2. WODURCH IST DIGITALE TECHNIK ÜBERLEGEN?
TECHNIK IST IMMER BESSER ALS DER MENSCH
Technik ist auf eine sehr simple Weise besser als wir. Schon die ersten technischen Hilfsmittel in der Frühzeit der Menschheit brachten den damaligen Menschen erhebliche Vorteile. Mit einem Faustkeil aus einem harten Stein kann man erheblich besser Zeichen in einen Felsen ritzen als mit den Fingernägeln. Und mit einem abgerissenen Ast als Urbild einer Machete kann man sich besser den Weg durch ein Dornengestrüpp bahnen, als wenn man die Dornen mit den Händen entfernen oder mit den Füßen niedertreten müsste. Die Menschheitsgeschichte ist voll von technischen Erfindungen, die etwas können, was der Mensch ohne Technik nicht oder nicht so gut kann: die Eisenverhüttung, die Bewegung schwerer Lasten mit Kränen, der Transport großer Gütermengen mit der Eisenbahn, die Überwindung weiter Entfernungen im Auto, das schnelle Rechnen mit Computern oder die präzise Einsetzung einer neuen Hüfte. Ja, sogar zu fliegen hat der Mensch gelernt. Besser gesagt: Er hat Flugzeuge und Hubschrauber erfunden. Nicht wir selbst haben mit dem technischen Fortschritt das Fliegen erlernt, sondern wir haben Geräte entwickelt, die fliegen können und die uns mitnehmen.
Diese Beispiele erzählen von überlegener Technik und von Menschen, die der Technik unterlegen sind. So gesehen ist der ›unterlegene Mensch‹ aus dem Titel dieses Buches gar nichts Besonderes, sondern der Regelfall. Alles andere wäre auch unverständlich, denn warum sollte man ein technisches Gerät erfinden, wenn es nicht irgendetwas besser könnte als wir Menschen? Zumindest muss die Technik bestimmte Dinge gleich gutmachen, damit sie uns etwas abnehmen kann – sie muss zum Beispiel an einem Fließband zehn Stunden am Tag die immer gleiche Bewegung ausführen können (S. 58).
Damit ist aber die Tendenz zur Verbesserung schon angelegt. Denn kein Ingenieur würde die Arbeit einstellen, sobald seine Technik genauso gut Schrauben festziehen kann wie wir Menschen. Der Produktversion 4.3 folgt immer die Version 4.3.1 – oder die Version 4.4, oder gleich die Version 5. Die Vergabe von Versionsnummern überhaupt signalisiert seit der Industrialisierung, dass wir das technische Denken mit Fortschritt verbinden. Man könnte als verborgenen technologischen Imperativ formulieren: Bleibe nie bei der Technik stehen, die du hast, sondern entwickle sie weiter und mache sie besser! Der technische Fortschritt zielt darauf, Technik zu entwickeln, die manches besser kann als wir, und sie dann immer weiter zu verbessern.
Die Betonung liegt hier auf ›manches‹. Ein Flugzeug kann fliegen, aber keinen Rasen mähen. Eine Waschmaschine kann waschen, aber keinen Kuchen backen. Ein Computer kann rechnen und Daten speichern, aber nicht schwimmen. Ein Algorithmus zur Erkennung verdächtiger Personen beherrscht die Mustererkennung, kann aber nicht Klavier spielen. Hier liegt ein erster zentraler Unterschied zwischen Technik und Mensch: Technik wird für einen bestimmten Zweck gemacht und anschließend optimiert, während wir Menschen sehr viele und sehr unterschiedliche Fähigkeiten anhäufen. Das Geheimnis der Überlegenheit der Technik besteht darin, dass sie fast alles, was wir Menschen können, nicht kann – aber das, was sie kann, kann sie oft besser als wir. Der Vielseitigkeit des Menschen steht die Einseitigkeit der Technik gegenüber. In ihrer Einseitigkeit ist die Technik dem Menschen überlegen, das gilt gleichermaßen für den Faustkeil und die Apollo-Mondrakete. An seine Vielseitigkeit jedoch reicht sie nicht heran. Bislang jedenfalls nicht.
Ein zweiter Unterschied zwischen Technik und Mensch hat damit zu tun, wer das Sagen hat. Die Funktion, die ein technisches Produkt erfüllen soll, und die Art und Weise, wie sie diese Arbeit leisten soll, wird von Ingenieuren oder Managern – also Menschen – vorgegeben. Häufig orientieren sie sich dabei an der Aussicht auf den Markterfolg neuer Produkte, Dienstleistungen oder Systeme. Die Hierarchie zwischen Mensch und Technik ist klar: Wir sind die Macher, und die Technik wird von uns gemacht. Und obwohl Technik in vielerlei Hinsicht besser ist als der Mensch, bleibt klar, wer das Heft in der Hand hält – zum Zeitpunkt der Entwicklung, während der Nutzung, wenn abgeschaltet werden soll. Bislang jedenfalls.
Schließlich ein dritter Unterschied: Technik kann sich, anders als wir Menschen, nicht selbst überlegen, was sie tun möchte, ob sie zum Beispiel lieber Unterhaltungsmusik abspielen als Beton mischen möchte oder ob sie lieber ein Herd wäre als eine Waschmaschine. Technik ist auf die von Menschen vorgenommene Zweckbestimmung festgelegt. Gelegentlich funktionieren wir Technik um. Es ist ein Zeichen unserer Kreativität, wenn wir zum Beispiel mit einer Flasche einen Einbrecher niederschlagen oder eine ausgediente Badewanne zum Blumenkübel umfunktionieren. Die Technik kann nicht von sich aus entscheiden, etwas anderes werden zu wollen als das, wozu sie von uns bestimmt wurde. Bislang jedenfalls nicht.
Die Technik ist der Inhalt einer Werkzeugkiste oder des Instrumentenkastens in der Hand des Menschen. Je nach Bedarf und Wünschen bedienen wir uns daraus. Der technische Fortschritt macht diesen Werkzeugkasten immer mächtiger und reichhaltiger. Letztlich bleibt er aber unter unserer Kontrolle. Dass wir der Technik irgendwo immer unterlegen sind, macht nichts. Denn wir entscheiden – noch – über den Einsatz der Instrumente.
WUNDER DER DIGITALISIERUNG
Im Zuge der Digitalisierung sind in wenigen Jahrzehnten Dinge möglich geworden, an die unsere Eltern nicht zu denken gewagt haben, geschweige denn unsere Großelterngeneration. Auch wer nicht zu Pathos neigt, wird wohl zustimmen: Die Digitalisierung ist eine Revolution. Sie stürzt bestehende Verhältnisse gründlich um. Auch wenn sie dies zum Glück nicht ruckartig innerhalb weniger Tage macht wie eine politische Revolution – eine Revolution ist sie doch. Denn gemessen am bisherigen technischen Fortschritt geschieht vieles dramatisch schnell, so etwa die Durchdringung der weltweiten Finanzwelt mit Internetdiensten und Algorithmen, der Siegeszug des Smartphone oder die Veränderungen in unseren Kommunikationsgewohnheiten. Interessanterweise gewöhnen wir uns rasend schnell an diese Umwälzungen, vermutlich weil sie in vielen Aspekten sehr angenehm sind. Viele Menschen können sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Welt ohne Computer, Internet und mobiles Telefon überhaupt funktionieren konnte. Das, was gestern noch unvorstellbar war, ist heute normal – und morgen altmodisch.
Der digitale Zwilling
Digitale Zwillinge sind digitale, also auf dem Computer speicher- und verarbeitbare Gegenstücke zu ihren Vorbildern aus der realen Welt, z. B. einer industriellen Produktionsanlage, eines Autos (Bild), eines Gebäudes oder auch eines Menschen. Sie können auch Algorithmen enthalten, die ihr Vorbild mit seinen Eigenschaften beschreiben. Digitale Zwillinge entstehen aus Daten über die realen Objekte. Sie können im Computer manipuliert oder für Mustererkennung oder Suchprozesse verwendet werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können dann wieder in die Wirklichkeit zurückübertragen werden.
Diese revolutionäre Entwicklung beruht auf einem einfachen Grundprinzip. Die digitale Welt existiert in Form einer Entweder/Oder-Einteilung: ja/nein, schwarz/weiß oder, mathematisch gesagt, null/eins. Die Digitalisierung bildet unsere Welt, wie wir sie mit all ihren Schattierungen und allmählichen Übergängen kennen, in eine Abfolge von Nullen und Einsen ab. Alle fließenden Übergänge, zum Beispiel bei den Farben des Regenbogens oder in der Unvollendeten von Franz Schubert, werden gerastert und dann als meist ziemlich lange Ketten von Nullen und Einsen gespeichert, den sogenannten Bits. Eine passende Software sorgt dafür, dass die Bedeutung dieser Zeichenreihen auch wieder entschlüsselt werden kann. Aus der Welt der Fotografie sind die Pixel als klar erkennbare Rasterung bekannt. Je feinteiliger das Raster, umso näher kommt das digitale Abbild dem analogen Original und desto größer wird allerdings auch der Speicherbedarf. Meist bleibt das analoge Original das Vorbild, nach dem sich die digitalen Abbilder richten müssen. Es soll Musikliebhaber geben, die immer noch digitale Speicher- und Wiedergabetechniken ablehnen, weil sie in der digitalen Rasterung die weichen Übergänge nicht wiederzufinden glauben.
Kaum zu glauben ist, dass auf der Übertragung der analogen Eindrücke in Null/Eins-Ketten tatsächlich alle Wunder der digitalen Technik beruhen, um die es gleich gehen wird. Dabei darf freilich nicht vergessen werden: Nichts geht ohne Materie. Keine Software und kein Algorithmus läuft ohne Hardware. Die digitale Welt des Virtuellen braucht ein materielles Fundament und jede Menge Energie. Erst die günstigen physikalischen Eigenschaften von Silizium machen die umfassende Digitalisierung technisch möglich. Kein Wunder, dass das Silizium dem Silicon Valley seinen Namen gab. Silizium...