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E-Book

Der Vergangenheit eine Zukunft

Kulturelles Erbe in der digitalen Welt

VerlagiRights Media
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783944362168
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Die Entwicklungen der Technik verändern unsere Welt. In den letzten 20 Jahren haben der Einzug digitaler Technologien und ihre Vernetzung über das Internet in nahezu allen Lebensbereichen zu enormen Umbrüchen geführt. Diese Entwicklung macht vor der Kultur nicht halt. Sie macht auch nicht halt vor den Institutionen, die seit langem und von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen, für die Bewahrung und Pflege des kulturellen Erbes verantwortlich sind - auch dafür, dass dieses Erbe im gesellschaftlichen Bewusstsein lebendig bleibt. Dabei stehen gerade die Archive, Museen, Bibliotheken und Mediatheken wie auch Einrichtungen aus Wissenschaft und Denkmalpflege vor großen Herausforderungen. Wie sollen sie unter veränderten Bedingungen ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllen? Was sind die Rahmenbedingungen und wo behindern, wo befördern sie die Zukunft unserer Vergangenheit? Eine Publikation der Deutschen Digitalen Bibliothek Mit Texten von Sylvia Asmus, Thomas Dreier, Evelyn Dröge, Ellen Euler, Hanns-Peter Frentz, Monika Hagedorn-Saupe, Steffen Hennicke, Julia Iwanowa, Jürgen Keiper, Paul Klimpel, Till Kreutzer, Marlies Olensky, Hermann Parzinger, Stefanie Rühle, Felix Sasaki, Jan Schallaböck, Werner Schweibenz, Bernhard Serexhe, Eric Steinhauer, Violeta Trkulja, John Weitzmann, Hannah Wirtz, Dorothea Zechmann.

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Leseprobe

Das Erbe der Arche Noah: Archive, Wissen und Informationen


Jürgen Keiper

Jaques Derrida verortet in seiner Revision der Psychoanalyse „Mal d’archive“1 die Anfänge des Archivs in Griechenland. Die Entstehung des Archivs sieht er begründet in der Notwendigkeit, „das Gesetz geltend zu machen“. Hierzu muss selbiges aber dokumentiert und archiviert werden. Doch im aktuellen Diskurs über Archive wird diese Argumentation, die mit der doppelten Bedeutung des Wortes „Arché“ spielt, das sowohl Anfang als auch Gebot bedeutet, wegen ihrer semantischen Einengung zunehmend kritisiert. Denn für Derrida ist das Archiv – nach Cornelia Vismann2 – der Anfang von Gesetzesherrschaft, die Macht des Auslegens – man könnte auch sagen, die Macht des Präsentierens.

Derridas stark etymologisch verfahrende Suche nach den Anfängen des Archivs bleibt letztlich zu sehr dem Text – insbesondere Gesetzestexten und ihren Geltungsansprüchen – verbunden. Dies überrascht nicht, denn sein eigentliches Interesse gilt ja Freuds Konstruktion der Psyche, ihren inneren Organisationsprinzipien wie Selektion, Selbstorganisation, Ablage und Zugänglichkeit sowie deren Nachhaltigkeit. Historisch sind die Ursprünge des – textbezogenen – Archivs aber wohl eher in Rom zu finden als in Griechenland; und Archivkonzepte jenseits ihres Niederschlags in Sprache finden sich schon weit früher.

Die ältesten Archiverzählungen gelten dem Naturerbe. Die bekannteste ist die Geschichte der Arche Noah. Noah wurde der biblischen Überlieferung gemäß von Gott (Jahwe) auserwählt und vorgewarnt und rettete daraufhin in der selbstgebauten Arche seine Familie. An dieser frühen Archivkonstruktion lassen sich bereits einige exemplarische Prinzipien identifizieren.

Paradoxerweise erfordert die historische Rede über das Archiv selbst ein Archiv und somit unterliegt die Beschäftigung mit dem Archiv einer doppelten Täuschung. Das Archiv, das selbst unter bestimmten historischen Bedingungen entstand und dessen Konstruktion und Überlieferungen selbst immer schon gesellschaftlichen Imperativen folgte, soll in einem historischen Rekurs Auskunft über sich selbst geben. Ein gewagtes Unterfangen, das nur über die Freiheit der Interpretation gelingen kann.

 

Edward Hicks: Noah’s Ark. 1846.
Öl auf Leinwand. Philadelphia Museum of Art.
Abbildung: Wikimedia Commons (Public Domain)

 

Edward Hicks, ein streng religiöser Prediger, finanzierte sich seine Reisen und Missionen mit der Malerei. Sein Gemälde der Arche Noah aus dem Jahre 1846 kann man als Visualisierung einer Archivkonzeption betrachten. Es fällt auf, dass das Konzept der Arche völlig der Natur geschuldet ist; Kultur bleibt außen vor.

Im Bild findet man alle Elemente der modernen Archivkonzeption wieder:

  • Sicherung des Erbes

  • Klassifikation als Voraussetzung und Ordnungsprinzip

  • Selektion und Ingest als selbstständiger Prozess (Belegexemplar oder Pflichtabgabe)

Medienästhetisch ist interessant, dass der Löwe direkt auf den Aufnahmeort blickt. Der Blick in die Kamera, filmgeschichtlich ein sehr früher Topos, verschwand im Zuge der Narrativisierung des Films fast völlig, überlebte aber als wichtige Authentizitätsstrategie im Dokumentarfilm. Dieser Blick steht hier ebenfalls für Authentizität und inszeniert einen dokumentarischen Beobachterstatus inmitten der apokalyptischen Inszenierung. Auch medienstrategisch ist das Gemälde bedeutsam, da es durch das Zeigen des Archivs sich selbst als Teil eines noch zu schaffenden Archivs positioniert, um dem eigentlichen Archiv überhaupt eine Bedeutung geben zu können. Es behauptet, dass das, was es zeigt, wichtig sei, und weil es dies zeigt, ist es selbst wichtig – und müsste daher auch archiviert werden. Es trägt so in gewisser Weise zur Konstituierung seiner eigenen Archivierung bei.

Inhaltlich interessant sind aber zwei weitere Elemente: die Unsichtbarkeit der Ordnung jenseits des Menschen und das Konzept der Reproduktion als Maxime der Überlieferung.

Vergegenwärtigt man sich die organisatorische Dimension einer Rettung der Tierwelt, so überrascht die fast völlige Abwesenheit von äußerer Organisation. Ob die Kette der Tiere einem Konzept von vernünftiger Selbstorganisation oder göttlicher Eingebung folgt, sei dahingestellt. Offensichtlich ist aber das Fehlen jeglicher autoritativer Ordnungsversuche. Dazu passt, dass kaum sichtbar am Rande die Silhouetten von zwei Menschen zu sehen sind. Sie besitzen lediglich einen Beobachterstatus, vielleicht nicht einmal das. Der Garant eines erfolgreichen Archivs scheint die Zurückdrängung des Menschen zu sein.

Das Konzept der Reproduktion ist zentral für die Arche Noah. Jeweils zwei Exemplare einer Gattung sollen das Überleben sichern. Die Bedeutung der Reproduktion gilt auch für Archive. Sie war neben der Sicherung schon immer eine Maxime der Überlieferung. Denn: Alles zerfällt – irgendwann. Nur durch Abschreiben konnte im Analogen zumindest die Information eines Textes überleben; in der Malerei kennen wir Werke, die nur als Kopie und somit Fälschung überlebt haben. Im audiovisuellen Bereich ist bis in die heutige Zeit hinein das Kopieren von Kinofilmen gängige Praxis. Vor dem Zerfall des alten Materials soll der Inhalt auf neues, besseres Material hinübergerettet werden.

Das Konzept der Arche Noah, so viel lässt sich sagen, besitzt Modellcharakter: Es antizipiert und verankert archivarische Prinzipien, nämlich Selbstorganisation und Reproduktion von Information als zentrale Verfahren.

 

Vordereingang des „Svalbard Global Seed Vault“.
Foto: Mari Tefre / Svalbard Global Seed Vault

 

Heute wird das Konzept der Arche Noah mit dem „Svalbard Global Seed Vault“ leicht geändert reinszeniert. Dieser Saatguttresor wurde 2008 fernab menschlicher Zivilisation in Spitzbergen eröffnet. Der Permafrost soll die Samen schützen, selbst wenn der Strom zur Kühlung einmal ausfallen sollte. Die Kosten lagen bei 30 Millionen Euro und wurden größtenteils finanziert von der „Bill & Melinda Gates“-Stiftung, aber – auch wenn dies auf der offiziellen Webseite nicht erwähnt wird – unter Beteiligung des umstrittenen Saatgutkonzerns Monsanto und anderer kommerzieller Geldgeber.

Das offizielle Ziel ist die Aufbewahrung der wichtigsten Kulturpflanzen – Mais, Weizen, Reis, Kartoffeln und so weiter – und ihrer Sortenvielfalt. Auch hierbei handelt es sich um ein Naturarchiv. Wir finden die allgemeinen Prinzipien eines Archivs wie Akquise, Katalogisierung, Access und Präservation, doch es gibt bedeutsame Akzentverschiebungen. Der Fokus dieses Archivs, das in den Medien sofort als moderne Arche Noah beschrieben wurde, liegt ganz eindeutig auf Erhaltung und Präservation. Dies geht soweit, dass der Mensch als Bedrohung identifiziert wurde und die komplette Anlage ohne Personal funktioniert – sie wird von Schweden aus fernüberwacht.

Die praktische Nutzung basiert auf dem Black-Box-Prinzip. Samen werden aus allen Ländern archiviert. Es handelt sich um Kopien existierender Samen, die verstreut in diversen Genbanken unterschiedlichster Länder gelagert werden. Insofern ist das Saatgutarchiv eine Art Backup. Konsequenterweise ist der Zugang zu den Samen nur über die jeweiligen lokalen Genbanken möglich. Der Betreiber hat keine Rechte an den Inhalten, die Lagerung selbst ist für die Einlagerer kostenfrei. Die norwegische Regierung und ein Trust übernehmen die Kosten.

 

Screenshot Maisgenom. Quelle: Reuters

 

Der Svalbard Global Seed Vault ist in dieser Form Teil eines globalisierten, ausdifferenzierten Archivdiskurses. Er repräsentiert ein Extrem der Archiventwicklung unter den Bedingungen der Globalisierung und verloren gegangener Biodiversität: Nämlich den radikalen Schutz und die Sicherung der Inhalte bei praktisch nicht vorhandenem Zugang.

Am selben Tag, als das Saatgutarchiv am 26. Februar 2008 eröffnet wurde, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass Biologen der Washington University erfolgreich das Maisgenom sequenziert hätten. Die Kosten dafür lagen in der...

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