500-1200 | 1100-800 | 0-300 | 900-1200 |
Religion des Veda | Hellenisch-italische »demetrische« Volksreligion Olympischer Mythos | Urchristentum Mandäer, Marcion, Gnosis Synkretismus [Mithras, Baale] | Germanischer Katholizismus Edda [Baldr] Bernhard v Clairiaux, Joachim v. Floris, Franz v Assisi |
Arische Heldensagen | Homer | Evangelien | Volksepos [Siegfried], |
| | Apokalyptik | Ritterepos [Gral] |
| Herakles-, Theseussage | Christi., mazd., heidn. Legende | Abendland Heiligenlegende |
2. Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltblickes. Hochscholastik
In den ältesten Teilen der Veden enthalten | Älteste, nicht schriftl. Orphik, | Origenes [† 254], Plotin [† 269] | Thomas v. Aquino [†1274] |
| Etrusk. Disziplin | Mani [† 276], Jamblich [† 330] | Duns Scotus [† 1308] |
| Nachwirkung: Hesiod | | Dante [† 1321], Eckart [† 1329] |
| Kosmogonien | Awesta, Talmud, Patristik | Mystik und Scholastik |
SOMMER
Reifende Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und kritische Regungen
3. Reformation: Innerhalb der Religion volksmäßige Auflehnung gegen die großen Formen der Frühzeit
Brahmanas, älteste Elemente der Upamshaden [10./9. Jahrh.] | Orphische Bewegung | Augustinus [† 430] | Nicolaus Cusanus [† 1464] |
| Dionysosreligion | Nestorianer [um 430] | Hus [† 1415], Savonarola, |
| »Religion des Numa« [7. Jahrh.] | Monophysiten [um 450] | Karlstadt, Luther, Calvin [† 1564] |
4. Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls.
Gegensatz idealistischer und realistischer Systeme
In den Upamshaden enthalten | Die großen Vorsokratiker [6 /5 Jahrh ] | Byzantinische, jüdische, syrische, koptische, persische Literatur des 6/7. Jahrh. | Galilei, Bacon, Descartes, Bruno, Boehme, Leibniz 16 /17 Jahrh |
5. Bildung einer neuen Mathematik.
Konzeption der Zahl als Abbild und Inbegriff der Weltform
Verschollen | Die Zahl als Große [Maß] [Geometrie, Arithmetik] Pythagoreer seit 540 | Die unbestimmte Zahl [Algebra] Entwicklung unerforscht | Die Zahl als Funktion [Analysis] Descartes, Pascal, Fermat um 1630 Newton, Leibniz um 1670 |
6. Puritanismus: Rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen
Spuren in den Upamshaden | Pythagoreischer Bund seit 540 | Mohammed 622 Paulikianer, Bilderstürmer seit 650 | Englische Puritaner seit 1620 Französische Jansenisten seit 1640 [Port Royal] |
HERBST
Großstädtische Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger Gestaltungskraft
7. »Aufklärung«: Glaube an die Allmacht des Verstandes.
Kultus der »Natur«. »Vernünftige Religion«
Sutras; Sankhya; Buddha, Jüngere Upamshaden | Sophisten des 5 Jahrh. Sokrates [† 399] Demokrit [† um 360] | Mutazilisten Sufismus Nazzâm, Alkindi [um 830] | Englische Sensualisten [Locke] Franzosische Enzyklopädisten [Voltaire], Rousseau |
8. Höhepunkt des mathematischen Denkens.
Abklärung der Formenwelt der Zahlen
Verschollen | Archytas [† 365], Plato [† 346] | Unerforscht [Zahlentheorie, sphärische Trigonometrie] | Euler [† 1783], Lagrange [† 1813] |
| Eudoxos [† 355] | | Laplace [† 1827] |
[Stellenwert Null als Zahl] | [Kegelschnitte] | | [Infinitesimalproblem] |
9. Die großen abschließenden Systeme
des Idealismus: Yoga Vedanta der Erkenntnistheorie: Vaiceshika der Logik: Nyaya | Plato [† 346]
Aristoteles [† 322] | Alfarabi [† 950]
Avicenna [† um 1000] | Goethe
Kant | Schelling Hegel Fichte
|
WINTER
Anbruch der weltstädtischen Zivilisation.
Erlöschen der seelischen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch.
Ethisch-praktische Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums
10. Materialistische Weltanschauung: Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glückes
Sankhya, Tscharvaka [Lokoyata] | Kyniker, Cyrenaiker, letzte Sophisten [Pyrrhon] | Kommunistische, atheistische, epikureische Sekten der Abbassidenzeit Die »lauteren Brüder« | Bentham, Comte, Darwin, Spencer, Stirner, Marx, Feuerbach |
11. Ethisch-gesellschaftliche Lebensideale: Epoche der »Philosophie ohne Mathematik«. Skepsis
Strömungen der Buddhazeit | Hellenismus Epikur [† 270], Zenon [† 265] | Strömungen im Islam | Schopenhauer, Nietzsche, Sozialismus, Anarchismus Hebbel, Wagner, Ibsen |
12. Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die abschließenden Gedanken
Verschollen | Euklid, Apollonius um 300 Archimedes um 250 | Alchwarizmi 800, Ibn Kurra 850 Alkarchi, Albiruni 10 Jahrh. | Gauß [† 1855], Cauchy [† 1857] Riemann [† 1866] |
13. Sinken des abstrakten Denkertums zu einer fachwissenschaftlichen Katheder-Philosophie. Kompendienliteratur
Die »sechs klassischen Systeme« | Akademie, Peripatos, Stoiker, Epikureer | Schulen von Bagdad und Basra | Kantianer »Logiker« und »Psychologen« |
14. Ausbreitung einer letzten Weltstimmung
Der indische Buddhismus seit 500 | Der... |