KAPITEL 1
IN DER AUSWAHL
»Gier, leider gibt es dafür kein besseres Wort, ist gut.«
GORDON GEKKO, WALL STREET
WIE MEINE KINDHEIT WAR, wollen Sie vielleicht gar nicht wissen. Aber ich möchte Ihnen trotzdem davon erzählen, also haben Sie ein paar Seiten Geduld, während ich ein bisschen in Erinnerungen schwelge.
Ich bin in einem Schloss aufgewachsen.
Damit habe ich wahrscheinlich Ihre Aufmerksamkeit geweckt, aber ich meine kein echtes Schloss mit Kavalieren und edlen Damen. Es nannte einfach jeder in der kleinen Stadt Hingham im Bundesstaat Massachusetts unser Zuhause »The Castle« (Abbildung 1). Der großzügige Ziegelbau, errichtet im frühen 20. Jahrhundert von einem wohlhabenden Industriebaron, hatte sechs Schlafzimmer und war verziert mit Giebeln, Türmchen und Bleiglasfenstern. Er stand auf einem Grundstück mit 20.000 Quadratmetern sorgfältig gepflegtem Rasen, umgeben von weiteren Flächen mit naturbelassenem Land, und war zu erreichen über eine 100 Meter lange Einfahrt, die fast bis zum malerischen Hafen der Stadt reichte. Wenn Sie heute dort vorbeifahren, würden Sie wahrscheinlich »reiche Leute, verwöhnte Kinder« denken, doch in Wirklichkeit wurde das Anwesen Ende der 1960er-Jahre für den heutigen Preis eines Wagens der oberen Mittelklasse zu »Schloss Birkenfeld«. Und der Grund dafür, dass ich noch so genau weiß, wie groß das Grundstück war, ist, dass meine Brüder und ich den Rasen gemäht haben – jede Woche im Frühling, im Sommer und im Herbst.
Wie ich schon erwähnt habe, war mein Vater ein angesehener Neurochirurg in Boston, ein Mann, der daran glaubte, hart zu lernen, noch härter zu arbeiten und Freizeit nur dann zu genießen, wenn man sie sich verdient hatte. Als Kind war er auf ein Quäker-Internat in Pennsylvania gegangen (was mir etwas merkwürdig vorkam, weil er von russischen Juden abstammte). Dort hatte er sich zum Thema Ausbildung die Haltung »Du wirst nicht viel lernen, wenn du nur rumlaberst« angeeignet. Meine Mutter war ein gutaussehendes ehemaliges Model und ausgebildete Krankenschwester, protestantisch erzogen, hatte aber den ganzen Haute-Couture-Kram aufgegeben, um als Mutter zu Hause zu bleiben. Damals musste man sich dafür noch nicht schämen, auch wenn das manche Leute heute anders sehen.
Ein anderer wichtiger Mensch in meinem jungen Leben war der Bruder meiner Mutter, Major General E. Donald Walsh, den ich respektierte und sehr liebte. Wir sahen Onkel Don nicht sehr oft, weil er Generaladjutant von Connecticut war, doch sein Einfluss auf mich war stark. Der Mann war eine Legende, ein hochdekorierter Veteran der Schlachten um Iwojima und Okinawa. Ich glaube, er war es, von dem ich meinen Hunger nach Adrenalin und Abenteuer bekam.
Bei einer Vollzeitmutter mit Manieren und Stil, einem brillanten Neurochirurgen mit eiserner Arbeitsethik als Vater und einem Kriegshelden als Onkel kommen natürlich interessante Kinder heraus.
Meine älteren Brüder, Dave und Doug, waren gute Jungs. Sie hatten etwas im Hirn und waren zielstrebig. Der mit den Flausen im Kopf war ich, was in Ordnung für mich war, denn als drittes Kind kommt man oft leichter durch (Abbildung 2). Aber ein Faulpelz war keiner von uns. Wir mussten den golfplatzgroßen Rasen mähen und die Einfahrt von der Länge einer Landebahn harken. In den Sommern machten wir alle möglichen Jobs; wir mähten den Rasen bei anderen Leuten oder halfen bei Umzügen. Unser Vater erwartete, dass wir gute Noten nach Hause bringen, und ermutigte uns, Eishockey und Football zu spielen, damit wir Wettkampfgeist entwickeln, was in meinem Fall mit Sicherheit funktioniert hat. Wir konnten Krawatten binden, bei den Cocktailpartys unserer Mutter »Ma’am« und »Sir« sagen und Unsinn so diskret machen, dass unser Vater nichts davon mitbekam. Wenn er es doch einmal tat, dann war die Hölle los.
Als es Zeit für die Highschool wurde, bekniete ich meinen Vater, auf eine Privatschule gehen zu dürfen. Das war keine Harry-Potter-Idee (die Bücher gab es damals noch gar nicht) – ich dachte einfach, es wäre eine coole Sache. Die medizinische Kompetenz meines Vaters war sehr gefragt, also wusste ich, dass die Schulgebühren ihn nicht in finanzielle Nöte bringen würden. Er seufzte und stimmte zu, und ich machte mich auf zur Thayer Academy, wo ich Jackett und Krawatte trug und jeden Montag zur Messe ging. Ich hatte ordentliche Noten, schlug beim Eishockey und Football Köpfe ein, feierte am Wochenende mit den Mädchen und trank jede Menge Bier mit meinem engen Freundeskreis.
Inzwischen dürften Sie verstanden haben, dass ich schon immer auf Abenteuer und Unabhängigkeit aus war, trotz der sorgfältigen Einflussnahme meiner Eltern. Für mich war nichts genug. Mit 18 Jahren war ich ein begeisterter Sportschütze und hatte mir schon einen eigenen Colt Kaliber 45 gekauft, den gleichen, den Onkel Don im Gürtel stecken hatte. Ich sprang mit dem Fallschirm aus Flugzeugen in New York und schleppte meine jammernden Freunde auf dreitägige Touren in die Berge von Vermont, wo wir zelteten, angelten, jagten und überlegten, welche Mädchen wir als nächstes daten wollten. Normale, spaßige Unternehmungen wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn eben.
Gleichzeitig aber dachte ich ernsthaft an meine Zukunft. Mein ältester Bruder Dave studierte Medizin, Doug wollte Rechtsanwalt werden. Und ich? Nun, ich entschied mich, eine Militärlaufbahn einzuschlagen, und zwar nicht als irgendein Depp mit Knarre. Ich wollte Kampfpilot werden und als »Sonnengott im Overall« um die Welt jagen. Also schrieb ich Bewerbungen für Militärakademien, und bei einer hervorragenden wurde ich angenommen.
Die Norwich Academy in Northfield im Bundesstaat Vermont ist die älteste private Militärakademie der USA. Sie liegt inmitten eines üppigen Tals, umgeben von Bergen. Die Gebäude sind aus massivem Backstein und Granit, mit einer hübschen weißen Kapelle als Zentrum und reichlich dichten Wäldern und Flüssen, in denen man Soldat spielen kann. In Norwich sind alle Teilstreitkräfte des US-Militärs vertreten; ich kam als Teilnehmer eines Ausbildungsprogramms zum Reserveoffizier der Air Force dorthin. Das komplette erste Jahr über aber war ich nichts als ein »Rook«, was bedeutet, dass man auf Bewährung dabei ist, bis der eigene Berater (ein echter Militäroffizier) der Meinung ist, dass man sich den Titel »Kadett« verdient hat.
»Rook! Die Sonne ist schon vor einer vollen Minute aufgestanden. Was zum Teufel ist los mit Ihnen?!«
»Rook! Diese Stiefel müssen glänzen wie ein Spiegel. Wenn ich sie nicht zum Rasieren benutzen kann, können Sie auch nicht damit kämpfen!«
»Rook! Was zum Teufel schauen Sie? Holen Sie Ihr Gepäck und Ihre Waffe und seien Sie in 30 Sekunden wieder hier. Wir machen einen Spaziergang.«
Fast unnötig zu sagen: Diese »Spaziergänge« führten oft durch knietiefen Schnee – und niemand sagte uns vorher, wie lang sie sein würden, aber weniger als zehn Meilen waren es selten. Wir lernten, wie wir unsere Uniform zu tragen hatten, die für den Kampf ebenso wie die für festliche Anlässe. Wir lernten zu schießen, Stellungen zu wechseln und uns auf dem Feld zu bewegen, unsere Wohnquartiere makellos sauber zu halten und bereit zu sein, Vorschriften runterzurasseln wie Roboter auf Speed. Die Liegestütze, Sit-ups und Läufe schienen kein Ende zu nehmen, aber das störte mich nicht besonders. Als ehemaliger Highschool-Sportler konnte ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag trainieren, der, klar, nie kam.
Der Unterricht war anspruchsvoll. Es standen ein paar militärische Themen auf dem Lehrplan, aber meistens der übliche Stoff in Mathematik, Englisch, Geschichte und Fremdsprachen. Alles, was man dafür tun musste, war intensiv lernen. Allerdings gab es einen Haken an der Sache, eine Art Zwickmühle: Man konnte sich nicht auf die Bücher stürzen, bevor man nicht alle seine soldatischen Pflichten erledigt hatte, und man konnte sich nicht auf seine Gürtel und Gewehre konzentrieren, wenn man im Unterricht nicht mitkam. Also zog sich jeder Tag bis nach Mitternacht hin und fünf Stunden später mussten wir wieder aufstehen, und zwar ohne Herumgezicke. »Ab auf den Paradeplatz! Ab an die Bücher!«
Nun, nach dem Ende dieses ersten Jahres hatte ich es zum Kadetten gebracht. Und dann ging es mit der Arbeit erst richtig los. Als Hauptfach wählte ich Wirtschaft, aber wissen Sie was? Kaum hatte der Unterricht begonnen, langweilte ich mich. Er war zwar ganz interessant und ich lernte gern Neues über Finanzen, Statistik, die Börse und so weiter. Aber solange es keinen Spaß machte, war das nur Theorie, und Spaß bedeutete für mich schon immer Risiko.
»Hey Beeker«, sagte ich eines Abends zu meinem Zimmergenossen Dave Burke, als wir in unserer Unterkunft für eine Prüfung büffelten. »Lass uns ein Geschäft starten.«
»Wie meinst du das, ein Geschäft?«
Ich richtete mich im Bett auf. Wir hatten ein Zimmer mit einer ordentlichen Größe und einem Wohnbereich, der allerdings so trostlos war wie ein Zollhäuschen auf dem Highway.
»Diese Akademie ist wie ein Kloster, oder? Es gibt nichts zu tun, wenn man ein bisschen frei hat. Mann, bei all diesem...